Kitabı oku: «Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute», sayfa 10

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Rhapsodische Gedankenführung

Mit der Zweiteilung und seiner schwer durchschaubaren Struktur hat Le Cygne auf seine Leser immer verwirrend gewirkt. Felix W. Leakey hat das in einer einfühlsamen Interpretation damit erklärt, dass die Struktur des Gedichts seine Entstehung abbilde und Baudelaires Gedanken so festhalte, wie sie „freely came into his mind at the actual moment of composition“1. Im Rahmen dieser These hält er sich an den Wortlaut des Gedichts und nimmt an, dass beim Überqueren der neuen Place du Carrousel der Gedanke an Andromaque Baudelaires dichterische Erinnerung aufgeweckt habe:

What […] specifically activates (or reactivates) his memory is his awareness of the external scene through which he is passing: the new, transformed square, across which (as he thinks, suddenly, of Andromache) he finds himself walking, and which he now immediately and infallibly recalls as it once was and as he had previously known it. (S. 39)

Die darauf folgende, an Andromaque gerichtete Rede zeichne die tastenden Assoziationen eines frei schweifenden Geistes nach2.

Nun ist nach den ersten Versen keineswegs einsichtig, durch welche Assoziation der durch Andromaques Tränen angeschwollene Simois die „mémoire fertile“ des Ichs befruchtet hat, als es das neue Carrousel überquerte. Leakey selbst sagt: „across which (as he thinks, suddenly, of Andromache) he finds himself walking“ (meine Hervorhebung). Die Aussage des Ichs trägt vielmehr zum Eindruck der „wirren Häufung und chaotischen Erstarrung der Materialien der Erinnerung“ bei, die etwa Jauß im ersten Teil des Gedichts festgestellt hat; ihr trete erst im zweiten Teil ein durch die Imagination geschaffener neuer „ordre poétique“ gegenüber3. Dieser Teil II setzt mit dem Blick des Ichs auf das veränderte Paris und die Feststellung der eigenen unveränderten Melancholie ein. Es ist dies der Augenblick des Bewusstwerdens von Zeit und Vergänglichkeit, in dem die melancholieträchtigen Erinnerungen des Ichs aufsteigen und das bedrückende Bild des Schwans mit seinen „gestes fous“ zum ‚Symbol‘ wird, das eine Kette von Assoziationen auslöst, angefangen mit der Vorstellung der An­dromaque:

[…] et puis à vous,

Andromaque, des bras d’un grand époux tombée,

Vil bétail, sous la main du superbe Pyrrhus,

Auprès d’un tombeau vide en extase courbée;

Veuve d’Hector, hélas! Et femme d’Hélénus!

Je pense à la négresse […]

Warum hat Baudelaire die Umstellung vorgenommen und warum hat er vor den geordneten zweiten Teil einen ungeordneten ersten gesetzt? Musste am Anfang des künstlerischen Aktes ein „Zertrümmern und Verfremden der vertrauten, gegenständlichen Welt“ stehen, damit im Anschluss eine „imaginäre Gegenwelt des Schönen“ evoziert werden konnte4? Gegen eine solche pur ästhetische Annahme spricht sein Brief an Victor Hugo und die Erklärung, die er darin für sein Vorgehen gegeben hat: Es sei ihm in Le Cygne darum gegangen, einen Vorfall und seinen poetischen Niederschlag in Bildern schnell und möglichst vollständig wiederzugeben; für die Mängel der Darstellung, die noch zu beheben seien, bittet er um Nachsicht:

Il ne faut pas les [les vers] juger avec vos yeux trop sévères, mais avec vos yeux paternels. Les imperfections seront retouchées plus tard. Ce qui était important pour moi, c’était de dire vite tout ce qu’un accident, une image, peut contenir de suggestions […]5

Seine Absicht war demnach, dem Leser einen Eindruck davon zu vermitteln, wie ein beliebiger Vorfall – der Gang über das „nouveau Carrousel“ – und ein beliebiges Bild – die erinnerte Begebenheit mit dem Schwan – beim Dichter einen enthusiastischen Zustand hervorrufen, der eine Fülle poetischer Vorstellungen mit sich bringt. Für ein solches ‚Protokoll‘ eines „enfantement poétique“ war nach seinen Worten eine schnelle Wiedergabe des gedanklichen Ablaufs vonnöten, die gegebenenfalls auch Unregelmäßigkeiten („imperfections“) in Kauf nahm.

