Kitabı oku: «Medea», sayfa 3

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„Mein größter Fehler war es, die Regie über mein Leben aus der Hand zu geben und in die eisenharte Faust meiner Mutter zu legen.“ Amedeo setzt nachdenklich eine dunkle Sonnenbrille auf, als wolle er sich abschirmen, spricht leise weiter: „Die Opferrolle war bequem, ich konnte Margareta die Schuld meiner Miseren zuschieben, nur meinen Eigensinn, den habe ich mir bewahrt.“ „Menschen, die ihren Eigenwillen ersticken, werden eng und tatenlos“, bestärkt ihn Marielena etwas hilflos. Sie weiß nicht, wo das Gespräch hinführt und wie sie sich verhalten soll.

„Meine Mutter akzeptierte sinnlose Zwischenfälle oder Vergnügen, die man hin und wieder braucht, nicht. Sinnlosigkeit ist wie Champagner, kreativ und bejahend.“ Marielena erträgt mit Duldungsstarre seine Bekenntnisse, ahnt immer noch nicht, was das soll. „Es ist Margaretas Eigenart, ich kann sie nicht ändern – man kann aus einer Distel keine Rose machen.“ Amedeo wirkt jetzt eingefallen, wächsern, fast versteinert. Er flüstert: „Meine Art zu leben hat mich zerstört.“ Plötzlich artikuliert er undeutlich, bringt die Sätze durcheinander, es klingt anders als zuvor. Mit aufeinandergepressten Lippen schaut er verzweifelt Marielena an, bringt mühsam hervor: „Ich bin HIV-infiziert!“ Marielena ringt um Fassung. Alles hat sie erwartet, aber das nicht.

„Ich wollte Freude am Leben und guten Sex haben. Es war eine Episode einer unvergesslichen Nacht, mit viel zu viel Champagner. Jedoch mit dem falschen Kerl“, beendet er das Geständnis.

Marielena könnte jetzt einwenden, es gibt sehr gute Vorkehrungen, die lebenswichtig- und erhaltend sind. Nur – würde das etwas ändern oder gar ungeschehen machen? Nein! Sie schweigt. Es ist zu spät, um ihm Ratschläge oder gar Belehrungen zu erteilen.

Amedeo wird jetzt sachlich: „Ein langjähriger Freund in Madrid ist der Arzt meines Vertrauens, er hat sehr schnell den Virus nachgewiesen.“ Marielena vermutet: Amedeo verlegte die ärztliche Behandlung nach Spanien, um so einer medialen Verbreitung in Italien zu entgehen.

Fast beschwörend betont er, dass er einen Cocktail mit antiviralen Stoffen täglich einnimmt, um den Erreger aufzuhalten. Er erhebt sich, greift vom Regal ein Fläschchen mit einer Kanüle und holt eine für ihn vorgesehene Portion der Flüssigkeit heraus und nimmt sie oral ein.

„Stell dir vor Marielena, es gibt Menschen, die mit der Infektion schon mehr als zwanzig Jahre leben“, tröstet er sich selbst. „Ich werde mein Leben neu ordnen müssen“, betont er optimistisch. „Die Götter bitte ich um eine Änderung, um ein Ende meiner Mühen, so steht es, glaube ich, bei Agamemnon in der Orestie.“ Amedeo geht jetzt wie ein Tier im Käfig auf und ab. Marielena folgt ihm mit den Augen.

„Bisher ging alles gut. Doch seit einiger Zeit fühle ich mich elend, es muss etwas geschehen. Deshalb habe ich beschlossen, in den nächsten Wochen eine Kur in Florida zu beginnen. Marielena, wenn nur die Angst nicht wäre, sie ist mein ständiger Begleiter“, seufzt er. „Zum Glück bin ich lebensbejahend, ich glaube, selbst kurz vor dem Abgrund lässt sich so manche Karre noch aus dem Dreck ziehen.“ Er setzt sich neben Marielena, sie ergreift seine Hand, Tränen treten ihm in die Augen: „Marielena, ich will die Konfrontation mit dem Gevatter aufnehmen – will leben.“ Eine innere Kraft scheint seinen Erhaltungstrieb anzustacheln, stellt sie beruhigt fest. Amedeo legt seinen Kopf auf Marielenas Schulter: „Um mein Leben verlängern zu können, würde ich selbst mit dem Herrn der Finsternis einen Pakt schließen.“ Marielena nickt skeptisch: „Wenn man mit diesem Gesellen pokert, mein Lieber, lassen einen die bösen Geister nie mehr los.“ „In meinem Kopf gibt es eine Liste von Dingen, die ich noch vorhabe, bevor ich abtrete“, betont er wie ein trotziges Kind. „Ich werde mein Leben total verändern, auf den Kopf stellen und meiner despotischen Mutter die Stirn bieten.“ Marielena erhebt sich, es ist spät geworden, sie muss nach Hause.

