Kitabı oku: «Beziehungsweisen», sayfa 9
Nun, Sie haben mit Ihrer Theorie* neue Ordnungen eingeführt und für große Klarheit gesorgt, die uns allen zugutekommt; vor siebzig Jahren aber – bei aller Fülle – schiene sie gegenstandslos. Ist es nicht in der Wissenschaft oft so, dass es die Falschen sind, die das Rechte tun?
Liebe kann sich nicht um Rechtschreibung kümmern, und wir vermehren ihre Fehler, sobald wir glauben, sie korrigieren zu können. Kein Umbruch ohne Fahnenkorrektur. Ich meine auch die editorischen, auch die theoretischen Fahnen.
Kein Fricke, HaraldFricke ohne Hecker, MaxHecker.** Schon dies allein sei ihm hoch angerechnet. Aber er machte keine Edition, er machte ein Buch, und zu diesem gehörte eine andere Theorie, und zu jener Theorie gehörten die eigenen blinden Flecken. Archäologisch betrachtet würde es organischer aussehen.
Sie machten Hecker, MaxHecker zur Falle, und jener, der es hätte wissen können, ging in die Falle. Das besagt aber auch, dass Hecker, MaxHecker tief sitzt; dass er eben zu den Falschen gehörte, die das Rechte taten. Mit einer Theorie – auch dem ‚Zeitgeschmack‘ liegt eine zugrunde –, die erst 80 Jahre später von einem Fricke, HaraldFricke gebrandmarkt und ersetzt werden konnte. Nun machen Sie Schule; eine Hochschule, die junge Philologen mit Hochgenuss durchlaufen werden.
„Mit Fricke, HaraldFricke durch die Schule“ – oder „Mit Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe durch das Jahr“? Auch eine Artemis*** bedarf ihres Hecker, MaxHeckers. Und er ist auch nicht erledigt, er bleibt „dialektisch“ mit Ihnen verbunden. Weil er Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe ein neues Buch zuspielte oder andichtete, konnte es dazu kommen, dass Sie uns mit einem ganz neuen Goethe-Band überraschen. Ein Band, der ganz sicher und ganz und gar Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe ist, aber durch Sie verjüngt, und nun – als einziges von Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe – am Anfang einer Rezeptionsgeschichte steht.
* Harald Fricke, HaraldFricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München: Beck 1981
** Johann Wolfgang von Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen. Hg. von Harald Fricke, HaraldFricke (= Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe: Sämtliche Werke. Band. 13). Frankfurt: Dt. Klassiker-Verlag 1993 (= Bibl. der dt. Klassiker 102); Johann Wolfgang von Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe: Maximen und Reflexionen. Hg. von Max Hecker, MaxHecker. Weimar: Goethe-Gesellschaft 1907. – Fricke, HaraldFricke korrigierte, angefangen bei dem Titel, etliche Fehler und Versehen der älteren, kanonisch gewordenen Ausgabe.
*** Anspielung auf den Zürcher Artemis Verlag, der beides herausgab: eine Gesamtausgabe Goethe, Johann Wolfgang vonGoethes und die vielverbreitete Kalenderreihe „Mit Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe durch das Jahr“; in dieser Gesamtausgabe erschienen natürlich auch die von Hecker, MaxHecker zusammengestellten „Maximen und Reflexionen“.
An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 26. Juni 2001 Nr. 107
Sie wissen, ich habe allerlei Mütter und besonders Großmütter in der deutschen Literatur, Vater musste ich mir selber werden; würde ich aber einen gehabt haben, er hieße Jacob Bernays, JacobBernays. Das habe ich vor Jahren in einer großen Collage mir und Hanser, CarlHanser zu beweisen versucht, umsonst, denn ich bin damit durchgefallen: auch bei kritisch geneigten Lesern wie Friedhelm Kemp, FriedhelmKemp und Harald Weinrich, HaraldWeinrich; einzig Jürgen Stenzel, JürgenStenzel stellte das Buch „Treffpunkt Scheideweg“ gleich. Sie können also ganz froh sein, Bernays, JacobBernays nicht vergessen zu haben.*
* Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912. Berlin: de Gruyter 1997 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 11), S. 163. Ders.: „Wer hat zu entscheiden, wohin ich gehöre?“ Die deutsch-jüdische Aphoristik. Göttingen: V & R unipress 2017, S. 42–44
An Gertrude Rosenberg, GertrudeRosenberg, 18. Oktober 2002 Nr. 108
„Solange die Rose zu denken vermag, / ist niemals ein Gärtner gestorben.“
Diesen Vers Gottfried Keller, GottfriedKellers* könnte ich als Motto beherzigen. Meine nächsten Freunde waren Keller, GottfriedKeller-Leser, oft auch Kraus, KarlKraus-Schüler, und das ging – wie auch bei WittgenWittgenstein, Ludwigstein – gut zusammen; auch im Dada wurde Keller, GottfriedKeller groß verehrt und gefeiert, von Johannes Baader, JohannesBaader** vor allem.