Die Frage, wie poetische Einfälle entstehen und welchen Verlauf sie nehmen, hat Baudelaire zeitlebens interessiert. Sie ist einer der Gründe für seine intensive Beschäftigung mit den künstlichen Rauschzuständen. So lässt er im Poème du hachisch den sensiblen und phantasievollen Protagonisten von Poes A Tale of the Ragged Mountains berichten, wie das Opium seine Wahrnehmung der geringsten Dinge intensivierte und eine bunte und anregende Fülle von schweifenden, ungeordneten Gedanken in ihm auslöste:

Cependant, l’opium avait produit son effet accoutumé, qui est de revêtir tout le monde extérieur d’une intensité d’intérêt. Dans le tremblement d’une feuille, – dans la couleur d’un brin d’herbe, – dans la forme d’un trèfle, – dans le bourdonnement d’une abeille, – dans l’éclat d’une goutte de rosée, – dans le soupir du vent, – dans les vagues odeurs échappées de la forêt, – se produisait tout un monde d’inspirations, une procession magnifique et bigarrée de pensées désordonnées et rhapsodiques.6

Dieses rauschhafte, von äußeren Zufälligkeiten bestimmte Denken fördert die Inspiration („se produisait tout un monde d’inspirations“) und führt zu ungewohnten Gedankenfolgen, die Baudelaire mit Poe „rhapsodisch“ nennt:

[…] le mot rhapsodique […] définit […] un train de pensées suggéré et commandé par le monde extérieur et le hasard des circonstances […]7

Rhapsodisches Denken hat er auch beim flanierenden Protagonisten von Sainte-Beuves Vie, poésies et pensées de Joseph Delorme festgestellt, dem er im Spleen de Paris nachzueifern sich bemühte8. Dem rhapsodischen Denken verwandt ist die arabeske Linienführung in der Musik, die er im Prosagedicht Le Thyrse an Liszt rühmt9. Das Bild des von flatternden Bändern und Ranken umspielten Thyrsusstabes hat er De Quincey entlehnt, der es für seine Vorgehensweise in den Confessions of an English Opium-Eater verwendet hatte10, was von Baudelaire so wiedergegeben wird:

[…] pensée solitaire, qui aspire à s’envoler loin de ce sol et loin du théâtre des luttes humaines; grands coups d’aile vers le ciel; monologue d’une âme qui fut toujours trop facile à blesser. […] cette pensée est le thyrse dont il a si plaisamment parlé […]. Le sujet n’a pas d’autre valeur que celle d’un bâton sec et nu; mais les rubans, les pampres et les fleurs peuvent être, par leurs entrelacements folâtres, une richesse précieuse pour les yeux. La pensée de De Quincey n’est pas seulement sinueuse; le mot n’est pas assez fort: elle est naturellement spirale.11

„Rhapsodique“, „arabesque“, „sinueux“, „spirale“ – Zahl und Mannigfaltigkeit der Ausdrücke belegen Baudelaires großes Interesse am Ablauf der Gedanken im Zustand des künstlerischen Enthusiasmus.

Unter dem Einfluss von Haschisch verstärkt und vor allem beschleunigt sich nun ein ‚rhapsodischer‘ Gedankenfluss ins „Unendliche“:

Ici, le raisonnement n’est plus qu’une épave à la merci de tous les courants, et le train de pensées est infiniment plus accéléré et plus rhapsodique.12

Daher muss seine Wiedergabe ebenfalls schnell sein. Auf Schnelligkeit als ein wesentliches Element des künstlerischen Schaffensprozesses hat Baudelaire wiederholt hingewiesen. Im Peintre de la vie moderne hat er z.B. das Wiederaufkommen der Mal- und Drucktechniken des 18. Jahrhunderts mit dem schnellen Wandel des modernen Lebens erklärt, der vom Künstler schnelle Verfahren verlange13, und zu Constantin Guys hat er festgestellt, dass dieser bei seinem Arbeiten nach dem Gedächtnis14 mit einem fast rasenden Eifer verfahre, damit sich das Erinnerungsbild nicht verliere:

Ainsi, dans l’exécution de M.G. se montrent deux choses: l’une, une concentration de mémoire résurrectionnelle, évocatrice, une mémoire qui dit à chaque chose: „Lazare, lève-toi!“; l’autre, un feu, une ivresse de crayon, de pinceau, ressemblant presque à une fureur. C’est la peur de n’aller pas assez vite, de laisser échapper le fantôme avant que la synthèse n’en soit extraite et saisie […] (S. 699)

