Kitabı oku: «Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute», sayfa 6

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Nicht zu Unrecht hat man Le Peintre de la vie moderne, das bilder- und gedankenreiche Gegenstück zu Les Foules, als „le plus grand des poèmes en prose de Baudelaire“ bezeichnet28. Über Les Foules geht der Essay schon deshalb hinaus, weil in den einleitenden Kapiteln in bilderreicher Sprache und doch eindringlich Baudelaires Vorstellungen von der Ästhetik der „modernité“ dargelegt werden. Seiner Bedeutung tut es dabei keinen Abbruch, dass nach verbreiteter Überzeugung Guys als Künstler überschätzt wird29. Für Baudelaire war Guys eine Bestätigung für den künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt und daher Ansporn zum eigenen Handeln. Sein Werk lieferte ihm den Beweis, dass die Erfahrungen und Themen des großstädtischen Lebens es mit den herkömmlichen Erfahrungen und Themen der Kunst und Dichtung aufnehmen konnten.

2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Gedichten vor dem Spleen de Paris

In Les Foules und im Peintre de la vie moderne hat Baudelaire 1861 seine Vorstellungen zum Thema der Großstadt in Dichtung und Kunst in mehr oder weniger theoretischer Form festgehalten. Seit den 1840er Jahren hatte er sich aber immer wieder auch in regelrechten Gedichten mit dem Gegenstand befasst. An ihnen lässt sich der Prozess der dichterischen Themen- und Rollenfindung in der Großstadt nachvollziehen, der schließlich zur Erweiterung der Neuauflage seiner Fleurs du mal von 1861 um die Abteilung „Tableaux parisiens“ führen sollte1.

a) Le Vin des chiffonniers

Das erste Gedicht, in dem Baudelaire sich nachweislich an einem großstädtischen Sujet versucht hat, ist das Versgedicht Le Vin des chiffonniers. Das Gewerbe des Lumpensammelns hatte im Zuge des großstädtischen Wachstums bis zur Neuordnung der Abfallentsorgung gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine beträchtliche, auch ökonomische Bedeutung und der Lumpensammler war wegen seiner Zugehörigkeit zum Alltag der Großstadt in Parisschilderungen und Physiologien der Zeit ein beliebter pittoresker Gegenstand1. Während der Julimonarchie fand er als typische Elendsgestalt zudem großes Interesse in Kunst und Literatur, wo man ihn gern zu einer antibürgerlichen Symbolfigur stilisierte und in die Nähe des Philosophen („Diogenes“) oder des Dichters rückte2. Allen voran schenkten ihm die zeitgenössischen Karikaturisten, die „chroniqueurs de la pauvreté et de la petite vie“3, ihre Aufmerksamkeit. So hat Honoré Daumier das Kapitel „Les Débits de consolation“ der Tableau-Sammlung La Grande Ville mit der Darstellung eines Lumpensammlers illustriert, der, mit seiner typischen Kiepe am Ausschank stehend, eine Rede an die Anwesenden zu halten scheint4, und in der Physiologie du flâneur von Louis Huart zeigt eine weitere Illustration Daumiers einen sehr selbstbewusst auftretenden Lumpensammler5. Der begleitende Text spricht von „le flâneur prolétaire, le roi du pavé, le chiffonnier français“ und nennt den Lumpensammler einen „philosophe praticien qui vit gaiement au jour le jour, sans luxe, sans gêne, sans prétentions à la fortune, dégagé de tous préjugés, s’accommodant de tout ce que rejettent les autres, mangeant peu, buvant beaucoup […]“6. Als Charakteristika des Berufsstandes galten die nächtliche Tätigkeit und das soziale Außenseitertum, dazu Armut, Bedürfnislosigkeit und Freiheitsliebe. Von Anfang an gehörte auch die Trunkenheit dazu7.