Silvio wartet sicher schon auf sie. „Du kannst beruhigt sein“, versichert sie ihm, „dieses Gespräch bleibt unter uns.“ Amedeo schaut sie wehmütig an: „Darum hätte ich dich nie gebeten, ich fühle, dass ich mich auf dich verlassen kann.“

Marielena ist froh, endlich allein zu sein. Sie geht zum Strand. Die Sonne versinkt am Horizont. In einem Liegestuhl lässt sie sich nieder.

Die Geister in ihrem Kopf plagen sie. Jetzt nach Hause gehen und lächeln, so, als wäre nichts geschehen? Wie ich das hasse! Unerwartet steht Silvio vor ihr, holt sie heraus aus den trüben Gedanken und dem Liegestuhl. Jetzt weiß sie, was ihr gefehlt hat – seine Nähe.

Maria, die Wirtschafterin der Amatos, hätte beim Einkaufen Marielena in Begleitung von Amedeo gesehen. Daher wusste Silvio, wo er sie suchen musste. Wenn nicht bei Amedeo – dann mit Gewissheit am Strand. Denn Marielena ist una ragazza di mare. Sie liebt das Meer.

Silvio nimmt ihr erschöpftes Gesicht in seine Hände. Marielena schmiegt sich an ihn, seine Nähe ist beruhigend. Ihre Augen sind umflort, das Lächeln verkrampft. Sie holt tief Luft, um nicht losheulen zu müssen, kneift die Augen zu, als müsse sie angestrengt nachdenken. Silvio hält sich zurück, wartet ab, was kommt. Sekunden vergehen, dann fragt er nach: „Möchtest du mir erzählen, was du erlebt hast?“ Marielena schüttelt nur traurig den Kopf. Wie tröstet man jemanden, wenn man nicht fragen darf, was ihn bedrückt, resigniert er. Der Nachmittag muss für sie nicht angenehm gewesen sein. Ich werde sie nicht mit meinen Fragen belasten. Im richtigen Moment wird sie mir alles erzählen.

Das hat sicher etwas mit Amedeo zu tun. Seit seiner Jugend muss ich ihn entweder verteidigen oder beschützen. Was mag jetzt wieder los sein, grübelt Silvio beunruhigt.

Marielena spürt Silvios Anteilnahme – auch seine Wissbegierde.

Irgendwann, befürchtet sie, muss ich ihm Amedeos Geheimnis beichten.

Silvio führt Marielena in einen entlegenen Winkel – wo Capri intim und am schönsten ist. Ein Platz, den die wenigsten Touristen kennen. Da sitzen alte Männer auf der Kaimauer, lassen die Beine baumeln und lesen in der Abendzeitung. Dort flicken Fischer ihre Netze. Aber auch solche gibt es, die nur dösend in die Abendröte blicken.

In einer Osteria, bei Wein und „frutti di mare“, kann Marielena sich allmählich entspannen.

Nach dem zweiten Glas findet sie: Er hat was! Silvios Anziehungskraft ist seine Zurückhaltung! Marielena lächelt ihn verliebt an. Silvio kennt diesen Blick, versucht erst gar nicht, in ihre Gedanken einzudringen.

Er ist froh, dass sie sich beruhigt hat.

Nach dem Essen gehen sie Arm in Arm nach Hause.

7.

In aller Herrgottsfrühe steht Marielena schon am Fenster. Der brodelnde Ätna ist immer wieder beeindruckend, aber auch einschüchternd. Über den Baumkronen hängen Nebelstreifen.

