Kitabı oku: «Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute», sayfa 9

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Pensive, s’asseyait à l’écart sur un banc,

Pour entendre un de ces concerts, riches de cuivre,

Dont les soldats parfois inondent nos jardins,

Et qui, dans ces soirs d’or où l’on se sent revivre,

Versent quelque héroïsme au cœur des citadins.

Celle-là, droite encor, fière et sentant la règle,

Humait avidement ce chant vif et guerrier;

Son œil parfois s’ouvrait comme l’œil d’un vieux aigle;

Son front de marbre avait l’air fait pour le laurier!

(V. 37–60)

Im zweiten und dritten Teil phantasiert das Ich, durch den Anblick der kleinen Alten angeregt, deren Lebensgeschichten. Dabei greift Baudelaire auf ein Repertoire von Frauengestalten zurück, das ein wiederkehrender Bestandteil seines Denkens ist. So sieht das Ich einige von ihnen als eifrige Besucherinnen oder Mitwirkende bekannter städtischer Vergnügungsorte wie eines Komödientheaters, des Spielkasinos des ehemaligen Frascati oder der Vergnügungsparks des Tivoli14. Offensichtlich handelt es sich um die Kategorie der „beautés interlopes“ und Kurtisanen, die an solchen Orten ihrem Gewerbe und ihrem Vergnügen nachgingen, wie im 12. Kapitel des Peintre de la vie moderne („Les Femmes et les filles“) beschrieben ist15. In seinem dichterischen Rausch phantasiert das Ich diese Frauen ‚klassisch‘ überhöht als „Vestalin“, die das Feuer der Spielsucht aufrecht erhielt, als einstige „Thaliapriesterin“, deren Namen der Souffleur kannte, der nun „unter der Erde“ ist, sowie als stadtbekannte Schöne, die ihre Zeit im Tivoli verbrachte. Alle diese Schicksale versetzen es in höchste Verzückung. Nahe fühlt es sich aber auch jenen sanften anderen Frauen, die wie der Dichter, der seinen Honig aus bescheidenen Blüten sammelt16, aus dem Schmerz des Lebens Honig gewonnen haben, um durch ihre Hingabe unsterblich zu werden, sei es die vom Vaterland ins Unglück Gestürzte, die von ihrem Gatten mit Leid Überhäufte oder die durch ihr Kind zur Schmerzensmutter Gewordene – jede von ihnen, so glaubt es und nimmt die Tränenmetaphorik des ersten Teils auf, hätte mit ihren Tränen einen Fluss füllen können17. Die letzte Gruppe schließlich (III) nimmt die Frauengestalten des späteren Prosagedichts Les Veuves (Le Spleen de Paris XIII) vorweg. Hier hebt das Ich eine Einzelne hervor, der es einmal auf seinen Gängen durch die Stadt gefolgt ist, um zu sehen, wie sie sich bei Sonnenuntergang in einem Park abseits auf einer Bank niederließ und mit stolzem Ausdruck einem Regimentskonzert lauschte. Die Szene entspricht der ersten der beiden im Prosagedicht berichteten Anekdoten, in der das empathische Ich erkennt, dass die Teilnahme an dem kostenlosen Konzert die kleine „débauche“ im freudlosen und einsamen Leben der Frau ist. In Les Petites Vieilles bleibt diese Erkenntnis des Ichs ausgespart und das Interesse richtet sich ganz auf die stolze Haltung der Frau mit ihrem Adlerblick und ihrer hohen Marmorstirn18.