Von Le Vin des chiffonniers gibt es neun Fassungen, so viele wie von keinem anderen Gedicht Baudelaires. Die älteste erhaltene findet sich in einem Manuskript, das um 1848 entstanden ist. Pichois setzt die Erstfassung nach Aussage von Baudelaires Freund Prarond um 1843 an8, was zum damaligen allgemeinen Interesse am Thema passt. Veröffentlicht wurde das Gedicht zuerst 1854 in der Bohème-Zeitschrift Jean Raisin, revue joyeuse et vinicole. Seit 1857 ist es in den Fleurs du mal das zweite Stück der Abteilung Le Vin (Nr. XCIV bzw. CV in der zweiten Auflage). Trotz vieler Änderungen im Detail ist das Grundkonzept in allen Überarbeitungen dasselbe geblieben. Hier der Wortlaut der endgültigen Fassung9:

Le Vin des chiffonniers

Souvent, à la clarté rouge d’un réverbère

Dont le vent bat la flamme et tourmente le verre,

Au cœur d’un vieux faubourg, labyrinthe fangeux

Où l’humanité grouille en ferments orageux,

On voit un chiffonnier qui vient, hochant la tête,

Butant, et se cognant aux murs comme un poète,

Et, sans prendre souci des mouchards, ses sujets,

Épanche tout son cœur en glorieux projets.

Il prête des serments, dicte des lois sublimes,

Terrasse les méchants, relève les victimes,

Et sous le firmament comme un dais suspendu

S’enivre des splendeurs de sa propre vertu.

Oui, ces gens harcelés de chagrins de ménage,

Moulus par le travail et tourmentés par l’âge,

Éreintés et pliant sous un tas de débris,

Vomissement confus de l’énorme Paris,

Reviennent, parfumés d’une odeur de futailles,

Suivis de compagnons, blanchis dans les batailles,

Dont la moustache pend comme les vieux drapeaux.

Les bannières, les fleurs et les arcs triomphaux

Se dressent devant eux, solennelle magie!

Et dans l’étourdissante et lumineuse orgie

Des clairons, du soleil, des cris et du tambour,

Ils apportent la gloire au peuple ivre d’amour!

C’est ainsi qu’à travers l’Humanité frivole

Le vin roule de l’or, éblouissant Pactole;

Par le gosier de l’homme il chante ses exploits

Et règne par ses dons ainsi que les vrais rois.

Pour noyer la rancœur et bercer l’indolence

De tous ces vieux maudits qui meurent en silence,

Dieu, touché de remords, avait fait le sommeil;

L’Homme ajouta le Vin, fils sacré du Soleil!

Im Mittelpunkt steht die Figur des Lumpensammlers, dessen bekannte Eigenschaften indirekt aufgerufen werden: die nächtliche Existenz durch das Motiv der flackernden Straßenlaterne, die Armut durch metonymischen Hinweis auf den häuslichen Ärger, das Mühselige und Erniedrigende der Arbeit durch das Bild des ekelerregenden, riesigen Abfallberges der Stadt („un tas de débris, / Vomissement confus de l’énorme Paris“, V. 16). Die städtische Umgebung ist knapp, aber auf bekannte Weise skizziert: „Au cœur d’un vieux faubourg, labyrinthe fangeux10 / Où l’humanité grouille en ferments orageux […]“. Die Betonung liegt ganz auf dem Rausch und den Phantasien der Lumpensammler.

Der in der zweiten Strophe durch die Straßen torkelnde Lumpensammler hält sich im Alkoholrausch für einen König, der weise Gesetze erlässt, die Bösen niederwirft und die Unschuldigen aufrichtet (V. 7ff.). Zu dieser Alkoholphantasie findet sich eine Parallele in de Kocks La Grande Ville: „il est très curieux d’entendre un chiffonnier à demi saoul vouloir fonder un nouveau gouvernement […]“11. Baudelaires Beschreibung des Betrunkenen ist nicht ohne Ironie, wenn er diesen mit einem Dichter vergleicht, der sich schwankend an den Mauern festhält (V. 6), oder ihn die Polizeispitzel des Faubourg als seine Untertanen phantasieren lässt („Et, sans prendre souci des mouchards, ses sujets“, V. 7). In der Erstfassung war an dieser Stelle von stammelnden Aufrufen an ein phantasiertes Regiment die Rede, wie der sterbende Napoleon sie von sich gegeben habe:

Un régiment se meut à ses regards trompés,

Et lui, jette aux échos des mots entrecoupés,

Tels que ceux que vaincu par la mort triomphante

L’Empereur exhalait de sa gorge expirante.12

Es folgten weiterhin „illusions“ und „étranges visions“ von Armeen und gewonnenen Schlachten, von lärmenden Triumphen und Festen, die sich zu nächtlicher Stunde in den Köpfen von Lumpensammlern abspielen:

Mais nul n’a jamais vu les hauts faits glorieux,

Les triomphes bruyants, les fêtes solemnelles [sic],

Qui s’allument alors au fond de leurs cervelles,

Plus belles que les Rois n’en rêveront jamais.