Das alljährliche Familienfest der Amatos hat Tradition. In der Villa herrschte heute früh schon ein lebhaftes Treiben, um nicht zu sagen Chaos. Gegen Mittag sind fast alle Gäste eingetroffen. Temperamentvoll erscheint Amedeo di Positano. Die metallbeschlagenen Schuhe sind nicht zu überhören. Das Jackett hängt leger über den Schultern, die Ärmel bewegen sich zeitgleich mit seinen Schritten. Der ungezwungene Auftritt des Maestro fordert die Damen zu einem überschwänglichen Applaus heraus. Die Präsidentin Margareta di Positano beginnt, Alba telefonisch über ihre Verspätung auf dem Laufenden zu halten.

Roberto unterhält die Gäste am Flügel. Alberto steht angelehnt am Piano; selbstvergessen schaut er auf die Hände des Freundes.

Alba nähert sich Marielena, legt den Arm um ihre Schulter, flüstert: „Bis jetzt ist das Fest ein Erfolg, meine Liebe. Doch frage ich mich, wie lange noch, bei dieser exzentrischen Gesellschaft.“ Marielena spricht beruhigend auf sie ein: „Pazienza Alba – hab Geduld, das Fest wird ein Erfolg.“ Plötzlich geht ein Raunen durch die Gesellschaft. Die Gäste nehmen unbewusst Haltung an. Margareta di Positano schreitet förmlich auf Alba zu. Die Präsidentin bleibt vor den beiden Frauen stehen, nicht einmal ein kleines Zucken ist in ihrem Gesicht zu erkennen. Sie fordert augenfällig Marielena heraus, erwartet, dass die sich zurückzieht. Doch Marielena denkt nicht daran. Sie bleibt! Rüstet sich zum Gefecht mit Margareta di Positano.

Als die Präsidentin Marielenas dargebotene Hand nicht beachtet, kommt wie ein Blitz von hinten Amedeo aus dem Nichts, greift die verschmähte Hand und führt Marielena außer Reichweite der Damen. Amedeo sucht betreten nach Worten, das Benehmen seiner Mutter hat ihn unangenehm berührt, in Verlegenheit gebracht. „Mamma“, betont er traurig, „verirrt sich häufig in Arroganz.“ „Hat sie das nötig?“, fragt Marielena verwundert.

„Gier nach Geltung macht süchtig, und die Angst, zu versinken in der Bedeutungslosigkeit, kommt bei meiner Mutter hinzu.“ Im Salon steht wütend Alba Margareta gegenüber: „Margaret.., wenn du meiner zukünftigen Schwiegertochter nicht den nötigen Respekt entgegenbringen kannst“, weist Alba ihre Freundin aufgebracht zurecht, „möchte ich dich hier in meinem Haus nicht mehr sehen.“ Margareta und Alba sind seit ihrer Jugend unzertrennlich. Alba hat als Einzige die Courage, Margareta ins Gebet zu nehmen. Die Präsidentin zündet sich erregt ein Zigarillo an. Wischt unwirsch eine Strähne aus dem Gesicht. Erstaunt will sie von Alba wissen: „Seit wann gefällt dir Marielena Floris?“ „Oh, ja – ich weiß, was du meinst! Von Anbeginn konnte ich Marielena nicht ausstehen. Bis ich erkannte, wie sehr wir uns ähneln. Ich war davon überzeugt, dass Silvio, dank Marielena, sich zu sehr von mir abnabeln könne.“ Kurzweilig fand Margareta die jahrelange Hetze – das soll nun vorbei sein? Fassungslos schüttelt sie den Kopf.