Das „Phantom“ halte Guys nacheinander mit Bleistift, Tuschlavierungen, intensiven Farben und schließlich mit Tintenkonturierungen fest, so dass die Zeichnung in jeder Arbeitsphase hinreichend vollständig erscheine. Man könne das eine Skizze nennen: „vous nommerez cela une ébauche si vous voulez, mais ébauche parfaite“15. Baudelaires Kronzeuge für eine schnelle Ausführung des künstlerischen Gedankens war jedoch Eugène Delacroix, dessen diesbezügliche Ansichten er mehrfach zitiert, zuerst 1846 in den Conseils aux jeunes littérateurs16, dann im Salon de 1846 und wieder im Salon de 1859, wo er sie damit begründet, dass bei der Ausführung der künstlerischen Idee nichts vom ursprünglichen starken Eindruck verlorengehen dürfe:

[…] qu’elle [l’exécution] soit très rapide, c’est pour que rien ne se perde de l’impression extraordinaire qui accompagnait la conception […]17

In seinem letzten großen Artikel über Delacroix wiederholt er dies noch einmal und präzisiert, dass ohne eine schnelle Ausführung die „intensité de l’action ou de l’idée“ sich verflüchtige:

[…] la préoccupation de toute sa vie […] était, comme on le sait, d’exécuter assez vite et avec assez de certitude pour ne rien laisser s’évaporer de l’intensité de l’action ou de l’idée.18

Die sich schnell verflüchtigende Intensität eines ekstatischen Geschehens („l’action“), bei dem das Einzelne als Symbol des Ganzen erlebt wird, hat im künstlerischen Enthusiasmus ihr Pendant in der ebenso flüchtigen Intensität der Vorstellung („l’idée“), die sich im Künstler bildet. Beides verlangt daher eine schnelle Wiedergabe. Wenn zusätzlich die wiederzugebenden Vorstellungsgegenstände schnell ablaufen, wie es beim rhapsodischen Denken der Fall ist, wird eine schnelle Umsetzung umso dringlicher, ganz abgesehen davon, dass auch der Schaffensprozess selbst für eine Beschleunigung sorgt, weil das Einzelne über sich selbst hinausdrängt auf das Ganze hin und ein Innehalten ausgeschlossen ist19.

Unter solchen Bedingungen stand für Baudelaire auch die Wiedergabe des Geschehens von Le Cygne, bei der es ihm, wie seine Äußerungen über die poetischen „suggestions“ eines „accident“ und einer „image“ anzeigen, um die Wiedergabe des dichterischen Schaffensprozesses ging. Ist ihm diese Wiedergabe geglückt? Da er, entgegen seiner brieflichen Ankündigung, nach der ersten Veröffentlichung nur noch geringfügige Änderungen am Text vorgenommen hat, von denen keine die Gedankenfolge betrifft20, kann man davon ausgehen, dass er mit dem Erreichten zufrieden war. Auch Hugo hat mit Bewunderung – und mit gewohnter Distanz – auf Le Cygne reagiert:

Comme tout ce que vous faites, Monsieur, votre Cygne est une idée. Comme toutes les idées vraies, il a des profondeurs.21

Tatsächlich kann man das Gedicht als „schnelle“, weitgehend unveränderte Aufzeichnung eines rhapsodischen Denkens im poetischen Enthusiasmus verstehen. Beim Gang über das „nouveau Carrousel“ vergegenwärtigt sich das Ich in einem durch die klischeehafte Wendung „Le vieux Paris n’est plus!“22 eingeleiteten Selbstgespräch das „camp de baraques“, das sich bis vor kurzem dort befand, und erinnert sich an die ebenda angesiedelte „ménagerie“ und den aus ihr entwichenen Schwan. Dann kommen ihm, ausgelöst durch diese melancholische Erinnerung, weitere Bilder und Vorstellungen, deren prominenteste die literarische Figur der Andromaque ist, mit deren imaginärer Anrede das Gedicht so unvermittelt einsetzt. Wolf-Dieter Stempel hat das „Andromaque, je pense à vous!“ des Gedichtanfangs unter Zusammenfassung früherer Forschungsergebnisse so beschrieben:

Die Unvermitteltheit, durch die der Anruf die jähe Erinnerungsgebärde abbildet, das Hervortreten der mythischen Gestalt, die […] an prominenter Stelle (Versanfang) genannt wird, die Rede selbst, die sie und zumal durch die Emphase der Zuwendung als literarische Figur in lebendige, ja betont gegenwärtige Erscheinung bringt […] und damit zugleich das redende Ich in eine verinnerlichte Kommunikationssphäre zu entrücken scheint, […] – all dies erscheint hochgradig figuriert als eine besondere Art von Deixis am Phantasma […]23

Die enthusiastische Beschwörung der Andromaque geht im Gedicht dem Selbstgespräch des Ichs und der Erinnerung an den Schwan voraus. Nun ist aber, wie oben gesehen, Andromaque ebensowenig die Auslöserin der Assoziationskette wie das Geschehen chronologisch wiedergegeben ist. Vielmehr hat Baudelaire ganz offensichtlich versucht, im Gedicht nicht mehr und nicht weniger als den Moment des poetischen Einfalls festzuhalten, der im Zuge der Vergegenwärtigung der Begebenheit mit dem Schwan das Bild der Andromaque erstehen lässt, und zwar aufgrund der unübersehbaren Analogien beider Vorstellungen. Die erste ist die Analogie des am ‚falschen‘ Wasser trauernden Lebewesens, auf die das später getilgte Motto Falsi Simoentis ad undam verwies:

[…] Ce petit fleuve,

Pauvre et triste miroir où jadis resplendit

L’immense majesté de vos douleurs de veuve,

Ce Simoïs menteur qui par vos pleurs grandit

[…]

Un cygne qui s’était évadé de sa cage,

Et, de ses pieds palmés frottant le pavé sec,

Sur le sol raboteux traînait son blanc plumage.

Près d’un ruisseau sans eau la bête ouvrant le bec

Baignait nerveusement ses ailes dans la poudre,

Et disait, le cœur plein de son beau lac natal:24

Die zweite Analogie ist die „Leere“ des Baches („ruisseau sans eau“), neben dem der Schwan am Boden scharrt, und die „Leere“ des Grabes („tombeau vide“), an welchem Andromaque trauert. Das „Andromaque, je pense à vous!“ des ersten Verses bezeichnet exakt jenen Augenblick, in dem diese Bilder in der Phantasie des Ichs zusammenschießen und die poetische Idee des Gedichts geboren wird. Die darauf folgende Erzählung gibt wieder, wie es dazu gekommen ist. Das Ganze ist ein neuerliches Beispiel für die Vielfalt und die Komplexität der poetischen Assoziationen Baudelaires.

Der zweite Teil von Le Cygne beginnt damit, dass das Ich innehält und seine äußere und innere Situation betrachtet25, bevor es sich wieder der Bilderflut des Enthusiasmus überlässt, die nun jedoch in geordneter Weise abläuft26. Auch die imaginäre Gesprächssituation des Anfangs ist zurückgenommen und ‚beruhigt‘ sich. Die Wendungen „Et puis à vous, / Andromaque, des bras d’un grand époux tombée“ (V. 36f.) und „Veuve d’Hector, hélas! Et femme d’Hélénus!“ (V. 40) sind eher lyrische Apostrophen, die aus dem „état exagéré de vitalité“ des Lyrikers hervorgehen, als Anredeformen aus imaginierter nächster Nähe27. Dafür vertieft sich in den folgenden Sätzen mit ihrem wiederholten „Je pense à“ die Ekstase und die Anschauung der „profondeur de la vie“ in der Reihe der erinnerten und vorgestellten Gestalten. Das Ich lässt sie in einer Aufzählung, der melancholischen Ausdrucksform der Vergänglichkeit28, an sich vorüberziehen. In der Schlussstrophe verdichten und verschränken sich in einem gesteigerten „enfantement poétique“ noch einmal die vertrauten Bilder von Stadt und Natur bzw. Wald: Im Wald hatte Baudelaire einst die Stadt gesehen, im „Wald“ der Stadt ist sein Geist nun „im Exil“; aus den rauschenden Baumwipfeln hatte er seinerzeit menschliche Klagen herausgehört, nun verwandelt sich auf dem Höhepunkt des Enthusiasmus eine „alte Erinnerung“ an die Klage des (Dichter)Schwans in den vollen „Klang eines Jagdhorns“, und dieser Klang lässt ihn an alle denken, die den „état paradisiaque“ verloren haben und sich im Exil ihres „habitacle de fange“ befinden. Dem Dichter wird hier ein Universalerlebnis der Trauer zuteil, das ein versöhnliches Schlussbild abgibt, vergleichbar der letzten Phase des Haschischrausches mit ihren „visions splendides doucement terrifiantes et en même temps pleines de consolations“29.