So hat Ihr Meister auch mir viel bedeutet, aber meine Liebe gehörte dennoch dem geringeren Conrad Ferdinand Meyer, Conrad FerdinandMeyer***. Das hatte einen kuriosen Grund. Es gab in Jerusalem einen gutherzigen Arzt – der die Armen bevorzugte, von denen er kein Geld nahm –, er war zugleich MaimonidesMaimonides-Forscher und gab dessen medizinische Schriften heraus. Bei der Herausgabe eines dieser Werke habe ich ihm geholfen, so kam ich ihm näher, wobei er mich als Dichter kennenlernte. Eines Tages rückte er mit einem Manuskript heraus – es war Meyer, Conrad FerdinandMeyers Ballade „Die Füße im Feuer” in seiner Übersetzung, die er mir zur Überarbeitung anvertraute. Seine Freundschaft – er hieß Süssman Muntner, SüssmanMuntner**** und wurde später Professor für die Geschichte der Medizin – war mir teuer und zwang mich, etwas zu leisten, was über meine Kräfte ging, denn meine Deutschkenntnisse waren dürftiger denn dürftig. Es könnte ein Wendepunkt gewesen sein, vielleicht die Geburt einer Begeisterungsfähigkeit, die mir nach und nach mehr und mehr erschloss. Die Ballade spielte nicht lange eine Rolle in meinem poetischen Haushalt, aber der Name Meyer, Conrad FerdinandMeyer prägte sich mir tief ein, und schließlich war es seine Prosa, die mir so wertvoll wurde, obschon ich mich am längsten mit seiner Lyrik beschäftigte. Meyer, Conrad FerdinandMeyers Prosa wirkte auf mich immer so beruhigend, dass ich keinen Militärdienst antrat, ohne einen Band Meyer, Conrad FerdinandMeyer mitzunehmen. Das ist alles in allem eine Jugenderinnerung, für meine Entwicklung waren andere Dichter von entscheidender Bedeutung, vor allem Else Lasker-Schüler, ElseLasker-Schüler. In der Prosa vor allem Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe, Noten zum West-östlichen Divan, die schönste Prosa, die mir je zu Herzen ging, Heine, HeinrichHeines Prosa ausgenommen, doch diese – sonderbarerweise – in der hebräischen Übersetzung, die ein Zauberer vollbrachte.
In vieler Hinsicht habe ich die Gegenwart verpasst, weil ich mich nach Deutschland begab, ins Deutsche, das es nicht mehr gab, weil es zur Hälfte jüdisch war. In Deutschland interessierten mich vor allem die Autoren, die Juden noch als Freunde hatten und mir von diesen erzählen konnten. Aus diesen Besuchen sind dann einige wichtige Freundschaften entstanden, z.B. mit Annette Kolb, AnnetteKolb, die ich als Schriftstellerin hochschätzte (über die ich auch ein Buch geschrieben habe).***** Mit Georg von der Vring, Georg von derVring, den ich vor allem als Lyriker liebte, und mit Marie Luise Kaschnitz, Marie LuiseKaschnitz******, die in ihrer Prosa nicht weniger gut war als in ihrer Lyrik, sie war auch im Umgang schlicht und sachlich und erinnert mich ein wenig an Sie.