(V. 17ff.)

Auf die Ausmalung der heroischen Phantasien13 der Lumpensammler hat Baudelaire in den vielen Fassungen und Varianten große Aufmerksamkeit verwandt und sie zunehmend präzisiert. So steht in der Endfassung bruchlos die Vorstellung vom guten Herrscher neben derjenigen von Soldaten, die siegreich aus dem Feld heimkehren und im Triumph vom Volk umjubelt werden (V. 9–13 bzw. V. 17–24). Diese Phantasien sind in der Abhandlung Du vin et du hachisch von 1851 in einer Prosaversion zum grandiosen Auftritt eines einzigen Lumpensammlers zusammengefasst:

Il parle tout seul; il verse son âme dans l’air froid et ténébreux de la nuit. C’est un monologue splendide à faire prendre en pitié les tragédies les plus lyriques. „En avant! marche! division, tête, armée!“ Exactement comme Buonaparte agonisant à Sainte-Hélène! Il paraît que le numéro sept s’est changé en sceptre de fer, et le châle d’osier en manteau impérial. Maintenant il complimente son armée. La bataille est gagnée, mais la journée a été chaude. Il passe à cheval sous des arcs de triomphe. Son cœur est heureux. Il écoute avec délices les acclamations d’un monde enthousiaste. Tout à l’heure il va dicter un code supérieur à tous les codes connus. Il jure solennellement qu’il rendra ses peuples heureux. La misère et le vice ont disparu de l’humanité.14

Ebenda erklärt Baudelaire auch ihre kompensatorische Funktion:

J’ai quelquefois pensé avec terreur qu’il y avait des métiers qui ne comportaient aucune joie, des métiers sans plaisir, des fatigues sans soulagement, des douleurs sans compensation. Je me trompais. Voici un homme chargé de ramasser les débris d’une journée de la capitale. […] (Ebd.)

Der Kompensationsgedanke entspringt seiner Überzeugung, dass der Mensch darum bemüht ist, seinem irdischen „habitacle de fange“ – in diesem Fall ganz wörtlich dem „labyrinthe fangeux“ der Großstadt (V. 3 der Endfassung) – zu entfliehen, und dass ihm dazu jedes Mittel recht ist. Eines der Mittel ist der Wein, von dessen entsprechenden Leistungen Du vin et du hachisch handelt. Im zweiten Kapitel der Abhandlung ergreift der Wein selbst das Wort und stellt sich als Sorgenbrecher vor, der die graue Wirklichkeit erträglich macht, die Liebe und den Kampfesmut weckt und dem Menschen Flügel verleiht zum Dank dafür, dass dieser ihn mit seiner Hände Arbeit hervorgebracht habe. Auch dieser als „Gesang“ des Weins bezeichnete Teil des Kapitels ist die Prosaversion eines Gedichts aus der späteren Abteilung Le Vin in den Fleurs du mal, nämlich des vermutlich zur selben Zeit wie Le Vin des chiffonniers entstandenen Einleitungsgedichts L’Âme du vin15. Unmittelbar darauf folgt die Lumpensammlerepisode, die zeigen soll, wie der Wein unzähligen Menschen, deren Leiden der Schlaf nicht ausreichend zu mildern vermag, Erleichterung verschafft, indem er ihre Phantasien freisetzt:

Il y a sur la boule terrestre une foule innombrable, innomée, dont le sommeil n’endormirait pas suffisamment les souffrances. Le vin compose pour eux des chants et des poèmes. (S. 382)

Seine „chants“ und „poèmes“16 sind ein wohltätiges „intellektuelles Gold“, das er als neuer Fluss Paktolos statt des unheilvollen materiellen Goldes des Königs Midas der Menschheit bringt:

[…] le vin, comme un Pactole nouveau, roule à travers l’humanité languissante un or intellectuel. Comme les bons rois, il règne par ses services et chante ses exploits par le gosier de ses sujets.17

Das Bild des Midasgoldes ist seit 1854 auch in das Versgedicht aufgenommen und in dessen vorletzter Strophe ausgeführt. Die letzte Strophe preist seit 1857 den Wein nicht mehr als Werk des Schöpfers, sondern als ein Werk des Menschen: „L’Homme ajouta le Vin, fils sacré du Soleil!“ (V. 32).