In den Teilen II und III der Petites Vieilles hat die Forschung augenfällige Übereinstimmungen mit einem Gedicht aus Victor Hugos Orientales festgestellt, das den Titel Fantômes trägt19. Dieses ebenfalls mehrteilige Gedicht handelt vom Tod junger Mädchen, die, kaum erblüht, an den Folgen durchtanzter Nächte sterben und derer das Dichter-Ich sich in der Waldeinsamkeit träumend erinnert, wobei es ein Einzelschicksal besonders hervorhebt. Die wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gedichten sind die Aufzählung „L’une … l’autre …“ (bei Hugo II, Strophe 1 – bei Baudelaire II, Strophe 3) sowie die Hervorhebung des besonderen Falles: „Une surtout …“ (bei Hugo III, Strophe 1) – „Une, entre autres …“ (bei Baudelaire III, Strophe 1). Außerdem beginnt Baudelaires dritter Teil mit der Wendung „Ah! que j’en ai suivi de ces petites vieilles!“, was an den Anfang von Hugos Gedicht denken lässt: „Hélas! que j’en ai vu mourir de jeunes filles!“20 Das abweichende, auf die Stadtsituation bezogene Motiv des „Folgens“ entstammt jedoch der Poeschen Erzählung The Man of the Crowd, wo der Erzähler ebenfalls einem Unbekannten, der seine Neugier geweckt hat, durch eine Stadt folgt21. Dafür ist Baudelaires Titel Fantômes parisiens wieder ein Hommage an Hugo, der freilich unter dem Begriff „fantômes“ die Geister früh verblichener junger Mädchen heraufbeschworen hatte, während Baudelaire mit demselben Begriff alte Frauen bezeichnet22, die ihr verblühtes Leben inmitten der geschäftigen großen Stadt hinbringen und die Phantasie des Dichters anregen. Bei seinen Übernahmen handelt es sich also mehrheitlich um sprachlich-strukturelle Elemente, die mit der Substanz des Gedichts wenig zu tun haben23. Denn Hugos Thema ist ein romantisches Totengedenken, wie es zur Zeit der Abfassung seines Gedichts en vogue war24, Baudelaires Thema dagegen sind die alten Frauen, deren Anblick ihn mitten in der großen Stadt in den schöpferischen Enthusiasmus versetzt – „Toutes m’enivrent“ (V. 41) –, so dass er ihre vielen unterschiedlichen Lebensgeschichten phantasiert.

IV

Telles vous cheminez, stoïques et sans plaintes,

À travers le chaos des vivantes cités,

Mères au cœur saignant, courtisanes ou saintes,

Dont autrefois les noms par tous étaient cités.

Vous qui fûtes la grâce ou qui fûtes la gloire,

Nul ne vous reconnaît! Un ivrogne incivil

Vous insulte en passant d’un amour dérisoire;

Sur vos talons gambade un enfant lâche et vil.

Honteuses d’exister, ombres ratatinées,

Peureuses, le dos bas, vous côtoyez les murs;

Et nul ne vous salue, étranges destinées!

Débris d’humanité pour l’éternité mûrs!

Mais moi, moi qui de loin tendrement vous surveille,

L’œil inquiet, fixé sur vos pas incertains,

Tout comme si j’étais votre père, ô merveille!

Je goûte à votre insu des plaisirs clandestins:

Je vois s’épanouir vos passions novices;

Sombres ou lumineux, je vis vos jours perdus;

Mon cœur multiplié jouit de tous vos vices!

Mon âme resplendit de toutes vos vertus!

Ruines! ma famille! Ô cerveaux congénères!

Je vous fais chaque soir un solennel adieu!

Où serez-vous demain, Èves octogénaires,

Sur qui pèse la griffe effroyable de Dieu?

(V. 61–84)