* Aus dem Gedicht „Rosenglaube“: „Dich zieret dein Glauben, mein rosiges Kind …“
** Johannes Baader, JohannesBaader (1875–1955), DADA-Schriftsteller, Architekt, Aktionskünstler
*** Vgl. Anm. zu Brief Nr. 68
**** Vgl. Anm. zu Brief Nr. 171
***** EB: Annette Kolb, AnnetteKolb und Israel; vgl. Anmerkung zu Brief Nr. 20 und 27
****** Vgl. Allerwegsdahin, S. 75, 108f.; vgl. Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 48, 52; vgl. Aberwenndig, S. 76, 108
An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 28. November 2004 Nr. 109
Schön wärs, könnten wir das Buch* gemeinsam, Seite für Seite lesen, da hätten wir auch hinter die Kulissen treten können, Anekdoten austauschen, einander Lebensgeschichten ergänzen. So hätte ich Ihnen z.B. über Oscar EwaldEwald, Oscar erzählen können, den Sie, wie es sich gehört, gegen Kraus, KarlKraus in Schutz nehmen. Sie schreiben (S. 137): „…in seinen besten Texten ist Ewald, OscarEwald in jedem Fall nachdenkenswert und für eine vernichtende Kritik nicht der geeignetste“, dem stimmt kein geringerer als Georg Simmel, GeorgSimmel zu, der – am 29.1.1907 – bei Husserl, EdmundHusserl mit folgenden Worten für Ewald, OscarEwald wirbt: „Es liegt mir daran zu wissen, ob in Göttingen noch Raum für einen philosophischen Privatdozenten wäre. Es handelt sich um einen jungen Mann, der bereits durch allerhand Veröffentlichungen hinreichend legitimiert ist und von dessen philosophischer Begabung ich eine hohe Meinung habe.“ Ewald, OscarEwald schrieb übrigens ein Buch über die Moralisten, das Sie heranziehen könnten.** Gestorben ist er 1940 in Exon, England.
Die Wortspielwiesler*** haben kein Gesicht zu verlieren, weil sie keines haben, sie schreiben in der Regel eben auch keine Tagebücher, weil sie nicht einmal an sich selbst interessiert sind.
Das betrifft auch Karl Kraus, KarlKraus – und die Folgen – für die Aphoristik, der er gesichtsvoll seinen Stempel aufdrückte, mit einem eigenen Wappen vielleicht. Sein Name steht für Größeres, für die letzten Tage der Menschheit, diese Größe – mit noch anderem, was dazugehört – ist nicht zu übersehen, dass er für uns aber ein Gesicht hat – zu verlieren, zu gewinnen –, verdankt er, verdanken wir einer Anni Kalmar, AnniKalmar**** und einer Sidonie von Nadherny, Sidonie vonNadherny*****. Kraus, KarlKraus selbst würde wahrscheinlich sagen, sie gehörten nicht zur Sache, aber eine große Sache darf nicht gesichtslos sein, und wärʼs auch möglich, Sache und Person messerscharf zu trennen.
* EB in der Lektüre von: Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tübingen: Niemeyer 2004
** Oscar Ewald, OscarEwald: Die französische Aufklärungsphilosophie. München: Reinhardt 1924
*** Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert, S. 673–685: Auf der Wortspielwiese oder Kandierte Sätze
**** (1877–1901), Schauspielerin, Geliebte von Kraus, KarlKraus
***** (1885–1950), Geliebte von Kraus, KarlKraus
An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 15. Dezember 2004 Nr. 110
Günther, JoachimGünther (über ihn muss ich Ihnen noch einen Brief schreiben)* – Günther, JoachimGünther hatte den Vorteil, dass er nicht von der Musik kam (unter Deutschen eine Rarität). Aber es wäre auch von Vorteil für Ihre Arbeit, wenn Sie nebenberufliche Kritiker zur Kenntnis genommen hätten, die in der Musik ihre Herkunft hatten, wie z.B. Oskar Loerke, OskarLoerke und Hermann Hesse, HermannHesse (und nebenbei auch Goes, AlbrechtGoes). Sie haben ein großes Verständnis für den musikalischen Satz und verfügen dadurch über einen musikalischen Schlüssel zum Aphorismus. Sie – in ihren Rezensionen – sind eines ernsten Studiums wert, und ich rechne dazu, weil er mir gerade in den Sinn kommt, auch Ernst Lissauer (einiges blitzelte durch meinen Kopf, darunter seine Rezension von Morgenstern, ChristianMorgensterns „Stufen“**). Das erlaube ich mir Ihnen zu sagen, weil Sie eben nicht zu den konventionellen Pfadfindern gehören. (Morgenstern: „Wir fanden einen Pfad“***: Er selbst, nach Abzug aller gewaltigen Einflüsse, denen er erlag – von Nietzsche, FriedrichNietzsche**** bis Mauthner, FritzMauthner – , war in seiner Person die aphoristische Gespaltenheit – kalkig und galgig*****, nehmen Sie es mir nicht übel, ich kann mich jetzt nicht um Besseres bemühen).