Baudelaire hat das populäre Motiv des Lumpensammlers18 wohl vor allem wegen seiner Nähe zum Thema des Rausches ausgewählt. Von diesem vorrangigen Interesse zeugen weitere Gedichte der Abteilung Le Vin, die um dieselbe Zeit entstanden sind19, und natürlich die rauschhaften Vorstellungen des Gedichts selbst, die auf ekstatische Zustände vorausweisen, die in seinen späteren Werken wiederkehren: so gehört die Herrscherphantasie der Endfassung zu den in Les Foules angesprochenen Glückszuständen („mystérieuses ivresses“) der „fondateurs de colonies“ und „pasteurs de peuples“, und die Phantasie vom heimkehrenden Heereszug nimmt das in Ekstase marschierende Regiment im Peintre de la vie moderne vorweg. Durch den Vergleich des torkelnden und sich an Häusermauern abstützenden Lumpensammlers mit einem Dichter, der Verse skandierend und Reime suchend, also in einem Zustand poetischer Entrückung, durch die Straßen irrt, kommt auch der grundsätzlich ähnliche Entrückungszustand des Dichters ins Spiel20, der aber noch eine Randbeobachtung im Stil der gern gezogenen Parallele zwischen Lumpensammler und Dichter21 bleibt. Für ein aktiveres Auftreten des Dichters hatte Baudelaire zu diesem Zeitpunkt noch kein zufriedenstellendes Konzept. Der sich einfühlende Beobachter aus Les Foules, der aus Hingabe an das „imprévu qui se montre“ und an „toutes les professions, toutes les joies et toutes les misères“ der Großstadt sich in den Lumpensammler hineinversetzen und daraus eine „singulière ivresse“ hätte ziehen können, war noch in weiter Ferne, und der nur dem Augenblick hingegebene Flaneur schien ihm offensichtlich nicht angemessen, obwohl er dessen Beobachterrolle im zweiten Kapitel von Du vin et du hachisch in der Erzählung von den zwei Betrunkenen selbst eingenommen hatte22. Grund dafür war möglicherweise, dass er im Lumpensammler von Anfang an einen „malheureux“ und damit einen Beobachtungsgegenstand für den empathischen Dichter sah23. So bleibt die Wahrnehmungsinstanz im Vin des chiffonniers ein zurückgenommenes, verallgemeinerndes „on“: „Souvent […] / […] / On voit […]“ (V. 1 bzw. 5) und es tritt kein lyrisches Dichter-Ich auf. Die Phantasien sind die eines Lumpensammlers, nicht die eines Dichters. Ursprünglich lautete der Titel des Gedichts denn auch ganz unverblümt L’Ivresse du chiffonnier24. Die spätere metonymische Titelversion ist den übrigen Gedichten der Abteilung Le Vin angepasst.

Zwar ist die Evokation der Großstadt in der ersten Strophe von Le Vin des chiffonniers im Laufe der Korrekturen prägnanter und dramatischer geworden, aber da sie nur den pittoresken Hintergrund der dargestellten Phantasien abgibt und sie nicht selbst auslöst, behält das Gedicht auch in der um die Tableaux parisiens erweiterten zweiten Auflage der Fleurs du mal zu Recht seinen ursprünglichen Platz in der Abteilung Le Vin.