Trotz der schnellen Aufzeichnung ist der Gedankenverlauf in Le Cygne selbstverständlich von Baudelaire bearbeitet worden, wie das Einsetzen mit dem poetischen Einfall beweist. Aber er kommt in seiner Form dem ursprünglichen Gedankenverlauf näher als sonst in Gedichten üblich30. Die Realisierung des ‚rhapsodischen‘ Denkens war dabei der schwierigere, weil ungewohnte Teil. Le Cygne ist in den „Tableaux parisiens“ jedoch nicht der einzige Fall eines ungewohnten poetischen Ablaufs31, und in den Prosagedichten wird Baudelaire es wenig später sogar zu seinem erklärten Programm machen, den „mouvements lyriques de l’âme“, den „ondulations de la rêverie“ und „soubresauts de la conscience“ in der Großstadt zu folgen – nun mit Hilfe einer poetischen und musikalischen Prosa32.

In Le Cygne ist die Großstadt mehr als der poetische Erlebnisraum des Dichters, der sie in den bisher besprochenen Gedichten war, da sie an der Entstehung seiner „rêverie“ und seines Enthusiasmus nun selbst maßgeblich beteiligt ist. Dabei sind es bemerkenswerterweise nicht die Menschen und ihre Menge, die das melancholische Sinnen des Dichters auslösen, sondern ein Ensemble von Bauten und ein Stadtviertel im historischen Umbruch, das für die Veränderung der ganzen Stadt steht. Dazu kommt ein fait divers um ein Tier mit symbolischer Strahlkraft. Erst dann folgen Menschen, angeführt von einem Geschöpf der Literatur und weiteren vom Dichter erinnerten und imaginierten „exilés“, die ihm das Leben im irdischen Jammertal verbildlichen. An dieser Gesamtheit von Mensch und Tier, kulturellem Geschöpf, Heimatlosen, Waisen und der ganzen leidvollen Kreatur kann er seine Fähigkeit zum Mitleiden ausleben und ein melancholisches Einheitserlebnis in der Tiefe der Zeit wie des Raumes erfahren. Diese neue Großstadtdichtung Baudelaires hat ihre eigene beglückende Schönheit, der sich selbst hartnäckige Verfechter des Gedankens von der ausschließlichen Trübsal und Hässlichkeit der Großstadt auf Dauer nicht haben entziehen können.

f) „Tableaux parisiens“

Spätestens nach Fertigstellung der Gedichte der „nouvelle série“, in denen das Großstadterlebnis des Dichters zur vollen Entfaltung gekommen war, dürfte Baudelaire den Plan gefasst haben, diesem Thema in der Neuauflage der Fleurs du mal, an der er seit dem Herbst 1858 arbeitete1, eine eigene Abteilung zu widmen. Vor allem in dem Jahr zwischen Unterzeichnung des Vertrags mit Poulet-Malassis (Januar 1860) und Abgabe des vollständigen Manuskripts (Januar 1861) war er mit dem Sammeln und Ordnen bisheriger und dem Verfassen weiterer Gedichte für die geplanten „Tableaux parisiens“ beschäftigt.

Tragendes Gerüst der neuen Abteilung waren die Gedichte, in denen das neue Konzept entwickelt worden war2, ausgenommen Le Vin des Chiffonniers, der aus schon genannten Gründen weiterhin in der Abteilung Le Vin blieb. Von den übrigen sechs Gedichten waren die beiden Crépuscules als Nr. LXVII und LXVIII bereits in der Abteilung „Spleen et Idéal“ der Fleurs du mal von 1857 publiziert worden. Aus dieser Abteilung boten sich vier weitere Stücke zur Aufnahme in die neue Rubrik an, die mehr oder weniger deutlich im ‚Raum‘ Großstadt angesiedelt waren, auch wenn ihr lyrischer Habitus dem neuen Konzept noch fernstand und traditioneller war. Dazu kamen sechs neue Stücke, so dass sich ein Gesamt von 18 Gedichten ergab.