* Vgl. Brief 66, 80 mit Anmerkung
** Ernst Lissauer: Zu Morgensterns „Stufen“. In: E. L.: Von der Sendung des Dichters. Aufsätze. Jena: Diederichs 1922, S. 128–134
*** Christian Morgenstern, ChristianMorgenstern: Wir fanden einen Pfad. Neue Gedichte. München: Piper 1914
**** zu EB und Nietzsche, FriedrichNietzsche vgl. Olivenbäume, S. 21 et pass.
***** Christian Morgenstern: Galgenlieder. Berlin: Cassirer 1905; vgl. Die Eselin Bileams und KoheletKohelets Hund, S. 186; Vielzeitig, S. 275
An Harald Fricke, HaraldFricke, 5. Januar 2005 Nr. 111
Weil Sie Lichtenberg, Georg ChristophLichtenbergs Briefwechsel* erwähnen: Als ich vor vielen Jahren den Chamisso-Preis erhielt, bekam ich eine Gratulation vom Deutschen Auswärtigen Amt, es gab damals noch Sitten, ich durfte mir auch noch persönlich etwas wünschen; ich wünschte mir den Briefwechsel Lichtenberg, Georg ChristophLichtenbergs, von dem bereits zwei Bände vorlagen. Für die weiteren Bände hatte ich keine Gratulanten mehr. […] Wenn Sie sich für tüchtig halten, wäre ich froh, Ihre Begeisterung teilen zu können, also die nächsten Bände des Lichtenberg, Georg ChristophLichtenbergschen Briefwechsels zu bekommen. Die Werbungsphrasen wollen mich doch als Lichtenbergs Erbe wissen, wer sollte meine Ansprüche auf Erbschaft nicht einsehen können. Allerdings: wer ist Wer?
Ich schrieb vom „Bestellen meines Hauses“, das ich weiter betreibe. Ich habe – Gott sei es geklagt – vier Häuser zu bestellen, von den nächsten zwei muss ich zunächst absehen – das Hebräische ist mir zu schmerzhaft nah, das Österreichische entrückt und beinahe verhasst, im unheimlich Deutschen machte ich mir meinen Namen, im Schweizerischen machte ich mein Glück.
* Georg Christoph Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg: Briefwechsel. Hg. von Ulrich Joost, UlrichJoost und Albrecht Schöne, AlbrechtSchöne. Bd. I–V, 1–2. München: Beck 1983–2004
Von Harald Fricke, HaraldFricke, 18. Januar 2005 Nr. 112
Ich staune erneut, liebster Elazar: auch den Jacobi, Friedrich HeinrichJacobi* kennen Sie viel besser als ich, mir hat die wiederkehrend-marginal bleibende Begegnung nie ein so umriss-scharfes Bild eingedrückt! Ich werde mich mit dem Ihren durch erneute Jacobi, Friedrich HeinrichJacobi-Lektüre näher befassen, sobald sich eine günstige Gelegenheit offeriert.
Wegen der weiteren Briefwechsel-Bände lasse ich über Freund Joost, UlrichJoost** noch einmal nachfassen, so ganz schnell wird sich vermutlich ein Erfolg noch nicht zeigen. Aber diese Bücher lohnen das Warten! Erst heute morgen habe ich Bettina*** beim Frühstück einen entzückend selbstironischen Brief vorgelesen, den Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg 1793 vom Vorstadt-Garten aus an seine geliebte „Frau Hofräthin“ daheim geschickt hat.****
* Friedrich Heinrich Jacobi, Friedrich HeinrichJacobi; vgl. Vielzeitig, 240f. und 324f.; vgl. Aberwenndig, S. 133
** Prof. Dr. Ulrich Joost, UlrichJoost, Herausgeber der Briefbände Lichtenbergs
*** Ehefrau Prof. Harald Frickes; vgl. Brief Nr. 400
**** Georg Christoph Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg: Briefwechsel. Hg. von Ulrich Joost, UlrichJoost und Albrecht Schöne, AlbrechtSchöne. Bd. I–V, 1–2. München: Beck 1983–2004, Bd. IV, S. 79f. (Nr. 2258)
An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 27. April 2005 Nr. 113
Von Lec, Stanislaw JerzyLec abgesehen, las ich wieder in Ihrem Buch und notierte mir folgendes für Sie: zu Rathenau, WaltherRathenaus „Reflexionen“ (sehr wichtig: Gespräche mit Rathenau, WaltherRathenau, München dtv, S. 192f.; Gespräch mit Schumann). Ich habe den Prachtband übrigens in Deutschland erworben und verschenkt.
