Kitabı oku: «Sein Leben schreiben», sayfa 4
2.4 Alter und Sein zum Tode
Alle Probleme des Umgangs mit der Zeit werden im Alter verschärft erfahren. Man könnte das Alter zu den von Karl Jaspers besprochenen Grenzsituationen zählen, in denen die Grundverfassung des menschlichen Daseins exemplarisch hervortritt.12 Für das Alter betrifft dies das Schwinden der Zeit ebenso wie die Herausforderung, sein Leben zu gestalten und sich darin gegenwärtig zu werden, eine Herausforderung, die mit voranschreitender Lebenszeit dringlicher und schwieriger zugleich wird. Entsprechend kommt dem Akt des Erinnerns, der sich dieser Herausforderung stellt, gesteigerte Relevanz zu. Es ist zu verdeutlichen, worin diese Verschärfung besteht und was sie für das Problem der Erinnerung bedeutet.
Verschärft ist als erstes das Vergehen der Zeit; dies durch den zweifachen Umstand, dass immer weniger Lebenszeit übrig bleibt und dass das Verrinnen der Zeit immer unaufhaltsamer, endgültiger wird. Ja, vielen scheint die Zeit immer schneller vorüberzugehen, nicht wegen der Annäherung an das bevorstehende Ende, sondern wegen der schwindenden Lebensdynamik, der zunehmenden Monotonie des Verlaufs. In eigenartiger Metamorphose wandelt sich die Beschleunigung des potenzierten Tätigseins in den Sog des Leerwerdens und Entgleitens. Einhergehend mit dem Verlust der Lebenskraft scheint der Zeitmangel, das Bewusstsein der begrenzten Frist akuter, es fehlt mit der Initiative auch die Zeit für eine Gestaltung der Zukunft. Immer mehr Pläne müssen unerfüllt bleiben, am Ende droht, wie Proust befürchtete, auch die Zeit zum Lebensrückblick dem Menschen zu entgleiten. Der Wettlauf mit der Zeit tangiert nicht nur inhaltliche Lebensprojekte, sondern ebenso die reflexive Bemühung um ein Zurechtkommen mit seiner Lebenszeit, die Verfügbarkeit von Sinnressourcen und Gestaltungsmöglichkeiten. Parallel zum realen Entschwinden verschärft sich das Bewusstsein der sich entziehenden Zeit; das Leiden entspringt der existentiellen Zeitnot wie ihrem lastenden Gewahrwerden. Die Verknappung der Zeit überlagert sich mit ihrer Unumkehrbarkeit, der Endgültigkeit des Lebensverlaufs, die ein Neubeginnen, eine korrigierende Wiederholung untergräbt. Mit dem Alter, so Thomas Rentsch, »radikalisiert sich die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens«, intensiviert sich die Erfahrung der Endlichkeit, die nicht nur die Begrenztheit der verbleibenden Zeit und Lebenskraft bedeutet, sondern auch die zunehmende Unabänderlichkeit, die Unaufschiebbarkeit der gesetzten Frist und Endgültigkeit der geronnenen Lebensgestalt.13 Das Bewusstsein der nicht-realisierten Vorhaben verbindet sich mit den unterlassenen Möglichkeiten und verpassten Chancen in einer Schließung der Zukunft, welche der Gegenwart ihr Lebenspotential entzieht.