„Marielena hat Humor, ist stark und unabhängig.“ „Und das ist alles?“, erwidert Margareta. „Das ist gut genug für deinen Sohn?“ „Für mich ist wichtig, dass Silvio sie sehr lieb hat und die beiden sich wunderbar ergänzen. So einfach, wie alle denken, ist Silvio nicht. Er hat seine Unarten.“ Alba bejaht im Geheimen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, Frieden mit Marielena zu schließen. Sie findet im Nachhinein, dass Eifersucht die dümmste Untugend ist. „Margaret... wenn du die gesellschaftliche Bedeutung von Marielena bemängelst, kann ich dich beruhigen. Ihr Vater war ein bekannter Anwalt, stammte aus einer angesehenen römischen Familie. Er hat seiner Tochter ein ausreichendes Vermögen hinterlassen – Marielena ist unabhängig.“ Die beiden Freundinnen gehen wieder nach draußen. Margareta di Positano muss Marielena akzeptieren, wenn sie ihre einzige Freundin, die ihr geblieben ist, nicht verlieren will.

Auf der großen Freitreppe sieht man auf einmal eine elegante Frau herunter schweben. Es ist der erste Eindruck, den man von Laura, Albas Tochter bekommt. Laura kommt mit einem sanften Lächeln die Treppe herab. Den Kopf hält sie schräg. Das Kostüm ist wie ihre Miene – brav.

Hinter ihr geht etwas nach vorne gebeugt Adolfo, er führt die beiden Kinder an der Hand. Adolfo war bisher immer der Mann im Licht. Zu Hause herrisch, in der Gesellschaft ein Macher. Laura nahm in all den Jahren ihrer Ehe alles fügsam hin. Doch in den letzten Monaten hat sie sich, in eine auffallend, selbstbewusste Frau verwandelt.

„Meine Schwester hat resigniert, will nur noch die zumutbaren Seiten an ihrem Mann sehen“, klärt Silvio Marielena auf.

„Also nur das, was sie unbedingt sehen will. Findest du das nicht schlimm?“ Silvio lacht: „Tesoro, du bist die letzte Romantikerin in diesen gefühllosen Zeiten“, flüstert er Marielena ironisch ins Ohr.

Es dämmert. Die Abendröte haucht Capri mehr Farbe als gewöhnlich ein. Über den Köpfen der Gäste spannt sich ein Schleier mit unzähligen Glühlämpchen, die von unsichtbarer Hand gesteuert wurden, als wolle der Himmel Funken sprühen.

Alba ist unruhig. Marielena fällt auf, dass sie etwas zu oft auf die Uhr schaut. Was macht Alba zu schaffen? Die Antwort kommt wie ein Wirbelwind herein gefegt – es ist Paula, die Jüngste der Familie Amato, die Alba beunruhigt. Unter dem zerfetzten langen Jeansrock schauen ungepflegte Militärstiefel hervor. Ein schwarzer Herrenhut ziert den Kopf, ungezähmte dunkle Locken wallen darunter hervor. Die kleinen Sommersprossen, die wie Sterne blitzen, lassen das geschminkte Gesicht sympathisch erscheinen. Das Oberarmtattoo ist nicht zu übersehen, es rundet Paulas Erscheinungsbild ab.

Alba ist einer Ohnmacht nahe, ihre Befürchtung hat sich bewahrheitet. Selbst heute, an so einem Tag, hält ihre jüngste Tochter sich nicht an gesellschaftliche Regeln. Marielena durchschaut Paula; die 18-Jährige rebelliert mal wieder gegen den Anpassungsdruck der Familie.

Die Präsidentin lächelt mit zusammengepressten Lippen, als hätte sie von den Zitronen genascht. „Was für eine dreiste Person“, flüstert sie hämisch zu Alba gewandt.

Silvio und Marielena können ihr Lachen nur schwer unterdrücken.

Nicht ganz ernst gemeint, fragt Silvio: „Versprichst du mir, dass wir keine Kinder bekommen wie Pauletta?“ „Unsere, hoffe ich, werden ganz genau so“, raunt sie ihm zu. „Denn erwachsen werden, bedeutet auch Auflehnung.“ Silvio drückt Marielena liebevoll an sich.