Im Anschluss daran – durch Felix Stössinger, FelixStössinger zweifach verbunden – Arno Nadel, ArnoNadel* betreffend:
Arno Nadel, ArnoNadel, Der Ton: „Der Verdruss an alledem hindert mich nicht, festzustellen, dass vieles Aphoristische vortrefflich ist.“ (Oskar Loerke, OskarLoerke, Der Bücherkarren, Heidelberg/Darmstadt 1965, S. 331). Das würde heißen, dass Nadel, ArnoNadel in eine andere Kategorie gehörte, obschon er mit seinen „Aphorismen“ im Banne Nietzsche, FriedrichNietzsches stand. Stössinger, FelixStössinger – ein bedeutender Kritiker an sich, gab u.a. eine für seine Zeit wunderbare „Zusammenfassung“ Heine, HeinrichHeines bei Manesse heraus**; er war ein intimer Freund Nadel, ArnoNadels; er konnte sich in die Schweiz retten und dadurch nach und nach auch um den Nachlass des umgebrachten Freundes kümmern; dieser ist zum Teil auf mich gekommen. Stössinger, FelixStössinger verlegte Bücher von Nadel, ArnoNadel, auch den „Ton“*** – ich weiß jetzt nicht, ob vor oder nach der Insel-Ausgabe.
* Vgl. Vielzeitig, S. 321; zu Nadel, ArnoNadel und Stössinger, FelixStössinger: Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: „Wer hat zu entscheiden, wohin ich gehöre?“ Die deutsch-jüdische Aphoristik. Göttingen: V & R unipress 2017, S. 91f.
** Heinrich Heine, HeinrichHeine: Mein wertvollstes Vermächtnis. Religion, Leben, Dichtung. Hg. von Felix Stössinger, FelixStössinger. Zürich: Manesse 1950
*** Arno Nadel, ArnoNadel: Der Ton. Hg. von Eduard Sievers. Leipzig: Insel 1921; Der Ton: Die Lehre von Gott und Leben. Religiöses Gedichtwerk. Berlin: Stössinger 1926
An Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser, 31. Dezember 2005 Nr. 114
Dank für den Dezemberjanuar, es bleibt zu fragen, auch zu befragen, wie Heiner Müller, HeinerMüller sagt.
Tiefe Gedanken haben in der Tiefe ihre Entsprechung und sind nicht eben. Es ist doch bemerkenswert, dass Sie mir von Rosa, Heiner und Bauch schreiben. „Ich habe keine Angst vor dem Tod”*: als stünde er gegenüber, ein Riese, mit dem man’s ohne Zittern aufnehmen könnte. Der DavidDavid in uns wird den Philister schon zur Strecke bringen. In meinen jungen Jahren imponierten mir Menschen, die so sprachen; ich glaubte, Mut und Überlegenheit zu vernehmen. Was laut werden wollte, wurde kleinlaut gedacht, in Schranken und schräglich. Misstrauisch geworden mehr und mehr, wirkte diese Aussage nur noch bedauerlich; und je bedeutender der Sprechende, desto krämlicher.