Der letzte Teil beginnt mit einer direkten Hinwendung des Ichs zu den alten Frauen, die inmitten des Chaos der geschäftigen Städte stoisch und klaglos ihren Weg gehen. In diesem Chaos, in dem der „homme sensible“ in den ekstatischen Zustand gerät25, sind sie der zufällige, alltägliche Anblick, der dem Ich die Tiefe des Lebens offenbart und ein universales Einheitserlebnis beschert. Denn sie, die einstmals stadtbekannt waren, jetzt aber zum Gespött für Kinder und Betrunkene geworden sind, die ängstlich gebückt und voller Scham an den Häusern entlangschleichen, menschliche Wracks, die reif sind für die Ewigkeit, offenbaren ihm in ihren vielfachen Lebensformen („Mères au cœur saignant, courtisanes ou saintes“, V. 63) das vielgestaltige Leben der Stadt. Und in seinem dichterischen Enthusiasmus, der nun den Höhepunkt erreicht, wendet es sich ihnen mit der liebevollen Anteilnahme eines Vaters zu, der aus der Ferne mit zärtlicher Besorgnis die unsicheren Schritte seiner Kinder verfolgt, der ihre Leidenschaften aufblühen und ihre Lebenstage, leuchtende wie dunkle, vorbeiziehen sieht26. Wie ein Vater durchlebt es mit ihnen ihre Laster und sonnt sich im Glanz ihrer Tugenden, um in dieser Identifikation die „Vervielfältigung“ seiner eigenen Person zu erfahren: „Mon cœur multiplié jouit de tous vos vices! / Mon âme resplendit de toutes vos vertus!“ (V. 79f.). In ihrer Gebrechlichkeit werden ihm die kleinen Alten, wie in Les Foules und im Peintre de la vie moderne angekündigt, zur eigenen „Familie“ („Ruines! ma famille! …“) von der es sich allabendlich, in der Ungewissheit über ihr weiteres Schicksal, feierlich verabschiedet. Mit dem Hinweis auf die Seelenverwandtschaft – „Ô cerveaux congénères“ – zwischen den „Èves octogénaires“ und dem ‚poète-enfant‘27 schließt sich der Kreis der Gedanken und Empfindungen, der von den stau­nenden Kinderaugen der alten Frauen seinen Ausgang genommen hat.

Die mitfühlende Zuwendung zu den kleinen Alten dürfte Baudelaire dazu gebracht haben, von einer Nachahmung der Manier Hugos in diesem Gedicht zu sprechen. Nicht zufällig hat er nämlich in seinem wenig später verfassten Beitrag über jenen bewundernd auf diese Eigenschaft Hugos verwiesen und dabei dieselbe Bildlichkeit wie in Les Petites Vieilles verwendet:

[…] le poète se montre toujours l’ami attendri de tout ce qui est faible, solitaire, contristé; de tout ce qui est orphelin: attraction paternelle. Le fort qui devine un frère dans tout ce qui est fort, voit ses enfants dans tout ce qui a besoin d’être protégé ou consolé.28

Noch in den sinnlichen und melancholischen Liebesgedichten Hugos höre man als Begleitmusik „la voix profonde de la charité“ und ahne hinter dem Liebenden „un père et un protecteur“. Dies sei freilich nur die eine Seite von Hugos starkem Charakter, der gleichermaßen das liebe, was „très fort“ sei: „Il caresse en se jouant ce qui ferait peur à des mains débiles; il se meut dans l’immense sans vertige.“ Wegen der zeitlichen Nähe ihrer Entstehung und Publikation ist nicht auszuschließen, dass es eine Wechselwirkung zwischen den Texten gegeben hat, ja dass bestimmte Wendungen der Charakterisierung Hugos unter dem Einfluss von Les Petites Vieilles stehen. Schon Pichois hat darauf hingewiesen, dass das Bild, das Baudelaire in seinem Beitrag von Hugo zeichnet, stark seinen eigenen Vorstellungen von diesem und darüberhinaus vom Dichter im Allgemeinen entspreche29. Die Behauptung der „Imitation“ könnte also neben der Eindringlichkeit der erwähnten aktuellen Bitte an Hugo auch einer gewissen Selbsttäuschung Baudelaires entsprungen sein30.

Hugos Antwort auf die Widmung war recht gewunden. Um Baudelaires Leistung zu würdigen, bemühte er pathetisch den Fortschritt der Kunst, beschränkte seine Wertung dann aber offensichtlich auf Les Sept Vieillards:

Que faites-vous quand vous écrivez ces vers saisissants: Les Sept Vieillards et Les Petites Vieilles que vous me dédiez, et dont je vous remercie? Que faites-vous? Vous marchez. Vous allez en avant. Vous dotez le ciel de l’art d’on ne sait quel rayon macabre. Vous créez un frisson nouveau.31