In solcher Wahrnehmung treten allgemeine Züge der Zeitlichkeit des Lebens hervor, die erst der alternde Mensch in ihrer Stringenz erfährt. Erst ihm werden die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen, die Endlichkeit und Irreversibilität der Zeit zum unabweisbaren Teil des eigenen Lebensvollzugs, wie generell erst der alternde Mensch das Problem des Alters, auch das des Todes, in seiner existentiellen Tragweite erfasst. Erst die »grausame Entdeckung« des eigenen Alterns, so Proust, macht deutlich, dass das Alter »von allen Wirklichkeiten vielleicht diejenige ist, von der wir im Leben am längsten eine rein abstrakte Vorstellung haben.«14 Aufdringlich wird dieses Bewusstsein im Erleben des körperlichen Verfalls, aber ebenso in der Dissoziation von einer Welt, die zunehmend nicht mehr die eigene ist. In eindringlichen Passagen hat Jean Améry Linien dieser Erfahrung ausgezogen, Phänomene der sozialen Vereinsamung ebenso wie des kulturellen Alterns beschrieben, des Nicht-mehr-Verstehens von Techniken und Kommunikationsformen, auf welche sich einzulassen der alte Mensch, ohne Hoffnung auf wirkliche Partizipation, gleichwohl genötigt ist. Es sind Erfahrungen der Emigration aus einer Welt, die nicht mehr die eigene sein wird (wie selbst die respektvollen jungen Zuhörer dem gealterten Sartre »seine letzten Lebensjahre rauben – durch die bloße Tatsache ihres Jungseins und ihres Hinausschreitens in eine Welt, die ihnen und nur ihnen gehört«).15 Ausgeschlossen aus der Welt, vorausgreifend von der Gesellschaft verabschiedet wird »nur, was die Zeichen des Nichts schon auf der Stirn trägt.«16 Der Entzug der Zukunft ist Kehrseite des inneren Verlusts, den das Alter körperlich und seelisch austrägt. Darin überlagert sich das Schwinden der Zeit mit dem Nahen des Todes, jener schlechthinnigen Negativität, die in der Logik des Lebens keinen Ort zu haben scheint und sich der verstehenden Assimilation widersetzt.17 Es ist das Gewahrwerden des unwiderbringlichen Verlusts, das Stehen vor dem Nichts und Verlieren seiner Welt und der geliebten Menschen, das auch vom Todkranken und Sterbenden als Erschütterung, als tiefe Angst und unüberwindlicher Schmerz erlebt werden kann.18 In der Konfrontation mit ihm wie mit dem Erleben (und den äußeren Symptomen) des Alterns ist der Mensch zweifach herausgefordert, sowohl im Bemühen um Sinn wie im praktischen Verhalten: zwischen sinnhafter Integration und Entfremdung, bejahender Anerkennung und Revolte. Im Alter sich selbst zu sein verlangt den diffizilen Ausgleich zwischen Würde, Endlichkeit und Lebenswillen.
Wenn wir diese Konstellation auf unser Leitthema zurückbeziehen, so geht es um die Frage, wieweit in der Situation des Alters das Leben in der Zeit gelingen kann. Zunächst scheinen im Maße der verschärften Zeitnot die Bedingungen eines gelingenden Selbstseins in zweierlei Hinsicht erschwert. Auf der einen Seite verliert die Selbsteinholung, um deren Möglichkeit sich schon Proust angesichts der entschwindenden Zeit geängstigt hatte, ihren Raum und ihr lebenszeitliches Fundament. Das Hinausschieben des Alters, Verdrängen des Todes, welches die natürliche Haltung des tätigen Lebens prägt, setzt sich im Fernhalten der Lebensreflexion ins Alter hinein fort. Auf der anderen Seite verbindet sich das Altern mit der Erosion jener Lebenskraft, die zugleich mit der Sinngebung zur temporalen Strukturierung der Existenz befähigt. Es ist der Verlust der lebensweltlichen Quellen, deren der Mensch zur narrativen Synthetisierung und inhaltlichen Gestaltung seines Welt- und Selbstbezugs, zur Aneignung seiner Lebenszeit bedarf. So geht er der Zeit auf zwei Ebenen zugleich verlustig, auf der Ebene der sich real entziehenden, sich verflüchtigenden Zeit ebenso wie seiner eigenen Fähigkeit, die konkrete Ordnung der Lebenszeit zu stiften, Kommendes aufgehen zu lassen und Vergangenes zu vergegenwärtigen. Das Junktim zwischen der Kraft des Bewahrens und jener des Gestaltens, das die Erinnerungsarbeit durchzieht, bestätigt sich in ihrem Absterben. Zugleich mit der Zeit schwindet das Vermögen der temporalen und sinnhaften Strukturierung. In dieser Überlagerung verhärtet sich das Schwinden der Zeit, wird es zum unwiederbringlichen Verlust, strahlt es zuletzt auf das Leben als ganzes aus, welches brüchig, leer wird, dem Menschen nicht mehr in lebendiger Gegenwart zueigen ist.