Darüber wollte ich also schreiben, als Ihr Brief mit „Heiner, dunklem bauch und grab“ bei mir eintraf. Die Beschäftigung mit alten Briefwechseln brachte mich dazu, darunter besonders der sich über Jahre erstreckende mit Lotte von Schaukal, Lotte vonSchaukal: einer Wienerin, als Übersetzerin bekannt, doch eher noch als Tochter ihres Vaters, des Dichters Richard von Schaukal, Richard vonSchaukal, dessen Name und Werk einst von gutem Klang waren.** In seiner (mir eine der liebsten) Anthologie ‚Zu Unrecht vergessen‘ (Hamburg 1957), schreibt Paul Hühnerfeld, PaulHühnerfeld: „Als der Herausgeber daranging, in den dunklen, vergessenen Winkeln unserer Dichtung umherzustöbern, stellte sich – nach den ersten Fragen – bald schon ein neues Problem ein. Möglicherweise gab es Dichter, die zu Unrecht vergessen wurden, doch ebenso sicher schien unsere Literaturgeschichte Beispiele dafür zu geben, dass ein Dichter zu Unrecht ‚behalten‘ wurde. Aber es ist doch eindrucksvoll, wie zu langer Ruhm eines Tages von der Zeit korrigiert wird. In der Lyrik der letzten Jahrzehnte scheint Richard von Schaukal, Richard vonSchaukal ein solcher Fall zu sein. Er galt Zeit seines Lebens als ein großes Talent, das namhafte Kritiker ebenbürtig neben Hofmannsthal, Hugo vonHofmannsthal und George, StefanGeorge stellten … Heute findet man außer ein, zwei Gedichten nichts mehr von ihm.“ (S. 10)***
Der Briefwechsel mit Schaukal, Lotte vonLotte könnte eine Briefnovelle abgeben. Lotte nun antwortet auf einen Brief, in dem vom Tod die Rede war, sie habe keine Angst vor dem Tod. Das stellte sich mir in ihrer großzügigen Handschrift vor Augen, leichthin und schwerweg. Was mochte ich ihr dazu gesagt haben? Ich weiß es nicht, doch nehme ich an, dass es mir in den Fingern juckte. Die Grundangst klang auf und wurde einsilbig oder wortwechselnd thematisiert – und abgewehrt. Es ist leichter, den Mund zu halten als zu schweigen. Man macht sich Mut und will doch auch imponieren (meistens folgt ein aufhebender Zusatz, die Qualen des Sterbens betreffend. Vor dem Tod keine Angst, doch bitte ohne Schmerzen). Das Aufhören liegt jenseits von Wille und Vorstellung, man weiß, wie ein Leben endet, kann selbst damit auch Schluss machen, sein Ende nicht aber nehmen, es ist nicht zu haben, es folgt. Ein Aufwirbeln alten Staubs bringt Nachricht aus einem fernen, fremd gewordenen, anderen Leben, das wir einst umworben haben und [das] nun von uns entleert, mit eigener Hand geschrieben steht.
Wiederum aufgewirbelt, kam mir zu Gesicht ein Brief aus dem Jahr 1974, Meret Oppenheim, MeretOppenheim**** bedankt sich für ein Gedicht und fügt hinzu: „Ich würde mich freuen, Ihre Gedichte zu erhalten. Ich muss Ihnen aber sagen, dass ich noch nie zu Gedichten etwas machen konnte. Nicht einmal zu eigenen, was ich versucht habe. Ich bin aber gerne bereit, (irgend)eine Zeichnung für Ihr Buch zu geben oder eine Eau forte***** für eine eventuelle Luxusausgabe zu machen …“ Es dauerte eine gute Weile, bis ich mich erinnern konnte, dass ein Gedichtband von mir einstlich ernstlich erscheinen sollte, in St. Gallen („im Erker“). Es war eine noble Adresse, und der Band wäre als Steindruck erschienen. Wäre also. Und die Beziehung?
Briefwechsel als Staubsauger; Beziehungen als Altpapier. Staub, Papier, Erinnerung – alle drei zusammen führten zu einem asthmatischen Anfall. Und sagte ich nun: „Ich kann davon nicht ablassen”, hieße es, ich würde an einem Zipfelchen Leben hängen? Das löste bei mir Heiner Müller, HeinerMüller aus, auf den ich unmittelbar – das war meine erste Regung – mit einem Zitat vom Maurice Maeterlinck, MauriceMaeterlinck antworten wollte: „Unser Leben ändert sich völlig mit dem Tage, wo wir anfangen, mit den Toten in uns zu verkehren und sie zu verstehen. Man zähle sie sorgsam, vergesse keinen: sie sind die wahren Reichtümer unseres Lebens.” (Maurice Maeterlinck, MauriceMaeterlinck, Vor dem Großen Schweigen, 1935). Doch das entsprechende Zitat, Heiner Müller, HeinerMüller vorausgehend, stammte von einem Wiener – dessen Briefe Weltliteratur sind – Alexander von Villers, Alexander vonVillers******, er schrieb: „Kein Brand von Alexandrien kommt dem Verlust an Ungeborenen gleich.“
Die Welt feiert Neujahr, und wir sprechen von Altpapier und Tod, das gelte dem Abgelegten, morgen kommen neue Strahlen und erwärmen neue Werke!