Von beiden Gedichten ist jedoch Les Petites Vieilles das bedeutendere, nicht nur weil die Faszination durch die alten Frauen ein ureigenes Thema Baudelaires ist, sondern auch weil es zum ersten Mal das dichterische Großstadterlebnis in vollem Umfang vorführt und dessen theoretische Formulierung in Les Foules vorbereitet. Wie dort zu lesen sein wird, macht sich das Ich von Les Petites Vieilles die Freuden und Leiden der kleinen Alten zu eigen („Il adopte comme siennes toutes les professions, toutes les joies et toutes les misères que la circonstance lui présente.“) und versetzt sich in ihr Inneres („il entre […] dans le personnage de chacun“), wobei es von den heimlich genossenen, väterlichen „plaisirs clandestins“ (V. 76) bis zur Identifikation und zur „Vervielfältigung“ der eigenen Person alle Phasen der Ekstase eines Dichters im Zustand des Enthusiasmus erlebt und die „jouissances fiévreuses“ und „mystérieuses ivresses“ dieses Zustands erfährt. Somit erfüllt sich die zu Beginn getroffene Feststellung über die Großstadt, in der sich auch der Schrecken in Entzücken wandelt („Où tout, même l’horreur, tourne aux enchantements“, V. 2) und wird zur Themenansage eines Gedichts, in dem die Krise der Sept Vieillards überwunden ist.

e) Le Cygne
Der Wandel der Stadt als poetisches Stimulans

Das dritte Gedicht der „neuen Serie“ und zugleich ihr Höhepunkt ist Le Cygne. In ihm sind alle Anforderungen an die Großstadt als Ursprung des dichterischen Enthusiasmus mustergültig erfüllt. Zudem ist der Vorgang in so anschauliche und verdichtete poetische Bilder gefaßt, dass Le Cygne als eines der schönsten Gedichte Baudelaires gilt1.

Le Cygne

À Victor Hugo

I

Andromaque, je pense à vous! Ce petit fleuve,

Pauvre et triste miroir où jadis resplendit

L’immense majesté de vos douleurs de veuve,

Ce Simoïs menteur qui par vos pleurs grandit,

A fécondé soudain ma mémoire fertile,

Comme je traversais le nouveau Carrousel.

Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville

Change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel);

Je ne vois qu’en esprit tout ce camp de baraques,

Ces tas de chapiteaux ébauchés et de fûts,

Les herbes, les gros blocs verdis par l’eau des flaques,

Et, brillant aux carreaux, le bric-à-brac confus.

Là s’étalait jadis une ménagerie;

Là je vis, un matin, à l’heure où sous les cieux

Froids et clairs le Travail s’éveille, où la voirie

Pousse un sombre ouragan dans l’air silencieux,

Un cygne qui s’était évadé de sa cage,

Et, de ses pieds palmés frottant le pavé sec,

Sur le sol raboteux traînait son blanc plumage.

Près d’un ruisseau sans eau la bête ouvrant le bec

Baignait nerveusement ses ailes dans la poudre,

Et disait, le cœur plein de son beau lac natal:

„Eau, quand donc pleuvras-tu? Quand tonneras-tu, foudre?“

Je vois ce malheureux, mythe étrange et fatal,

Vers le ciel quelquefois, comme l’homme d’Ovide,

Vers le ciel ironique et cruellement bleu,

Sur son cou convulsif tendant sa tête avide,

Comme s’il adressait des reproches à Dieu!

II

Paris change! Mais rien dans ma mélancolie

N’a bougé! Palais neufs, échafaudages, blocs,

Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie,

Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs.

Aussi devant ce Louvre une image m’opprime:

Je pense à mon grand cygne, avec ses gestes fous,

Comme les exilés, ridicule et sublime,

Et rongé d’un désir sans trêve! Et puis à vous,

Andromaque, des bras d’un grand époux tombée,

Vil bétail, sous la main du superbe Pyrrhus,

Auprès d’un tombeau vide en extase courbée;

Veuve d’Hector, hélas! Et femme d’Hélénus!

Je pense à la négresse, amaigrie et phtisique,

Piétinant dans la boue, et cherchant, l’œil hagard,

Les cocotiers absents de la superbe Afrique

Derrière la muraille immense du brouillard;

À quiconque a perdu ce qui ne se retrouve

Jamais, jamais! À ceux qui s’abreuvent de pleurs

Et tètent la Douleur comme une bonne louve!

Aux maigres orphelins séchant comme des fleurs!

Ainsi, dans la forêt où mon esprit s’exile

Un vieux Souvenir sonne à plein souffle du cor!

Je pense aux matelots oubliés dans une île,

Aux captifs, aux vaincus! … à bien d’autres encor!