Mit kokettem Blick und einer Stimme so dunkel wie die Nacht erhebt Paula ihr Glas und ruft in die Menge: „Salute tutti“. Doch von einer Sekunde auf die andere ändert sich Paulas Minenspiel. Sie ist mit Silvio in Blickkontakt getreten und bemerkt sein spöttisches Grinsen. Abrupt verwandelt sie sich in ein junges, scheues Mädchen, geht auf Silvio zu, umarmt ihn, haucht verlegen mit kleinlauter Stimme: „Auguri, großer Bruder – viel Glück und Freude zu deinem Geburtstag.“ Paula blickt sich nun suchend in der Runde um. Der freie Tisch in der Mitte behagt ihr. Nach zwei Gläsern trägt sie bereits eine selig dusselige Miene zur Schau. Ein schmächtiger Junge mit verfilzten langen Zöpfen nähert sich Paula. Was er trägt, ist zwei Nummern zu groß. In seiner Unterlippe steckt ein Silberring. Ein Totenkopfanhänger baumelt verfehlt an der schmalen, unbehaarten Brust. Alfredo heißt der Bub. Er strahlt über das ganze Gesicht! Die mit Steinen besetzte Zahnspange blinkt und blitzt. Unaufgefordert setzt er sich neben Paula und schmiegt sich an sie.

Dio mio, wie die beiden da sitzen. Ob sie ein Paar sind? Was mache ich bloß in dieser Situation? Alfredo ist erst fünfzehn. Hinzu kommt, dass sein Vater einer meiner besten Kunden ist, geht es Alba aufgeschreckt durch den Kopf.

Inzwischen hat Alfredo nur noch Augen für Paula. Seine Finger befinden sich bereits unter ihrem Rock. Paula schaut traumverloren in die Luft, als wolle sie die Sterne zählen. Alfredos flinke Finger werden immer dreister und Paulas Lider immer schwerer. Nur mit Mühe kann sie der Erregung Herr werden. Paulas Benehmen bringt Alba aus dem Konzept, sie wendet sich entgeistert ab. Silvio nimmt sich der peinlichen Situation an, schickt Paula auf ihr Zimmer und verabschiedet sich unmissverständlich von Alfredo. Der Junge bewahrt Haltung, bedankt sich überschwänglich für die Einladung. Alles, was er sagt, klingt nett.

Die Gäste sind endlich gegangen, Alba atmet erleichtert auf. Der Letzte, der dabei ist zu gehen, ist Amedeo. „Zia Alba, bei keinem deiner Feste habe ich mich so amüsiert wie heute“, sagt er beim Verabschieden, übermütig. Alba winkt nur müde ab.

Silvio bringt Gläser und eine Flasche Prosecco. Erhebt stolz das Glas: „Mamma, das Fest war ein Erfolg.“ Alle stimmen ihm gut gelaunt zu. So einvernehmlich wie heute, denkt Marielena, habe ich diese exzentrische Familie noch nie erlebt.

Die Familie Amato und Marielena verlassen am nächsten Tag die Insel, kehren zurück in den Alltag, nach Rom.

8.

Der Himmel ist beständig blau. Es ist ein heißer Tag. Marielena trinkt an der Bar des Greco einen Cappuccino, sieht im Spiegel Amedeo näher kommen. Ohne sich umzudrehen, ruft sie ihm zu: „Ciao Amedeo.“ Amedeo di Positanos Atelier liegt an der spanischen Treppe. Er ist der Liebling der Piazza. Es gibt niemanden, der ihn hier nicht kennt und verehrt. Sie verabreden sich für den Abend, was Marielena behagt, denn Silvio ist bei seiner Mutter in Frascati. Marielena verabschiedet sich hastig von ihrem neuen Freund. Sie ist spät dran – die Besprechung mit Questore Russo, ihrem Chef, darf sie nicht versäumen. Der Cavaliere ist in letzter Zeit auffallend grimmig. Beharrt auf Leistung. Höchstleistung wohlgemerkt. Vor allem dann, wenn kein wichtiger Fall vorliegt. Respekt und Bodenhaftung sind unerlässlich für eine gute Zusammenarbeit mit ihm. Schätzt er jemanden, so hat der seine volle Unterstützung. Das ist zwar kein Freibrief, sagt aber aus, dass eine Anweisung im Ernstfalle auch mal missachtet werden darf. Marielena steht in seiner Gunst. Russo hat nicht nur eine hohe Meinung von der Kriminalpsychologin, sondern wirft auch gerne einen Blick auf die attraktive Frau. Zweifellos kann sie mit dieser Schwäche umgehen, nutzt sie hin und wieder für sich aus.