* Rosa Luxemburg, RosaLuxemburg, Heiner Müller, HeinerMüller
** Richard von Schaukal, Richard vonSchaukal (1874–1942), österreichischer Dichter („Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser“, 1907), dazu Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 248–252
*** Paul Hühnerfeld, PaulHühnerfeld (Hg.): Zu Unrecht vergesen. Hamburg: v. Schröder 1957
**** Meret Oppenheim, MeretOppenheim (1913–1985), schweizerische Künstlerin und Lyrikerin
***** eine besondere Art der Radierung
****** Alexander von Villers, Alexander vonVillers: Briefe eines Unbekannten. Aus dessen Nachlaß neu herausgegeben von Karl Graf Lanckoronski und Wilhelm Weigand. Zwei Bände. Leipzig: Insel 1910
An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 1. April 2008 Nr. 115
Von meiner Lesung, in die Sie einführen werden*, habe ich weder Dunst noch Schimmer, enttäuschend wird sie in einem Punkt gewiss aber sein: Kein Wort von Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg. Wüssten Sie von anderen Erwartungen, die ich noch enttäuschen könnte? Dafür bekommen Sie eine Überraschung – ich war selbst eben überrascht – in Form eines Heuschele, OttoHeuschele-Briefes:
„Waiblingen, am 10.3.1971
Verehrter, lieber Herr Elazar Benyoëtz! Sie haben mir durch die Güte von Frau Clara von Bodman, Clara vonBodman Ihr Buch „Sahadutha“ zugehen lassen. Dafür hätte ich Ihnen längst schon danken müssen, aber es waren nicht eben gute Zeiten für mich, Zeiten, die Sorgen bereiten, nicht persönlicher Art nur, sondern weit eher überpersönlicher, zeitgeschichtlicher Art. Inzwischen habe ich mich aber mit Ihrem Buch sehr intensiv beschäftigt, ich habe es mit jener Beglückung gelesen, die sich dort einstellt, wo wir Wesentlichem begegnen, und das ist heute seltener als wir annehmen. Ich möchte dieses Buch eine Selbstdarstellung nennen, eine innere Biographie möchte es auch genannt werden, so wie ich das in meinen eigenen Büchern „Dank an Freunde“ und „Augenblicke des Lebens“** gegeben habe.
Man müsste an einem Tisch beisammen sitzen und könnte dann, von diesen Gedanken ausgehend, weite Wege durch die Sphären des Geistes wie des Lebens antreten. Ich darf schließlich noch sagen, wie sehr ich mich über die vollendete sprachliche Formulierung der Gedanken gefreut habe. Darauf kommt ja alles an. Man könnte über das Buch die Verse schreiben, die der ganz junge Hofmannsthal, Hugo vonHofmannsthal*** in ein Exemplar seines Erstlings „Gestern“ schrieb: ‚Gedanken sind Äpfel am Baume, / Für keinen / Bestimmten bestimmt, / Und doch gehören sie schließlich / Dem einen, der sie nimmt.‘
Ich habe sie ergriffen und so gehören sie mir.“
* Lesung auf der Lichtenberg-Tagung am 4. Juli 2008
** Otto Heuschele, OttoHeuschele: Dank an Freunde. Berlin: Rabenpresse 1939 (Kunst des Wortes 19). 4. erweiterte Auflage: Stuttgart: Fink 1958; Augenblicke des Lebens. Aphorismen. München, Esslingen: Bechtle 1968
*** zu Hofmannsthal, Hugo vonHofmannsthals „Buch der Freunde“ vgl. Aberwenndig, S. 156
An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 2. April 2008 Nr. 116
Ich weiß nicht, ob ich Ihnen erzählte, dass die Wiener Nationalbibliothek meinen Nachlass (sie nennen es Vorlass) erwerben will, zwei Mitarbeiter sollten schon Ende des Monats kommen, mein „Hab und Gut“ einzuschätzen, was ich abwehren musste, da wir Ende April ja nach Berlin gehen. Also werde ich meine Gespräche mit Prof. Schmidt-Dengler, WendelinSchmidt-Dengler* in Berlin führen, so ist es jedenfalls vorgesehen. Merkwürdig, dass Wien, das sich um mein Werk und Leben nicht kümmerte, nun plötzlich um meinen Tod und Nachleben besorgt sich zeigt. Doch wollte ich von anderem sprechen: Dieses Ansinnen wühlte bei mir Erinnern und Vergessen, Kisten und Truhen auf, und so wie ich auf den ungeahnten Heuschele, OttoHeuschele stieß, stieß ich auf den Briefwechsel mit Joachim Günther, JoachimGünther, der mich wiederum überraschte: Alles ist viel umfangreicher, auch viel intimer, aber auch wertvoller, als ich dachte, ich gewinne daraus ganz wichtige Daten. In einem Brief beschwert er sich über meine Handschrift, jetzt ist seine Handschrift mein Problem. Man kommt schon dahinter nach einiger Übung (bei mir nützt keine Übung), die unerlässlich ist, denn er schrieb nur mit Hand, von meinen Briefen gibt es immerhin Durchschläge, denn die meisten sind maschinengeschrieben. Was Sie betrifft: Die Aphoristik oder deren Veröffentlichung taucht als Thema zwischen uns auf, erst nachdem unsere eigentliche Beziehung zu Ende war, sie ist weder erheblich noch fruchtbar. Das bedauere ich heute, wie viel hätten wir von einander haben können, wäre meine und seine Aphoristik früher ausgebrochen. Ich habe indes die Vermutung, dass meine „Einsprüche“ / „Einsätze“ ihm, der bereits lange und viele Aphorismen in seiner Zeitschrift veröffentlichte, den letzten Anstoß gaben, mit seinen Versuchen ernst zu machen.