Der sich vertiefenden Negativität des Zeitlichen antwortet die Gegenutopie einer wiedergefundenen Zeit, welche nicht nur vergangene Zeiten, sondern die innere Macht der Lebensform wiedergewinnen will. Dem Entschwinden der narrativen Kraft steht der Wunsch eines weitergeführten, zur Vollendung geführten Erzählens, eines Sicherzählens bis ans Ende gegenüber.19 Im Negativen wie im Positiven verschränkt sich die Erfahrung des Alters mit der Herausforderung der Zeit und dem Interesse des Erzählens und Sich-Erzählens. In den Blick kommen Leitbilder, die sich jener Negativität der Zeit wie deren Radikalisierung im Alter entgegenstellen: Bilder des erfüllten, befriedeten Alters wie des Ganzseinkönnens und Zusichkommens in der Zeit. Ihren umfassenden Horizont bildet die Erinnerung.
II.
Die Kunst der Erinnerung
3. Die Aneignung des Vergangenen
3.1 Der Widerstand gegen das Vergessen
Erinnerung ist die Gegenkraft zur Ohnmacht des Lebens. Sie widersetzt sich dem Verrinnen der Zeit, sie hält Vergangenes fest und befestigt den Zusammenhalt des Gewesenen mit dem Jetzt. Ihre erste Tat ist das Bewahren, ihr tiefster Impuls der Widerstand gegen das Vergehen. »Nichts ist vergessen und niemand ist vergessen«, so lautet das erste Bekenntnis des historischen Gedächtnisses – gegen das Zunichtewerden des Vergänglichen, sein Unsichtbar- und Unwirklichwerden, sein Entschwinden aus der Welt der Menschen. Der Satz – eine Zeile der russischen Lyrikerin Olga Bergholz – steht für ein Versprechen und eine Forderung angesichts des Abgrunds der Zerstörung und des gewaltsamen Verstummens1 – unter anderen Umständen auch für eine Beschwörung angesichts des verdrängten Gedächtnisses.2 Auch losgelöst von solchen Bezügen kann er als Leitidee der Historie dienen, deren Grundhaltung, vorgängig zu allen besonderen Zwecken des Gedenkens, der Pietät des Bewahrens3 entstammt und deren treibendes Motiv durch den Wunsch, dass Vergangenes nicht auf immer vergangen sei, bestimmt ist. Als idealen Fluchtpunkt solchen Erinnerns hat man die Unvergänglichkeit alles Vergänglichen4 bezeichnet. Menschliches Leben strebt danach, Leben zu erhalten und weiterzuführen. Sein ursprüngliches Wollen gilt dem Leben, seine ursprüngliche Abwehr der Erosion, die der inneren Schwäche des Lebens, aber auch der auflösenden Macht der Zeit geschuldet ist. Es geht in dieser Abwehr nicht nur um das simple Vorübersein, um den einfachen temporalen Sachverhalt, dass etwas, was einst war, jetzt nicht mehr ist. Es geht zugleich um den substantielleren Verlust, dass etwas, das einst wirklich und Teil des Lebens war, sich in Nichts aufgelöst hat, dass etwas, um das es den Menschen ging und das dem Leben wichtig war, seine Bedeutung verloren hat, nicht mehr die Gegenwart prägt und eine Zukunft eröffnet; es geht darum, dass ein vergangenes