b) Die Crépuscule-Gedichte

Bei seinem nächsten Versuch greift Baudelaire ein Thema der Naturlyrik auf und überträgt es in eine städtische Umgebung. Das so entstandene Gedicht Le Crépuscule du matin soll er bereits 1843 im Freundeskreis vorgetragen haben1. Erstmals veröffentlicht wurde es zusammen mit seinem später entstandenen Pendant Le Crépuscule du soir in der Semaine théâtrale vom 1. Februar 1852, wo beide Gedichte unter dem gemeinsamen Obertitel Les Deux Crépuscules fir­mierten. In einem Manuskript, das Baudelaire kurz zuvor für eine – dann nicht zustandegekommene – Veröffentlichung in der Revue de Paris an Gautier geschickt hatte, lauteten die Titel Les Deux Crépuscules de la grande Ville / Le Matin / Le Soir, woraus die zugrundeliegende Absicht sehr deutlich zu ersehen ist2. Hier zunächst das ältere der beiden Gedichte:

Le Crépuscule du matin

La diane chantait dans les cours des casernes,

Et le vent du matin soufflait sur les lanternes.

C’était l’heure où l’essaim des rêves malfaisants

Tord sur leurs oreillers les bruns adolescents;

Où, comme un œil sanglant qui palpite et qui bouge,

La lampe sur le jour fait une tache rouge;

Où l’âme, sous le poids du corps revêche et lourd,

Imite les combats de la lampe et du jour.

Comme un visage en pleurs que les brises essuient,

L’air est plein du frisson des choses qui s’enfuient,

Et l’homme est las d’écrire et la femme d’aimer.

Les maisons çà et là commençaient à fumer.

Les femmes de plaisir, la paupière livide,

Bouche ouverte, dormaient de leur sommeil stupide;

Les pauvresses, traînant leurs seins maigres et froids,

Soufflaient sur leurs tisons et soufflaient sur leurs doigts.

C’était l’heure où parmi le froid et la lésine

S’aggravent les douleurs des femmes en gésine;

Comme un sanglot coupé par un sang écumeux

Le chant du coq au loin déchirait l’air brumeux;

Une mer de brouillards baignait les édifices,

Et les agonisants dans le fonds des hospices

Poussaient leur dernier râle en hoquets inégaux.

Les débauchés rentraient, brisés par leurs travaux.

L’aurore grelottante en robe rose et verte

S’avançait lentement sur la Seine déserte,

Et le sombre Paris, en se frottant les yeux,

Empoignait ses outils, vieillard laborieux.3

Das Gedicht ist eine reine Beschreibung im Imperfekt, das nur an zwei Stellen von einem ebenfalls beschreibenden Präsens unterbrochen wird. Gedichte im Vergangenheitstempus sind bei Baudelaire selten. Entweder wird in diesen Fällen das Vergangenheitstempus im Verlaufe des Gedichts in ein Gegenwartstempus überführt (À une passante) oder es ist durch das sprechende Ich von Anfang an lyrisch eingeholt (Rêve parisien, Un Voyage à Cythère). Nur in Don Juan aux enfers gibt es weder den Tempuswechsel noch ein lyrisches Ich; hier handelt es sich um eine durch Bilder inspirierte Beschreibung, weniger um die Nacherzählung eines Mythos.