(V. 1–52)

Les Sept Vieillards beginnt mit einem Blick des Ichs auf die Stadt und ihre wundersamen Geheimnisse, dem alsbald die Halluzination des schrecklichen Greises folgt, die den poetischen Enthusiasmus verhindert. In Les Petites Vieilles ist dargestellt, wie das Ich in den Straßen der Stadt fasziniert den seltsamen Gestalten der kleinen Alten folgt und darüber in einen enthusiastischen Zustand gerät, in dem es sich liebevoll in das Schicksal der alten Frauen versenkt. In Le Cygne, dem dritten Gedicht der Serie, befindet sich das Ich von Anfang an im dichte­rischen Rausch und dieser ist unübersehbar durch die Großstadt und ihren Wandel verursacht. Zentraler Ort ist die Place du Carrousel zwischen Louvre und Tuilerien-Schloss, deren Neugestaltung eines der ehrgeizigsten Bauprojekte Louis Bonapartes war2. Das Ich hat kürzlich dieses „nouveau Carrousel“ überquert („Comme je traversais le nouveau Carrousel“) und sich dabei des vormaligen Wirrwarrs von Baracken und Kapitellen, Säulen und Steinblöcken erinnert, die nun verschwunden sind und die es nur noch im Geiste schauen kann („Je ne vois qu’en esprit tout ce camp de baraques“, V. 9), nicht anders als das Paris der Zeit vor dem Umbau:

Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville

Change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel);

Damals gab es auf dem Platz eine Menagerie, und eines Morgens, zur Stunde des Arbeitsbeginns, sah das Ich einen Schwan, der aus ihr entwichen war und neben einem ausgetrockneten Rinnsal nervös im Sand scharrte, seine weißen Schwingen durch den Staub ziehend und konvulsivisch Kopf und Hals emporreckend, als ob er Vorwürfe gen Himmel schicke. Die Erinnerung an diese Begebenheit macht ihm bewusst, wie sehr sich die Stadt ringsum gewandelt hat, während seine eigene Melancholie unverändert geblieben ist:

Paris change! Mais rien dans ma mélancolie

N’a bougé! Palais neufs, échafaudages, blocs,

Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie,

Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs.

Soweit das Erlebnis der sich wandelnden Stadt mitsamt den Gedanken, die dem Ich darüber kommen.

In seinem ersten Teil weist das Gedicht ein ungewöhnlich komplexes Zeitgefüge auf. Auf die Apostrophe im Präsens („Andromaque, je pense à vous!“) folgt ein Präteritum der Erinnerung an den kürzlichen Gang über das neue Carrousel („Comme je traversais le nouveau Carrousel“), die unterbrochen wird durch die Vergegenwärtigung des Umbaus („Je ne vois qu’en esprit …“), bevor, wieder im Vergangenheitstempus, des noch weiter zurückliegenden Vorfalls mit dem Schwan gedacht wird. Der Wechsel der Zeitebenen weist auf das Thema der Zeit und ihrer Vergänglichkeit hin, das im Wandel der Stadt sichtbar wird. Der zweite Gedichtteil mit seinen Klagen und mitfühlenden Vorstellungen des Ichs ist dagegen einheitlich in ein und demselben Tempus (Präsens) abgefasst.

Nun muss man wissen, dass die Vergänglichkeit der Zeit für Baudelaire ein obsessiver und Melancholie auslösender Gedanke war, den er in zahlreichen Gedichten und Äußerungen bekundet hat. Etwa in dem Gedicht L’Ennemi (Fleurs du mal X), V. 12:

Ô douleur, ô douleur! Le Temps mange la vie […]

in L’Horloge (Fleurs du mal LXXXV), V. 17f.:

Souviens-toi que le Temps est un joueur avide

Qui gagne sans tricher […]

oder in Le Voyage (Fleurs du mal CXXVI), V. 115f.:

[…] l’ennemi vigilant et funeste,

Le Temps!

Ausführlich auch in dem Prosagedicht La Chambre double nach dem Umschlagen der Ekstase in ihr Gegenteil und der Rückkehr ins irdische „habitacle de fange“:

Oh! oui! le Temps a reparu; le Temps règne en souverain maintenant; et avec le hideux vieillard est revenu tout son démoniaque cortège de Souvenirs, de Regrets, de Spasmes, de Peurs, d’Angoisses, de Cauchemars, de Colères et de Névroses.