Erlebnis, eine vergangene Tat nichtig geworden ist. In gewisser Weise ist das Zunichtewerden durch den Gang der Zeit nicht nur ein späteres Nicht-mehr-Sein, sondern wirkt es zurück, löst es das Vergangene selbst in seinem Sinn und Gewesensein auf. Dass etwas umsonst war, dass es gar nicht wirklich war, ist die tiefste Angst, die Urangst im Erleben der Vergänglichkeit aller Dinge. Weit davor entfernt, nur unserem Bewusstsein zu entschwinden, vergessen zu werden und auf immer vergessen zu sein, droht Vergangenes an ihm selbst dem Nichtsein, der Nichtigkeit anheimzufallen. »Vergänglichkeit und Vergeblichkeit als Zwillingsschwestern des Vergessens« – so umschreibt Christa Wolf den Horror vor dem Vergessen und den unaufhaltsamen Verlust, gegen den sie anschreibt.5 Die Kultur des Gedächtnisses ist kein bloßes Dispositiv im Raster der Temporalität, keine bloße Gegenbewegung zur Urprozessualität alles Seienden. Sie ist ein ursprünglicher Protest gegen das Vergehen und das Bemühen um eine Rettung, die dem Leben, der Welt, dem Selbst zugute kommen will.
Der erste Reflex jenes Horrors vor dem Vergessen, jener Urangst vor dem Entschwinden ist das Festhalten. Alles aufschreiben, damit es nicht verloren geht, damit nichts ohne Zeugnis und ohne Spuren bleibt, so lautet das erste Gebot des Gedächtnisses. Wenn die Pflicht des Nichtvergessens und das fundamentale Interesse des Erinnerns im kulturellen Diskurs in vielfältiger Weise mit den Inhalten des Gedächtnisses, der Unerledigtheit dessen, was nicht preisgegeben werden darf, verschränkt wird6, so gibt es vorgängig dazu den elementaren Widerstand gegen das Vergehen und das Vergessen als solches. Dennoch ist das Gebot des Festhaltens und Aufschreibens erst eine abstrakte Anweisung, ein leerer Reflex, der nur unzulänglich auf die Frage nach dem Wozu der Erinnerung antwortet. Alles niederschreiben, alles registrieren ist kein Ideal, kein inneres Ziel des historischen Sinns. Es entspräche in seiner Formalität dem, was Arthur C. Danto als Zerrbild einer ›Idealen Chronik‹, einer simultanen und integralen Registrierung von allem, was geschieht, gezeichnet hat7 – das Gedächtnis als eine Art universaler Festplatte, auf der alles Reale protokolliert und als Dokument niedergelegt wäre. Es wäre eine leere Verdoppelung, die offenkundig nicht nur der Praxis der Historie, sondern auch dem lebendigen Interesse, das wir am Erinnern nehmen, fremd ist. Zur Historie gehört nicht nur die konstitutive Selektivität, die aus der Vielfalt der Daten eine bestimmte Geschichte konfiguriert, wie schon alles Wahrnehmen und Sprechen unhintergehbar perspektivisch ist. Zum Erinnern gehört darüber hinaus der konstitutive Bezug zum Subjekt, für welches die Vergegenwärtigung des Vergangenen ihr bestimmtes Profil und ihre lebensweltliche Relevanz gewinnt.