Das erste der aus der Erstauflage der Fleurs du mal übernommenen Gedichte trägt den Titel Le Soleil („Tableaux parisiens“ LXXXVII). Es stammt aus Baudelaires früher Periode, als er Themen der älteren Lyrik der Pléiade und des Barock zu modernisieren versuchte3, und ist Adam zufolge „un des plus médiocres [poèmes] parmi Les Fleurs du mal“. Nicht zuletzt weil es 1857 an prominenter zweiter Stelle stand (1861 dort durch L’Albatros ersetzt) und in der neuen Abteilung „Tableaux parisiens“ dieselbe Stelle einnimmt, sieht Pichois in ihm ein „Emblem“ des Dichters, besser wohl des Dichters in der Großstadt. Denn es stellt die Tätigkeiten des Dichters und der Sonne in der großen Stadt nebeneinander: des Dichters, der, wenn die Sonne unbarmherzig vom Himmel scheint, durch die Straßen der Stadt irrt, Reime, Wörter und Verse suchend und manchmal lang erträumte findend; der Sonne, die als Vater die Erde nährt und Sorgen vertreibt, Köpfe wie Bienenstöcke mit Honig füllt, die Alten verjüngt und die Jungen erfreut und ewiges Wachsen und Blühen befiehlt. Wenn sie wie ein Dichter in die Stadt hinabsteigt, adelt sie die niedrigsten Dinge und herrscht einem König gleich in Hospitälern und Palästen. Der etwas seltsam wirkende Vergleich zwischen Sonne und Dichter ist keineswegs abwegig, denn Phoebus, der Sonnengott, ist als Apollo zugleich der Gott der Dichtkunst, die mithin auch städtische Themen adeln kann. Bereits in diesem frühen Gedicht setzt Baudelaire also auf eine positive und durchaus anspruchsvolle Rolle des Dichters in der Stadt, die er aber noch nicht anders als mit traditionellen Bildern wiederzugeben weiß.

Auch die Entstehung des als Nr. LXXXVIII folgenden Gedichts À une mendiante rousse fällt in die frühen Jahre des Interesses für ältere Dichtung. In diesem Fall handelt es sich um das barocke Thema der „schönen Bettlerin“, das in den 1840/1850er Jahren ein allgemeines Renouveau erlebte. Hinzu kommen wahrscheinliche Begegnungen mit realen Personen, über deren Identifizierung man viel diskutiert hat4. Die erste Fassung des Gedichts ist ein „pastiche admirablement réussi“, das sich, passend zum Thema, in Form (Odelette) und Vers­schema (drei Siebensilber, ein Viersilber) sowie mit seiner archaisierenden Diktion an der Pléiade, vor allem an Ronsard, orientiert5. 1851/1852 gefiel dies Baudelaire nicht mehr und er begann, das Gedicht zu modernisieren, die Archaismen und den Pléiadestil zu tilgen. Noch in den Druckfahnen von 1857 arbeitete er daran. In definitiver Form lag es 1861 vor. Die Erscheinung der bettelnden Schönen in zerlumpten Kleidern passte grundsätzlich ins Bild der Großstadt, ein gefälliges, leichtes Gedicht darauf also in eine Großstadtlyrik im weitesten Sinne, während die nicht getilgten Namen des 16. Jahrhunderts (Belleau, Ronsard, Valois) als Bildungsmetaphern durchgehen konnten und durch den Namen eines teuren zeitgenössischen Restaurants (Véfour) wettgemacht wurden.

Unmittelbar auf À une mendiante rousse folgte 1857 Le Jeu, heute Nr. XCVI der „Tableaux parisiens“. Ausgangspunkt dieses Gedichts ist wohl die Meditation über eine Lithographie, von der Baudelaire eine ausführliche Bildbeschreibung in Quelques caricaturistes français (1857) gegeben hat. Darin schreibt er das Werk irrtümlich Carle Vernet zu, den er für seinen „accent véridique“ und die historische Aussagekraft der dargestellten Lebensformen lobt6. Die Szene im Spielermilieu zeigt Männer verschiedenen Alters, die mit höchster Anspannung dem Glücksspiel nachgehen, dazu leichte Mädchen und verlebte Kurtisanen, die im Hintergrund auf ihre Chance warten. Baudelaire hat diesen beiden Gruppen von sich aus die Dichter („poètes illustres“) hinzugefügt, die unter dem Schein übergroßer Lüster mit finsterer Stirn den Lohn ihrer mühsamen Arbeit („leurs sanglantes sueurs“) verspielen. Dieses düstere Bild („ce noir tableau“) habe er in einem nächtlichen Traum gesehen und dazu sich selbst, abseits sitzend, voller Neid auf die Leidenschaft und Lebenslust der Gestalten vor sich, die ihre Ehre oder ihre Schönheit munter zu Markte tragen und Schmerz und Hölle dem Tod und dem Nichts vorziehen.