* Wendelin Schmidt-Dengler, WendelinSchmidt-Dengler (1942–2008), österreichischer Literaturwissenschaftler. Seit 1980 Professor am Institut für Germanistik der Universität Wien. Leiter des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek
An Harald Fricke, HaraldFricke, 7. Juni 2011 Nr. 117
Sie lasen in Lichtenberg, Georg ChristophLichtenbergs Briefen und gedachten meiner, ich lese in Gershom Scholem, GershomScholems Tagebüchern und denke an Sie – im Rückert, FriedrichRückertschen Zusammenhang: Von der KLAGE* verstand der junge Scholem, GershomScholem so viel, dass auch für Sie, der Sie genug davon hatten** – Blick- und Herzerweiterndes zu finden wäre. Hier die frische Begegnung mit Ihrem Meister:
„21. Juni 1919. Ich kaufte … die Pantheon-Ausgabe einer Rückert, FriedrichRückert-Auswahl von Loerke, OskarLoerke, weil ich doch großes Interesse für diesen Dichter bekommen habe, besonders seit ich von der Existenz der Kindertotenlieder vor einiger Zeit (ich glaube wirklich, es war durch die Jewish Encyclopedia!) erfuhr, von denen einige Stücke auch hier aufgenommen sind, von denen einige sehr schön sind, vor allem aber das kleine Gedicht „Du bist ein Schatten am Tage und in der Nacht ein Licht« zum Schönsten gehört, was ich an Elegischem kenne. Es ist sogar wirklich eine Ahnung von Klage darin – Rückert, FriedrichRückert war ein großer Orientalist und mag als solcher, ohne begrifflich darüber klar zu sein, ohne Vorstellung von Klage in unserem Sinn geahnt haben aus seinen semitischen Studien, vielleicht hat er sogar Klagen übersetzt, was man untersuchen wird müssen – arabische oder hebräische – besonders in der ungeheuren gedrängten Zyklik dieses Gedichtes, das völlig in sich selbst verschwindet. Es schließt sich und hebt sich auf eine wahrhaft wunderbare Weise. Ich will dieses Buch ganz zu bekommen trachten.“ (G. Scholem, GershomScholem, Tagebücher … 2. Halbband 1917–1923. Ffm 2000, S. 492)
Diese frische Begegnung des jungen Scholem, GershomScholem mit dem alten Meister wird Sie freuen, lieber Harald, sie deckt sich mit Ihrer späten Begegnung mit Rückert, FriedrichRückert*** – und allzu frühen mit der Klage. Was Scholem, GershomScholem über die KLAGE zu sagen weiß, ist blick- und herzerweiternd. Sie können sich denken, wie viele Erinnerungen zu Ihnen dabei strömten. Rückert, FriedrichRückert, das habe ich Ihnen nie gesagt, hatte auch für mich eine frühe Bedeutung und später wieder, „Treffpunkt Scheideweg“ im Blick. Die Makamen des Hariri****, in der 2. vervollständigten Auflage von 1837, begleiten mich seit mehr als vierzig Jahren. Und „Die Weisheit des Brahmanen“*****.
* Friedrich Rückert, FriedrichRückert: Kindertotenlieder, Kap. 19: „Du bist ein Schatten am Tage, / Und in der Nacht ein Licht; / Du lebst in meiner Klage, / Und stirbst im Herzen nicht.“
** Anspielung auf den Tod der Tochter Judith 1997
*** HaraldFricke, Harald Fricke: Rückert, FriedrichRückert und das Kunstlied. In: RückertStudien 5, 1990, S. 14–37
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