Reibereien beeinträchtigen heute die Harmonie unter den Kollegen. Es sind weit hergeholte Querelen. An dem blühenden Oleander im Garten der Questura geht jeder achtlos vorbei bei diesen extrem belastenden Temperaturen. Der einzige Kollege, der sinnvoll mit seiner Zeit umgeht, ist Jacques Weber. Er ist dabei ein Informantennetz aufzubauen, wie er es von Paris gewohnt war. Jacques neues Spielzeug ist eine Pantera, mit dem Motorrad ist er nachts gerne unterwegs. Ohne Zweifel kennt er das römische Nachtleben schon besser als die meisten P.J.E. Kollegen.

In der goldenen Stunde der Dämmerung leuchten Roms alte Gemäuer in einem romantischen Licht. Beim Überqueren der Piazza di Spagna sieht Marielena einen Jungen, der Arme und Beine langsam zur Musik, die nur er über die Kopfhörer hört, bewegt. Er ist kalkweiß geschminkt, seine traurigen Augen in dem maskenhaften Gesicht sind regungslos ins Nichts gerichtet. Die Umstehenden folgen gebannt der Pantomime. Marielena gefällt diese poetische Darbietung. Verweilt. Nach einigen Minuten muss sie sich schweren Herzens losreißen, wirft wohlwollend eine Münze in den dafür bereitgelegten Hut.

Marielena steigt die Stufen der Spanischen Treppe hinauf zum Hotel Hassler. Der Garten des Hotels ist der schönste von Rom. Sie setzt sich an einen der Tische und wartet auf Amedeo. Plötzlich blicken alle wie gebannt zum Eingang. „Ciao Amedeo“, tönt es von überall her. Erkannt zu werden, macht ihn sichtlich froh – die meinen ja mich, verraten seine Gesichtszüge. In der römischen Gesellschaft ist er gern gesehen. Amedeo di Positano ist der Saubermann der Modeszene – man sieht ihn immer ohne Begleitung. Skandalfrei! Zu den meisten Menschen hat er, um sich den Rücken frei zu halten, eine gesunde Distanz aufgebaut. Es ist ein Trugschluss, wenn alle glauben ihn zu kennen. Da er es versteht, einen geheimnisvollen Wall um sich herum zu legen.

Er setzt sich erschöpft zu Marielena. „Mein Leben, cara, muss einfacher werden.“ Auf diese Erleuchtung hin trinken sie etwas zu schnell eine Flasche Champagner.

Amedeo vertraut Marielena an: „So ab und an will ich mich amüsieren – Marielen…, heute ist so ein Tag.“

Was im Garten des Hassler begann, setzen sie vor den Toren Roms, in der Via Appia, fort. Via Appia Antica – die Königin der Straßen. Die Straße der alten Römer. Amedeo lenkt den Wagen auf einen Parkplatz. Es ist still. Zwischen den notdürftig angelegten Gehplatten wuchert meterhoch Unkraut. Der Mond steht rund und prall am Himmel und spendet, was soll er in der Nacht auch anderes machen, Licht.

Auf einem Stein sitzt ein Wachmann, der auf die großen Luxuskarossen aufpasst. Er kennt das lichtscheue Volk, das hier verkehrt, zur Genüge.

Die Via Appia ist von Gräbern gesäumt, es sind unterirdische Friedhöfe aus der Frühzeit des Christentums.

„Du willst doch nicht im Ernst in die Katakomben steigen?“, fragt Marielena entsetzt. Denn das Betreten der unterirdischen Gräber ist in der Nacht verboten.

Amedeo lacht: „In diesem Schattenreich herrscht das Gute wie das Böse. Aber keine Sorge, wir gehen nur in die Katakomben, die noch nicht der Öffentlichkeit zugänglich sind.“ „Das ist ja noch schlimmer als ich befürchtet habe“, murmelt Marielena. Sie ist fassungslos über das, was Amedeo ihr abverlangt.