Je vous assure que les secondes maintenant sont fortement et solennellement accentuées, et chacune, en jaillissant de la pendule, dit: – „Je suis la Vie, l’insupportable, l’implacable Vie!“3

Das Bewusstsein von Zeit und Vergänglichkeit versetzt Baudelaire offensichtlich in die melancholische Stimmung, die nach seinem Selbstverständnis die zum Dichten erforderliche Seelenlage ist. Und so führt ihn in Le Cygne der Gang durch das sich wandelnde Paris, wo die geliebten Erinnerungen „schwerer als Felsen“ sind, über die Melancholie unversehens in den Zustand des poetischen Enthusiasmus, in dem „alles zur Allegorie wird“.

Über den Vorgang der ‚Allegorisierung‘ hat Baudelaire sich allgemein im Poème du hachisch geäußert. Dort ordnet er ihn der zweiten Phase des Ha­schisch­rausches zu, wenn alle Sinne aufs äußerste geschärft sind und die Halluzinationen einsetzen, wenn die Gegenstände sich verformen und verwandeln und es zu Verwechslungen und gedanklichen Übertragungen bis hin zur Identifikation mit Dingen der Umgebung kommt4. Beim „homme sensible moderne“ steigert sich in dieser Phase der angeborene ästhetische Sinn, Formen und Farben gewinnen eine ungewöhnliche Energie und Intensität und alles um ihn herum wird lebendig und kommuniziert mit ihm, und der erstbeste Gegenstand, den er vor Augen hat, wird zum Symbol, das ihn die Tiefe des Lebens schauen lässt5. Dabei offenbaren sich ihm die vielfältigen Bedeutungen und Beziehungen der Dinge untereinander und sein Sinn für die Allegorie nimmt ungeahnte Ausmaße an:

L’intelligence de l’allégorie prend en vous des proportions à vous-même inconnues; nous noterons en passant que l’allégorie, ce genre si spirituel, que les peintres mal­adroits nous ont accoutumés à mépriser, mais qui est vraiment l’une des formes primitives et les plus naturelles de la poésie, reprend sa domination legitime dans l’intelligence illuminée par l’ivresse. Le hachisch s’étend alors sur toute la vie comme un vernis magique; il la colore en solennité et en éclaire toute la profondeur. Paysages dentelés, horizons fuyants, perspectives de villes blanchies par la lividité cadavéreuse de l’orage, ou illuminées par les ardeurs concentrées des soleils couchants, – profondeur de l’espace, allégorie de la profondeur du temps, – la danse, le geste ou la déclamation des comédiens, si vous vous êtes jeté dans un théâtre, – la première phrase venue, si vos yeux tombent sur un livre, – tout enfin, l’universalité des êtres se dresse devant vous avec une gloire nouvelle non soupçonnée jusqu’alors. (S. 430f.)

Dieses „bouillonnement d’imagination“ und „enfantement poétique“6 eines durch den Haschisch- oder Opiumrausch erleuchteten Geistes erreicht der Dichter im Enthusiasmus, sei es aufgrund ausdauernder Arbeit und Kontemplation, Willenskraft und guten Vorsatzes7, sei es, wie in Le Cygne, aufgrund des melancholischen Blicks auf die sich wandelnde Stadt. Daher werden die neuen Paläste, die Baugerüste und Steinblöcke und die alten Faubourgs für Baudelaires Ich zu Allegorien der „profondeur du temps“, und zum „sprechenden Symbol“ dieses melancholischen Stadterlebnisses wird ihm das bedrückende Bild des Schwans vor dem Louvre: „Aussi devant ce Louvre une image m’opprime“.