Die Beschreibung des anbrechenden Morgens in der Stadt ist von bunter und kunstvoller Vielfalt. Sie beginnt mit einem akustischen Phänomen, dem militärischen Morgenruf, dem bald der natürliche Morgenruf des Hahnenschreis folgt (V. 20), der im 19. Jahrhundert auch in einer großen Stadt zweifellos noch zu hören war. Dazwischen werden morgendliche Vorkommnisse ausgebreitet, die das Auge wahrnimmt, äußere sowie nicht ohne weiteres zugängliche innere. Bei den äußeren wechseln sich natürliche Phänomene („le vent du matin“, „Une mer de brouillards“) mit städtisch-zivilisatorischen ab („La lampe“, „Les maisons“), wobei die natürlichen Phänomene auf die städtischen bezogen sind, so der Wind, der die Laternen flackern macht, und der Nebel, der um die Häuser wabert. Die in Interieurs angesiedelten Vorkommnisse betreffen menschliche Aktivitäten auf der Grenze zwischen Nacht und Tag („l’essaim des rêves malfaisants / Tord sur leurs oreillers les bruns adolescents“, „Les femmes de plaisir […] dormaient de leur sommeil stupide“, „Les pauvresses […] / Soufflaient sur leurs tisons et soufflaient sur leurs doigts“, „Les débauchés rentraient“). Auch die Nachtarbeit des Dichters, der müde auf die im aufgehenden Tageslicht verblassende Lampe blickt, kommt zu ihrem Ende, während seine Seele noch mit dem widerstrebenden Körper ringt und die Dinge, die zu schreiben er bemüht war, ihm zitternd in die kühle Morgenluft entfliehen4. Gedacht wird auch der Frauen, die der Liebe müde werden, anderer, die in Geburtsnöten stärkere Schmerzen leiden, und schließlich der Sterbenden, die in den Hospitälern ihren letzten Atem aushauchen. Diese Vielzahl von Vorgängen und die durch sie evozierten menschlichen Schicksale stellen einen Querschnitt durch die Tausende von Existenzen in einer großen Stadt dar, die Baudelaire im Salon de 1846 als potentiellen Gegenstand einer modernen Dichtung gepriesen hatte. Der Reiz der morgendlichen Stimmung wird von ihm also in den Menschen der Großstadt und ihrem Tun und Leiden gesucht5, wobei die Mühseligen und Beladenen überwiegen, was angesichts seines Schönheitsideals nicht erstaunt, aber auch wie schon die „malheureux“ der frühen Fassung des Vin des chiffonniers die soziale Tendenz der Endvierziger spiegeln mag. Am Ende des Gedichts werden Natur und Stadt ganz im Sinne dieses gebrochenen Menschenbildes personifiziert: die Natur in Gestalt der fröstelnden Morgenröte, Paris in der Allegorie eines düsteren Alten, der sich schlaftrunken für die Arbeit des neuen Tages rüstet6.

Le Crépuscule du matin ist der Versuch, ein Naturthema in der Großstadt anzusiedeln. Für das dabei angewandte beschreibende Verfahren hat Antoine Adam auf den Einfluss der „poètes descriptifs de l’époque de Louis XIII“ hingewiesen, bei denen Baudelaire zur Entstehungszeit des Gedichts öfter Themenanleihen gemacht habe, um sie in moderner Manier zu behandeln, „mais avec quelques touches qui rappellent ces vieux poètes et donnent à sa composition une saveur curieuse“7. Tatsächlich findet sich bei Théophile de Viau eine Ode mit dem Titel Le Matin, die eine ähnliche Beschreibung morgendlicher Phänomene enthält8. Auf das Geschehen am Morgenhimmel folgt dort das Erwachen der Natur im Wechsel mit morgendlichen Aktivitäten von Menschen, und es ist auch die Rede von einer vor dem Tageslicht verblassenden Lampe („Cette chandelle semble morte, / Le jour la fait évanouir“; V. 57f.). Allerdings handelt es sich bei Viau um einen Morgen in ländlicher Umgebung mit bukolischem bzw. bäuerlichem Personen- und Sachinventar9, wo der Beginn der lärmenden Tagesaktivitäten die Ruhe und das Schweigen der Nacht ablöst. Ganz anders der Lebensrhythmus der Großstadt in Le Crépuscule du matin, der die strikte Trennung und die hergebrachte Verteilung von Arbeit und Schlaf auf Tag und Nacht nicht mehr kennt. Hier bringt der Morgen für viele Menschen das Ende ihrer nächtlichen Aktivitäten, ja die morgendliche Erschöpfung scheint für die Stadt charakteristischer zu sein als das beginnende Tagewerk des „Alten“, in dem am Ende die ganze Stadt Paris allegorisch zusammengefasst wird.

In Théophile de Viaus Ode wird die Beschreibung am Ende in eine knappe Schäferszene überführt, in der der eben erwachte Beobachter und Sprecher sich an die Geliebte wendet:

Il est jour: levons-nous, Philis;