Sie, eineAngestellte der Europol, soll sich auf gesetzeswidrigen Boden begeben? Amedeo setzt sich auf die Fronthaube seines Autos, versucht Marielena, für dieses Abenteuer zu begeistern – eine Eskapade mit unkalkulierbarem Ausgang. „Im Untergrund“, beginnt er, „den noch niemand so richtig erforscht hat, erblühte eine weitverzweigte Bleibe eines feudalen Klubs. Ein Kontakthof – so zu sagen.“ Marielena flüstert: „In der Tiefe der Katakomben sollte nur der Tod ansässig sein.“ Amedeo ignoriert ihren Einwand.

„Fiorello, ein Junge aus Mailand kam vor einigen Jahren nach Rom. Schon im Intercity begann seine Veränderung, er zupfte gekonnt seine Augenbrauen und rasierte sich die Beine. Als der Zug in Termini, dem Hauptbahnhof von Rom, zum Stehen kam, war Fiorello – Fiorella. Ein neuer Stern am Transvestiten-Himmel der Hauptstadt! Er eröffnete eine Imbissbude. Von dem ersten Geld finanzierte Fiorello diesen Club, hier unter der Erde.“ „Aber wie kam er ausgerechnet auf die Katakomben?“, fragt Marielena befremdet. Sie ist immer noch nicht bereit, in die Gräber unter der Erde zu steigen.

„Auf der Suche nach einem schrägen Ambiente kam ihm diese unfassbar gottverlassene Idee. Mit diesem irren Einfall zog er bald die römische Prominenz an. Der Untergrund Roms, die Katakomben, sind heute eine geheimnisvolle Lustmeile.“ „Mir scheint“, sagt Marielena, „Fiorello schreckt vor nichts zurück.“ „Ja, da hast du recht, keine Peinlichkeit ist ihm zu viel.“ In diesem Moment fährt eine Limousine vor. Ein augenbrauengepierctes Wesen in Minirock und Schuhen in atemberaubender Höhe steigt aus, stakst auf Amedeo zu. Das kann doch nur der zwielichtige Fiorello sein, denkt Marielena.

„Signor di Positano, welch ein Vergnügen, Sie mal wieder bei uns zu sehen“, erweist er Amedeo seine Reverenz.

Nachdem die Förmlichkeiten ausgetauscht sind, kann es Marielena nicht lassen, zu fragen, ob Fiorello diese unerlaubten Festivitäten nicht fürchte.

„Wie! Vor den Katakomben soll ich mich fürchten?“, wiederholt er, ihr ungläubig in die Augen sehend, tut so, als ob er nicht verstünde worauf sie hinaus will. „Warum sollte ich? Ich habe weder Angst vor den Toten noch vor den Obrigkeiten. Letztere sind meine Stammgäste.“ Fiorello geht ein paar Schritte, blickt zu Marielena zurück: „Die Hölle, meine Gute“, sagt er süffisant lächelnd, „ist den Lüsternen vorbehalten.“ „Doch der Höllenfürst rastet nicht“, fügt Marielena hinzu.

Ein Spektakel im Gewirr der Katakomben, außerhalb der Legalität. Auf was lasse ich mich da ein, fragt sie sich im Stillen. Spontan schiebt sie nun ihre Bedenken beiseite, denn die Neugierde siegt. Im Falle einer Kontrolle werde ich mich herausreden, verdeckte Ermittlungen oder so.

Amedeo führt sie durch denkmalgeschützte Delten, die in Tausenden von Jahren geprägt wurden. Die Düsternis regt Marielenas Sensibilität an. Helle und dunkle Kontraste provozieren eine effektvolle Kulisse.

Tanzende Geschöpfe bewegen sich in Selbstvergessenheit. Man vergnügt sich neben Punks und Gays. Das Fest der Lust ist freizügig in Szene gesetzt. Diskretion und Dekadenz sind mit von der Partie.

Was für eine dubiose Gesellschaft, die sich aufführt, als gäbe es keinerlei Regeln. Der Homo sapiens ist doch ein kompliziertes kleines Geschöpf, stellt Marielena fest. Es ist so skurril, dass man es am liebsten nicht wahrhaben möchte, wenn man sieht wie die Bourgeoisie sich amüsiert.