Zum Tragen kommt die wesensmäßige Reflexivität von Geschichte und Gedächtnis, als Vergangenheitsbezug von einem, um dessen Vergangenheit – und um das es im Vergangenheitsbezug – geht. Idealtypisch ist dies die Erinnerung von Subjekten, die sich auf ihre Geschichte besinnen, ihren Lebenweg abschreiten und nachzeichnen; analog wie beim Individuum findet dieser Rückbezug beim Kollektiv statt. Zwar ist die selbstbezügliche Perspektive nicht alternativelos und noch weniger in sich geschlossen. Es gibt gute Gründe, auch in der Geschichte von Subjekten gerade die objektiven Spuren und gegenständlichen Sedimentierungen als Faktoren des Werdegangs und der historischen Prägung ernst zu nehmen und herauszuarbeiten. Nicht umsonst hat Sigmund Freud die Archäologie als Leitmetapher für die Sondierung der Tiefenschichten und Entwicklungsformen der Seele gewählt, und Walter Benjamin hat im gleichen Geiste das Erdreich, »in dem die alten Städte verschüttet liegen«, als Bild für das in der Sprache aufbewahrte Gedächtnis verwendet.8 In historisch-vergangenheitsbezogener Erkundung ist die Integration der Außenperspektive, das Sichabarbeiten an dem, was nicht vom Subjekt kommt und ihm nur partiell zugänglich ist, grundlegend für die Erschließung des Selbst. Gleichwohl bleibt auch die objektivierend-distanzierende Betrachtung an das Selbstverhältnis zurückgebunden, bildet sie einen – wesentlichen – Umweg auf dem Wege der Selbstverständigung.9 Erinnerung geht nicht im Raster der retrospektiven Rekonstruktion objektiver Fakten und Prozesse auf. Auch die Geschichts- und Gedächtniskultur hat ihren primären Fokus nicht notwendig in der wissenschaftlichen Erforschung vergangener Zeiten und Geschehnisse. Ihr Interesse und ihre Leistung können ebenso, wie Y. Yerushalmi mit bezug auf die jüdische Erinnerungskultur festhält, auf die Verständigung über den ›Sinn‹ der Geschichte, die interpretierende Selbstsituierung in der Zeit gerichtet sein.10 Der Sinn aber ist nicht ein objektives Integrationsschema in der Konfigurierung der Teile eines Ganzen (wie in der Beschreibung der Funktion eines Mechanismus), sondern die Deutungsperspektive, unter welcher Subjekte Geschehnisse in ihrer Lebensrelevanz durchdringen und als Teil des Lebens – ihres Lebens – aneignen.
3.2 Das Lesen des Lebenswegs
So gelangen wir von der Erinnerung zurück zur Beschreibung des Lebens. Den Weg des Lebens zu gehen, ihn weiter zu gehen, ihn als durchlaufenen gegenwärtig zu halten und ihn erinnernd zu wiederholen, sind die auseinandertreibenden Zeitformen, in denen es dem Menschen in seinem Leben um sein Leben geht. Dass unter ihnen der Erinnerung ein herausgehobener Stellenwert zukommt, hängt zuallererst damit zusammen, dass in ihr das Leben zu einer besonderen Präsenz für sich selber gelangt. Seneca hat dies in seinen Reflexionen über die Kürze des Lebens im Kontrast zur inneren Unruhe der ›Beschäftigten‹ betont, welche »keine Zeit haben, auf Vergangenes zurückzublicken« und ihr Leben in der verrinnenden Zeit »in einen Abgrund« entschwinden sehen: Demjenigen aber, der »alle Phasen seines Lebens ruhig zu durchlaufen vermag«, wird die Erinnerung zu einem dauernden, »heiligen und geweihten Teil« der Zeit, in welchem »alle Tage aus der Vergangenheit gegenwärtig werden.«11
In ungezählten Varianten spiegelt sich das Pathos dieser Selbstpräsenz in den Zeugnissen der Tagebücher und Sudelbücher wider, in den Familienalben und Gruppenerzählungen, Lebensnotaten und Weblogs, in denen Millionen ihr tägliches Leben artikulieren, es anderen präsentieren und in den unermesslichen Speicher des Internet, das Gedächtnis der Menschheit einschreiben.12 Dabei geht es um mehr als um das temporale Festhalten gegen die Verflüchtigung des Geschehens und das Zerrinnen der Zeit. Zumal die deskriptiv-narrative Niederschrift steht im Dienste einer Kontinuitätssicherung und inneren Strukturierung, die auf der Bedeutsamkeit der Episoden, ihrem Ort im Leben der Menschen beharrt und darin mit der eigenen Gestalt- und Einheitsbildung des Lebens kommuniziert, an welche sie anschließt, die sie überformt und ablöst, auf die sie zurückwirkt. Schon das Leben selbst kann in dieser Sicht als eine Art »Biographie-Arbeit« erscheinen13, als ein Zusammenfügen der »Zeit-Stücke«, »hinter unserem Rücken«, aber wie »nach unserem geheimen Bedürfnis«, »spannungsreicher, sinnvoller, geschichtenträchtiger« als wir es vermocht hätten, so dass sie sich unvermerkt in »gelebte Zeit«, vielleicht in ein Schicksal, »jedenfalls in einen Lebenslauf« verwandeln.14 Diesen erinnernd heraufzurufen, ihn neu zu gestalten und gegenwärtig werden zu lassen ist ein privilegiertes Medium der Bezugnahme auf sein Leben und der Begegnung mit sich selbst.