Das Bild des Schwans ist von großer poetischer Tiefe. Als erstes steht es für das real gesehene Erinnerungsbild auf dem Carrousel. Dazu kommt, dass der erinnerte Schwan vom Ich als ein Alter Ego verstanden wird. Denn als „homme sensible“ kann das enthusiastische Ich die tieferen Gründe eines alltäglichen Schauspiels vor seinen Augen verstehen:

La sinuosité des lignes est un langage définitivement clair où vous lisez l’agitation et le désir des âmes.8

So liest es aus den „gestes fous“ des Tiers dessen Sehnsucht nach seinem „beau lac natal“, den Ruf nach Regen und Blitz und die Anklage gegen das Schicksal heraus und sieht darin ein Abbild seiner eigenen Trauer über den Verlust des alten Paris. Das ist nicht zuletzt deshalb naheliegend, weil der Schwan seit der Antike ein Sinnbild des Dichters ist und sein Gesang gern als Klage gedeutet wird9. Jean Starobinski, für den Le Cygne ein „großes Gedicht der Melancholie“ ist, hat gezeigt, dass der klagende Schwan auch in der ikonographischen Tradition der Melancholie seinen Platz hat und zwar in einer Darstellung des melancholischen Temperaments bei Virgil Solis10. Dieser melancholisch-klagende Schwan nun wendet in Le Cygne „comme l’homme d’Ovide“ – gleich dem Menschen in Ovids Metamorphosen11 – seinen Blick zum mitleidlosen und grausam blauen Himmel, so dass es scheint, als ob er der Gottheit Vorwürfe mache. Damit projiziert Baudelaire außer der Trauerklage über den Verlust des alten Paris auch seine ‚satanischen‘ Überzeugungen von Auflehnung und Revolte auf den Schwan und macht ihn zum Ausdruck seines ganz persönlichen Dichterbildes12.

Schließlich ist der Schwan in Le Cygne auch ein „symbole parlant“, in dem sich dem Ich die Fülle des ekstatischen Erlebens offenbart. Baudelaire verwendet das Wort „symbole“ gewöhnlich im Wechsel mit ähnlichen Begriffen, etwa „allégorie“, die er nicht scharf voneinander abgrenzt13. Hier steht „image“ für das Symbol, und der „mythe étrange et fatal“ des Schwans symbolisiert dem Ich die „universalité des êtres“, die Gesamtheit aller Menschen, die an einem großen Verlust leiden. Warum Baudelaire diese Stellvertreterrolle einem Tier zugeschrieben hat, hat er gegenüber Victor Hugo damit begründet, dass der Mensch am Tier das Leiden der Kreatur in einer besonders nachdrücklichen Form erlebe:

[…] la vue d’un animal souffrant pousse l’esprit vers tous les êtres que nous aimons, qui sont absents et qui souffrent, vers tous ceux qui sont privés de quelque chose d’irrétrouvable.14

Als erstes jener Wesen, die einen großen Verlust beklagen, ruft der Schwan dem Ich die mythologisch-poetische Figur der Andromaque in den Sinn. Das Bild der aus hohem Glück in tiefes Elend Gestürzten, die Liebe und Schutz eines edlen Gatten verloren hat und, vom stolzen Sieger dem Mitsklaven übereignet, nicht aufhört, am leeren Grabhügel Hectors zu trauern, kannte Baudelaire aus Racines Andromaque und aus deren Vorbild bei Vergil. Im dritten Buch der Aeneis berichtet Aeneas von seiner Begegnung mit Andromache, die „ante urbem in luco falsi Simoentis ad undam“ den Manen Hectors opferte (V. 302f.). Die Hexameterhälfte „falsi Simoentis ad undam“ hatte Baudelaire seinem Gedicht bei der Erstveröffentlichung in La Causerie vom 22. Januar 1860 als Motto vorangestellt, in den Fleurs du mal von 1861 ist sie jedoch gestrichen. Die Erklärung, dass dieses Vergil entnommene Motto den Leser von der Racine-Konnotation habe ablenken sollen, weil Racines Bild von Andromaque als Gattin und Mutter nicht dem „drame le plus personnel“ Baudelaires (der Wiederverheiratung der Mutter) entsprochen habe, greift zu kurz15. Vielmehr hat Baudelaire mit dem Motto auf die Nähe seiner Andromaque zur Andromache Vergils hingewiesen, die den Verlust von Gatten und Sohn „am falschen Simois“ mit Hilfe der Phantasie kompensiert und die in Ohnmacht fällt, als sie sich dort unvermittelt von trojanischen Männern umgeben sieht16. Die darin zum Vorschein kommende Kraft der Phantasie hat ihn offensichtlich fasziniert17. Racine dagegen hat in seinem Aeneis-Zitat gerade den Vers mit dem Hinweis „falsi Simoentis ad undam“ ausgelassen, weswegen wohl auch Baudelaire schließlich auf ihn verzichtet hat.