Allons à notre jardinage,

Voir s’il est, comme ton visage,

Semé de roses et de lys.10

Damit ist die Morgenbeschreibung in eine für den damaligen Leser verständliche Situation eingebettet. Baudelaire stand eine solche Lösung für seine morgendliche Stadtszene nicht mehr zur Verfügung, die im Übrigen auch nicht zu seiner Schilderung der städtischen „malheureux“ gepasst hätte. Wie im Vin des chiffonniers hatte er aber noch keine andere Lösung zur Hand. Deshalb bleibt die Beobachterposition abstrakt und ist nur an der wechselnden Perspektive des bald über die Häuser hinweggleitenden, bald in deren Inneres eindringenden Blicks zu erkennen, sowie an den beiden Präsens-Einschüben („C’était l’heure où …“, V. 3 und V. 17), die den Augenblick des heraufkommenden Morgens präzisieren. Diesen Einschüben ist aber keinerlei Information zu entnehmen, die das Bewusstsein eines Ichs und seine eventuelle ‚Morgenstimmung‘ beträfe, weshalb das Bild des in der großen Stadt anbrechenden Morgens ganz emotionslos vermittelt wird. Stierle hat darauf hingewiesen, dass das Gedicht „nicht ein einfaches Innesein der Stadt, sondern die Erinnerung an ein Innesein“ zeige11. Doch auch die „Erinnerung“ ist nicht fruchtbar gemacht, zumal der Dichter selbst Gegenstand der Beobachtung geworden ist. Diese Abwesenheit eines emotional beteiligten Ichs könnte zu dem ungewöhnlichen Tempusgebrauch des Gedichts beigetragen haben, da das distanziert beschreibende Imperfekt leichter auf ein lyrisches Ich verzichten konnte als ein Gegenwartstempus12. Insgesamt stellt das Gedicht somit einen problematischen Versuch dar, ein der Bukolik entnommenes Schema für ein Stadtbild mit ‚realistischen‘ Elementen zu übernehmen.

Ganz anders präsentiert sich das jüngere Le Crépuscule du soir, in dem ein lyrisches Ich den einbrechenden Abend in der großen Stadt erlebt:

Le Crépuscule du soir

Voici le soir charmant, ami du criminel;

Il vient comme un complice, à pas de loup; le ciel

Se ferme lentement comme une grande alcôve,

Et l’homme impatient se change en bête fauve.

Ô soir, aimable soir, désiré par celui

Dont les bras, sans mentir, peuvent dire: Aujourd’hui

Nous avons travaillé! – C’est le soir qui soulage

Les esprits que dévore une douleur sauvage,

Le savant obstiné dont le front s’alourdit,

Et l’ouvrier courbé qui regagne son lit.

Cependant des démons malsains dans l’atmosphère

S’éveillent lourdement, comme des gens d’affaire,

Et cognent en volant les volets et l’auvent.

À travers les lueurs que tourmente le vent

La Prostitution s’allume dans les rues;

Comme une fourmilière elle ouvre ses issues;

Partout elle se fraye un occulte chemin,

Ainsi que l’ennemi qui tente un coup de main;

Elle remue au sein de la cité de fange

Comme un ver qui dérobe à l’Homme ce qu’il mange.

On entend çà et là les cuisines siffler,

Les théâtres glapir, les orchestres ronfler;

Les tables d’hôte, dont le jeu fait les délices,

S’emplissent de catins et d’escrocs, leurs complices,

Et les voleurs, qui n’ont ni trêve ni merci,

Vont bientôt commencer leur travail, eux aussi,

Et forcer doucement les portes et les caisses

Pour vivre quelques jours et vêtir leurs maîtresses.

Recueille-toi, mon âme, en ce grave moment,

Et ferme ton oreille à ce rugissement.

C’est l’heure où les douleurs des malades s’aigrissent!

La sombre Nuit les prend à la gorge; ils finissent

Leur destinée et vont vers le gouffre commun;

L’hôpital se remplit de leurs soupirs. – Plus d’un

Ne viendra plus chercher la soupe parfumée,

Au coin du feu, le soir, auprès d’une âme aimée.

Encore la plupart n’ont-ils jamais connu

La douceur du foyer et n’ont jamais vécu!13

Im ersten Absatz wird das Naturphänomen des hereinbrechenden Abends mit der Vorstellung des sich verdunkelnden Himmels aufgerufen, der sich „langsam schließt wie ein riesiger Alkoven“ (V. 2f.) – eine Vorstellung, die das übliche Vorgehen bei Vergleichen umkehrt, indem sie Natur durch Zivilisation veranschaulicht14. Weitere Naturphänomene werden nicht genannt, was für den zeitgenössischen Leser, der an romantische Bearbeitungen des Abendthemas gewöhnt war, höchst befremdlich gewesen sein muss. Die Darstellung einer Abendsituation in der Großstadt verlangte aber an Stelle von Naturbeschreibungen in erster Linie die Beschreibung des abendlichen und nächtlichen Tuns und Treibens von Menschen. Dafür hat Baudelaire sich, wie es scheint, grundsätzliche Anregung bei Joseph de Maistre geholt, insbesondere in dessen Soirées de Saint-Pétersbourg. Pichois hat aus diesem Grund die Entstehung des Gedichts um 1850/1851 angesetzt, als Baudelaire mit dem Werk von de Maistre näher bekannt wurde15.