Der großstädtische Charakter des Motivs der Spielhölle liegt auf der Hand. Die Szene selbst ist moralistisch gesehen. Pichois deutet sie als ein Bild des Lebens und der Lebenseinstellung und verweist dazu auf eine Eintragung Baudelaires in den Fusées:

La vie n’a qu’un charme vrai; c’est le charme du Jeu. Mais s’il nous est indifférent de gagner ou de perdre?7

In der Tat handelt die zweite Hälfte des Gedichts vom Dichter-Ich, das der melancholische Zuschauer dieses düsteren Bildes vom Leben ist:

Moi-même, dans un coin de l’antre taciturne,

Je me vis accoudé, froid, muet, enviant,

Enviant de ces gens la passion tenace,

De ces vieilles putains la funèbre gaieté,

Et tous gaillardement trafiquant à ma face,

L’un de son vieil honneur, l’autre de sa beauté!

[…]8

Während Baudelaire sich selbst so in der Pose des einsamen und lebensüber­drüssigen Melancholikers zeichnet, stellt er seine „illustren“ Kollegen als rührige Teilnehmer am Spiel des Lebens dar, die darin leichthändig ihre unter Mühen erworbenen Meriten einsetzen9. Das Bild des Dichters in diesen Versen ist also ein doppeltes, ein satirisch-parodistisches und ein melancholisch-teilnahmsloses. Es lässt die spätere Vorstellung vom Enthusiasmus des Dichters in der Großstadt noch nicht ahnen.

Brumes et pluies wurde erstmals 1857 veröffentlicht, unmittelbar hinter den vier Spleen-Gedichten (Nr. LXIII). Ähnlich diesen ist es ein Gedicht der Melancholie, die hier Jahreszeiten (und Lebenszeiten?) zugeschrieben wird. Das Dichter-Ich singt ein Loblied auf Herbst, Winter und regenreiche Frühjahre, die „blafardes saisons, reines de nos climats“, bei deren Anblick es seine „ailes de corbeau“ weit und besser entfalten könne als in der Zeit des „tiède renouveau“. Der Rabe ist ein Vogel des Apollo, die Rabenflügel sind also Hinweis auf den dichterischen Aufschwung. Auch wenn von einer „grande plaine où l’autan froid se joue“ (2. Quartett) die Rede ist, kann man sich – nicht nur wegen des tröstenden „lit hasardeux“ im zweiten Terzett – leicht eine städtische Umgebung vorstellen, so dass die definitive Übernahme in die „Tableaux parisiens“ (CI) plausibel, wenn auch nicht zwingend erscheint.

Die beiden letzten der Abteilung „Spleen et idéal“ entstammenden Gedichte, „La servante au grand cœur …“ und „Je n’ai pas oublié …“ (Nr. LXIX bzw. LXX), erscheinen in den „Tableaux parisiens“ in umgekehrter Reihenfolge als Nr. XCIX und C. Nach Aussagen Praronds sind beide früh entstanden (vor 1843). In einem Brief an seine Mutter (11. Januar 1858) äußert sich Baudelaire zu ihrem intimen Charakter:

Vous n’avez donc pas remarqué qu’il y avait dans Les Fleurs du mal deux pièces vous concernant, ou du moins allusionnelles à des détails intimes de notre ancienne vie, de cette époque de veuvage qui m’a laissé de singuliers et tristes souvenirs, – l’une: Je n’ai pas oublié, voisine de la ville … (Neuilly), et l’autre qui suit: La servante au grand cœur dont vous étiez jalouse … (Mariette)? J’ai laissé ces pièces sans titres et sans indications claires parce que j’ai horreur de prostituer les choses intimes de famille.10