Die Figur der Andromaque setzt in Baudelaires poetischer Welt die Reihe der leidenden Frauen aus Les Petites Vieilles fort18, die alsbald noch um eine weitere Figur verlängert wird:

Je pense à la négresse, amaigrie et phtisique,

Piétinant dans la boue, et cherchant, l’œil hagard,

Les cocotiers absents de la superbe Afrique

Derrière la muraille immense du brouillard;

Auch die„négresse“, die mit verstörtem Blick nach den „cocotiers absents de la superbe Afrique“ Ausschau hält, ist literarisch vorgeprägt, nämlich in dem frühen Gedicht À une Indienne (1846), das Baudelaire 1857 überarbeitet und unter dem Titel À une Malabraise erneut publiziert hatte19. Darin ist sie in Afrika lebend vorgestellt, jetzt lebt sie im „Exil“ in der Fremde und sehnt sich nach der verlorenen Heimat zurück20. Bei den weiter folgenden Figuren wird der Begriff des Verlusts nach dem Prinzip der „correspondances“ und „analogies“21 erweitert und auf jedweden Verlust ausgedehnt: „[…] quiconque a perdu ce qui ne se retrouve / Jamais, jamais!“. Außerdem treten an die Stelle von Einzelnen nun Gruppen:

À quiconque a perdu ce qui ne se retrouve

Jamais, jamais! À ceux qui s’abreuvent de pleurs

Et tètent la Douleur comme une bonne louve!

Aux maigres orphelins séchant comme des fleurs!

Ainsi, dans la forêt où mon esprit s’exile

Un vieux Souvenir sonne à plein souffle du cor!

Je pense aux matelots oubliés dans une île,

Aux captifs, aux vaincus! … à bien d’autres encor!

Aus dem Bild derer, die an der Brust der „Douleur“ wie an einer „guten Löwin“ sich von Tränen nähren – mythologischer Archetyp ist das Zwillingspaar Romulus und Remus – entstehen im folgenden Vers die Waisen, die ohne die Liebe von Mutter und Vater „wie Blumen welken“. In der letzten Strophe folgen schiffbrüchige und vergessene Matrosen, Gefangene und Besiegte. Und die Schlusswendung „à bien d’autres encor!“ konnten zeitgenössische Leser auf Victor Hugo beziehen, der zu jener Zeit auf Guernsey im Exil lebte und dem das Gedicht gewidmet ist22. Wie der Schwan werden alle diese „malheureux“ und „exilés“ von rastlosen Sehnsüchten heimgesucht, an denen sie sich berauschen. Ausdrücklich gesagt ist das nur von Andromaque, die als Trauernde „in Ekstase“ an einem leeren Grab steht und daraus die „ungeheure Würde“ („[l]’immense majesté“, Str. 1) ihres Witwenschmerzes gewinnt:

Auprès d’un tombeau vide en extase courbée;23

Denn ohne Sehnsuchtsträume und Rausch ist das Leben unerträglich. Zum lebensnotwendigen Rausch kann nach Baudelaire aber alles verhelfen, die Gattenliebe, die Liebe zur Heimat, die Kunst und auch die Trauer, n’importe quoi, wie das kurze späte Prosagedicht Enivrez-vous! erklärt:

Enivrez-vous!

Il faut être toujours ivre. Tout est là: c’est l’unique question. Pour ne pas sentir l’horrible fardeau du Temps qui brise vos épaules et vous penche vers la terre, il faut vous enivrer sans trêve.

Mais de quoi? De vin, de poésie ou de vertu, à votre guise. Mais enivrez-vous. […]24

Das Vergilische Bild der Andromache „falsi Simoentis ad undam“, das in Le Cygne die „mémoire fertile“ des Ichs „befruchtet“ hat (V. 5), ist so nach dem Schwan das zweite Symbol des Gedichts, ein Symbol, das die Ekstase in der Trauer zum Ausdruck bringt.

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