Jenseits der temporalen Kontinuität und synthetisierenden Strukturierung geht es dem Erinnern um einen Selbstbezug, in welchem das Subjekt seiner selbst gewahr wird. Erinnerung ist ein Gang der Selbsterkenntnis, des Vertraut- und Bekanntwerdens mit sich, welcher vielfältigen Wegen, Umwegen und Wendungen folgt und die Schranken der externen Beobachtung wie der Introspektion übersteigt. Es ist ein Weg der Annäherung, der nicht eindeutig ist und nicht offen gebahnt vor Augen liegt, sondern in vielen Operationen der indirekten Erschließung, der erklärenden Rückführung und des konstruktiven Entwerfens Horizonte des Verstehens aufspannt, Bilder schafft und Sinnformen erprobt. Wie historische Erkenntnis generell das Durchdringen komplexer Verflechtungen voraussetzt, so ist historische Selbstverständigung mit der Vielschichtigkeit und Dunkelheit des Selbst konfrontiert. Sich über seine Geschichte kennenlernen heißt auch sich mit Zonen der Fremdheit und Unübersichtlichkeit auseinandersetzen: Erinnerungsarbeit ist auch ein Sichabarbeiten an dem, was sich der Erinnerung, dem Verstehen, der sinnhaften Integration entzieht. Gerade das Eigene kann uns fremd, in besonderer Weise verdeckt und undurchdringlich sein. Doch ungeachtet der Widerspenstigkeit ihres Gegenstandes bleibt Erinnerung grundlegend durch die Intention des Verstehens und des Sich-über-sich-Verständigens geleitet. Erinnerung ist ein Bemühen um Aneignung und Selbstwerdung, eine Gegenwehr dagegen, dass Vergangenes, das Teil unserer selbst ist, uns undurchschaut und äußerlich bleibe. Auch wenn sie den Umweg über das Andere und die historische Objektivität nimmt, ist Erinnerung im Ganzen ein Zusichkommen und Sichselbsterfahren. Sie kommt, wie Dieter Henrich formuliert, der »Sammlung des Lebens« zugute, indem sie »auf alles, was Lebensbedeutung hatte, zurückkommt, um an ihm festzuhalten« und ihm Eingang »in das ›Innere‹, das Zentrum des eigenen Lebens« zu verschaffen, »von dem her sich die Lebensbedeutung des Erinnerten aufbaut und bemisst.«15 Dieses Insichgehen ist eine Komplementärbewegung zum Zurückgehen in der Zeit und Heraufholen des Vergangenen in die Präsenz. Das Zueigenmachen des Gewesenen, des Vergessenen und Entschwundenen, ist eine Dimension der Überwindung äußerer und innerer Fremdheit. Die temporale Ver-Gegenwärtigung des Vergangenen, die sinnhafte Strukturierung und Gestaltung, die lebensweltliche Aneignung und die historische Selbstverständigung sind ebensoviele Facetten der Erinnerung als integrativem Moment des Lebensvollzugs.