Naturgemäß hat das Interesse für diese Gedichte allerlei biographischen Fragen und Spekulationen gegolten, letztere zumal um die „servante au grand cœur“. Dazu kam die Frage nach literarischen Anregungen durch Hugo für das idyllische Haus sowie durch Hugo und Gautier für das Thema der „pauvres morts“11. Einig ist man sich in der poetischen Bewertung des Verses „La servante au grand cœur dont vous étiez jalouse …“, der noch Generationen später von Dichtern geschätzt wurde: „Ce vers célèbre, qui tient tout un roman de Balzac dans ses douze syllabes […]“ lautete Valérys Urteil über ihn und das von Jean Cocteau: „Voilà le vers-événement, celui qui entraîne tout le poème vers le haut.“12 Die neue Platzierung der Stücke in der Abteilung „Tableaux parisiens“ war der früheren schon wegen der Situierung „voisine de la ville“ (XCIX) und der biographischen Konkretheit vorzuziehen.

Die sechs Gedichte, die Baudelaire nach 1857 für die „Tableaux parisiens“ neu verfasst hat, sind in der Reihenfolge ihrer Entstehung Danse macabre, Le Squelette laboureur, L’Amour du mensonge, Rêve parisien, Les Aveugles und À une passante.

Danse macabre ist in den letzten Tagen des Jahres 1858 entstanden und am 15. März 1859 in der Revue contemporaine veröffentlicht worden. Es war zu Lebzeiten Baudelaires eines seiner verbreitetsten Gedichte. Todes- und Skelettdarstellungen waren damals sehr beliebt. Baudelaire selbst hat in seinem kurz darauf verfassten Salon de 1859 das Skelett als Thema der Skulptur verteidigt und von seiner „beauté mystérieuse“ gesprochen, die ihm als dem „plan du poème humain“ eigen sei13. Für sein Gedicht hat er sich an der Vorstellung des Totentanzes inspiriert und, wie es scheint, an einer Statuette des Bildhauers Ernest Christophe, dem das Gedicht auch gewidmet ist14. Ein nachdenkliches Ich beschreibt darin ein weibliches Skelett, das mit Verführungskunst und Grazie herausgeputzt am Tanz des Lebens teilnimmt und den lebenden Tänzern, von denen es mit Grauen abgewiesen wird, ein Memento mori vorhält. Baudelaire hat mit dem Herausgeber der Revue contemporaine hartnäckig um den Text und seine Wort- und Bilderwahl gerungen, etwa um das archaisierende „gouge“15, und er hat dem Gedicht ausdrücklich einen allegorischen Charakter zugesprochen:

Danse macabre n’est pas une personne, c’est une allégorie. […] Allégorie archi-connue, qui veut dire: le train de ce monde conduit par la Mort. (Ebd.)

Diese allegorische Bedeutung von Danse macabre als Tanz des vom Tod angeführten Lebens in der Welt der Großstadt – sowie die Nähe zu Le Squelette laboureur – könnten dafür verantwortlich sein, dass es seinen Platz in den „Ta­bleaux parisiens“ gefunden hat und nicht in der Abteilung „La Mort“. Zum Bild des Dichters in der Großstadt trägt es unmittelbar nichts bei.

Zur Todesthematik gehört auch das ein Jahr später entstandene Le Squelette laboureur (XCIV), zu dem diesmal der anatomische Atlas De corporis humani fabrica libri septem von Andreas Vesalius (Basel 1543) den Anstoß gegeben haben dürfte16. Baudelaire interessierte sich für alte Stiche, wie man sie bei den Bouquinisten am Seineufer finden konnte. Darin waren bis zum Barock Darstellungen von grabenden Skeletten nichts Ungewöhnliches. Sein Gedicht beginnt mit der städtischen Szenerie an den Quais de la Seine, wo man in staubigen Büchern diesen Bildtafeln mit grabenden Skeletten und Enthäuteten begegne, denen ein wissender alter Künstler überraschende Schönheit verliehen habe. Das Ich denkt über den Sinn solcher Abbildungen nach und fragt, ob sie zeigen sollen, dass nicht einmal der Tod das Ende der Mühen bedeutet. Eine Beziehung zum Großstadtthema besteht nur in der eingangs geschilderten Szene, die eine typisch Pariserische ist und an das ‚tableau de Paris‘ erinnert17. Doch könnte die Aktualität des Themas zur Positionierung in den „Tableaux parisiens“ beigetragen haben.

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