Braucht die Welt Enfants terribles? Offenbar! Um nicht in Konventionen zu erstarren. Das Spektakel hier in den Katakomben, jenseits aller Moral, am Rande des guten Geschmacks – was federico Fellini nicht besser hätte darstellen können, beeindruckt Marielena nicht.

Ohrenbetäubend dröhnt die Musik, besingt Tod und Teufel. Angst vor dem Übernatürlichen haben fast alle. Ein Leben nach dem Tod wäre tröstlich, wenn auch nicht ganz geheuer.

„Ist es nicht aufregend“, flüstert ihr Amedeo zu, „so ab und an ins Gegensätzliche einzutauchen?“ In Marielenas Kopf wirbeln allerlei Fragen herum: Bewegt sich der sensible Amedeo allzu gerne zwischen Licht und Dunkel? Ein Jüngling mit lockigem Haar nähert sich, nimmt keck zu Amedeo Augenkontakt auf. Der gibt ihm mit minimaler Gestik zu verstehen. Nein! Amedeos Augen, denkt Marielena ironisch, taugen nur zum Austausch von freundlichen Blicken, jedoch nicht zum Verführen.

Der Junge ist sich nicht sicher ob er richtig verstanden hat, zuckt mit der Schulter, schaut dabei Marielena hilfesuchend an: „Nein, oder?“, fragt er. Sie lacht und schüttelt den Kopf. Der Knabe nimmt die Absage nicht übel, er weiß, dass zur vorgerückten Stunde, nach dem Zuspruch von geistigen Getränken, der richtige Zeitpunkt noch kommen kann.

Im dichten Gedränge hört Marielena hinter sich eine bekannte Stimme sagen: „Ach ja, glauben Sie?“ Über den Rand ihres Whiskyglases treffen sich Jacques Webers und Marielenas Augen. Neben ihm schiebt sich eine Lady im glitzernden Gewand ein Schnittchen zwischen ihre prallen Lippen. Marielena tut so, als kenne sie Jacques nicht. Folgt nur seinen Augen, die ein Ziel suchen, haftenbleiben an einem blassen Herrn mit stattlichem Schnauzbart, den heute so keiner mehr trägt. Die akkurat gelegten Haare sind fast weiß. Der dunkle Anzug sitzt tadellos. Die Brille mit Goldrand unterstreicht, eine vornehme Distanziertheit, die Anzeichen von Hochmut erkennen lässt. Staatsanwalt Dottor Luca lächelt gequält, als er Marielena wahrnimmt. Wahrscheinlich, weil sie hinter seine geheime Nachtseite gekommen ist? Marielena genügt ein kurzer Moment des Blickkontakts. Dieses gesellige „Sich-über-den-Weg- laufen“ in den Katakomben, gefällt dem Diener des Staates bestimmt nicht. Wer weiß, wofür das irgendwann gut ist, geht es Marielena schadenfroh durch den Kopf.

Seit geraumer Zeit hält sich ein Mann, bewusst, wie es scheint, in ihrer Nähe auf. Der Fremde hat sich getarnt. Er trägt eine rote Perücke und ist auffallend im Gesicht bemalt. Marielena beobachtet sein Interesse an Amedeo, ihr prüfender Blick vertreibt den Mann.

Marielena hat nun genug von den Turbulenzen dieser Nacht, sehnt sich nach ihrem Bett. Amedeo möchte noch bleiben im Gewirr der Trivialität.

Sie sucht mit den Augen erneut Jacques Weber, gibt ihm ein Zeichen. Er verständigt sich mit ihr durch ein kaum wahrnehmbares Nicken.

Amedeo begleitet sie nach draußen.

Beim Verabschieden fragt er Marielena, ob sie ihn am Abend ins Fernsehstudio begleiten möchte. In der Show von Bruno Bruni sei er Stargast des Abends. Er müsse Rede und Antwort stehen, wie er seine neue Herbst- und Winterkollektion sehe und warum sie im Vergleich zum aktuellen Modetrend so barock ausgefallen sei.

Marielena lehnt die Einladung ab, denn sie erwartet Silvio.

Verspricht ihm, die Sendung zu verfolgen.

Auf dem Rücksitz der Pantera braust Marielena, angelehnt an Jacques Weber, durch die sternenklare Nacht zurück ins Zentrum von Rom.

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