Im „Septième Entretien“ der Soirées de Saint-Pétersbourg lässt de Maistre eine Gesprächsrunde des Längeren über die Notwendigkeit des Krieges, über Angst, Gebete und ihre historischen Formen sprechen16, bevor schließlich die hereinbrechende Nacht zum Anlass genommen wird, auch über diese zu reflektieren. Die Nacht, so argumentiert ein Teilnehmer, sei für den Menschen gefährlich und anziehend zugleich, weil sie eine natürliche Helfershelferin des Lasters sei und mit dieser Willfährigkeit uns alle verführen könne:

[…] la nuit est dangereuse pour l’homme, et sans nous en apercevoir nous l’aimons tous un peu parce qu’elle nous met à l’aise. La nuit est une complice naturelle constamment à l’ordre de tous les vices, et cette complaisance séduisante fait qu’en général nous valons tous moins la nuit que le jour.17

Dagegen wendet ein Anderer ein, dass die Nacht auch ihre guten Seiten habe, da sie der Meditation und der Ekstase förderlich sei:

Si la nuit donne de mauvais conseils […] il faut lui rendre justice, elle en donne aussi d’excellents: c’est l’époque des profondes méditations et des sublimes ravissements […] (S. 72)

Das habe nach anderen Religionen auch das Christentum erkannt und sie für Zeremonien mit feierlicher musikalischer Begleitung genutzt. Es folgen darauf Zitate aus den Psalmen, in denen die Nacht als Zeit des Gebets, der Suche nach Gott, der Selbstbefragung, aber auch der Prüfung („Tu as éprouvé mon cœur en le visitant la nuit.“ Ps. 16, 3) charakterisiert wird, denn der physischen Natur des Menschen bekomme die Nacht nicht, wie im Übrigen das nächtliche Wüten der Krankheiten zeige:

L’air de la nuit ne vaut rien pour l’homme matériel; les animaux nous l’apprennent en s’abritant tous pour dormir. Nos maladies nous l’apprennent en sévissant toutes pendant la nuit. Pourquoi envoyez-vous le matin chez votre ami malade demander comment il a passé la nuit, plutôt que vous n’envoyez demander le soir comment il a passé la journée? Il faut bien que la nuit ait quelque chose de mauvais. (S. 75)

Schutz biete jedoch der Schlaf, der nach verbreitetem Glauben auch göttliche Mitteilungen im Traum begünstige.

Baudelaire übernimmt in Le Crépuscule du soir die ambivalente Vorstellung de Maistres von der Nacht, wobei er Abend und Nacht fließend ineinander übergehen lässt. Er beginnt mit dem „bezaubernden Abend“, charakterisiert ihn aber unmittelbar darauf als Freund und Komplizen des Verbrechers und fügt – nach dem Alkoven-Bild – noch die Behauptung hinzu, dass der Mensch sich unter seinem Einfluss in ein wildes Tier verwandle. Das entspricht den einleitenden Feststellungen de Maistres über die Nacht und ihren Einfluss auf die menschliche Natur. In einem zweiten Anlauf wird der Abend dann als derjenige gepriesen, der Erleichterung von der Last des Tages bringt, und als Beispiele dafür werden der Gelehrte und der Arbeiter genannt („le savant obstiné“, „l’ouvrier courbé“, V. 9f.). Auch dieser positive Aspekt ist bei de Maistre vorgebildet, allerdings an anderer Stelle und in einem anderen, für de Maistre charakteristischen Zusammenhang, nämlich als Glücklichpreisung der Tugend und des Tugendhaften, der sich am Ende eines Tages keine Schuld vorzuwerfen hat:

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