Kitabı oku: «Sein Leben schreiben», sayfa 5

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3.3 Ganzheit und Identität

Solche Erinnerung greift auf das Leben als ganzes aus, um darin sich selbst gegenwärtig zu werden, sich zu erkennen und seinem Leben eine bestimmte Gestalt zu geben. Es ist ein Zurückholen und Wiederaneignen dessen, was uns ohne Gedächtnis unaufhaltsam entgleitet, was wir selbst verlassen, zunehmend aus uns abgedrängt haben, was sich uns verbirgt und uns schrittweise fremd geworden ist. Es ist ein Wiederaufnehmen des Lebens von seinem Anfang her, ein Wiedererwecken dessen, was uns und sich selbst abhanden gekommen ist, was sich vielleicht nie entwickelt hat und sich nie zu eigen war, ein Nachholen des nicht gelebten Lebens, wie es in der Kindheitserinnerung aufscheinen kann.16 Solche Aneignung vollzieht sich nicht im Immediatismus einer Selbstpräsenz im Gewesenen, sondern in einer produktiven Neukonstellierung des durch den Lebensverlauf gestifteten biographischen Zusammenhangs. Sie ist der Umweg, über welchen sich die erkenntnismäßige Erschließung und reflexive Aneignung des Lebens vollzieht. Das Schreiben des Lebens ist das konkrete Medium der entziffernden Lektüre, der in der Rückschau durchgeführten Hermeneutik des Selbst. In ihr verschränkt sich die temporale Synthesis, welche die Ohnmacht des auseinanderfallenden Lebens überformt, mit der Verständigung über sich, in welcher das Subjekt seine Bestimmtheit und Ganzheit findet.

Ein Leitbegriff, unter dem das Ineinander von Selbstwerdung und Erinnerung zur Diskussion steht, ist der Begriff der Identität. Menschen gewinnen über die Erinnerung ihre Identität. Geschichte gilt als Substrat der Identitätsbildung, der Herausbildung der jeweiligen Gestalt und Eigenheit, Historie als Medium der Vergewisserung, der Darstellung und interpretativen Konstruktion eigener und fremder Identität. Allerdings sind solche Formulierungen so explikationsbedürftig wie der Begriff selbst. Der Zusammenhang von Erinnerung und Identität ist unter vielfachen Facetten im Feld der Sozial-, Kultur- und historischen Wissenschaften zum Thema geworden.17 An dieser Stelle soll indes nicht vom breitgefächerten kulturwissenschaftlichen Diskurs, sondern von formalen Unterscheidungen ausgegangen werden, die sich im Kontext der Philosophie mit dem Begriff verbinden. Als basale Unterscheidung fungiert normalerweise die zwischen numerischer und qualitativer Identität.18

Die numerische Identität steht für die Unterscheidung des einen von anderen seiner Art, die heraushebende ›Identifikation‹ des Einzelnen unter anderen. Dass Menschen durch Geschichte ihre unverwechselbare Besonderheit erwerben, dass sie sich erinnernd ihrer Singularität, ihres Unterschiedenseins von anderen vergewissern, ist ein Grundgedanke der historischen Kultur, der sich in deren Methodologie widerspiegelt; die neukantianische Gegenüberstellung von Natur- und Geschichtswissenschaft ordnet der letzteren das Interesse am Individuellen (Rickert) beziehungsweise die individualisierende Betrachtung (Windelband) zu. Auch Gesellschaften und kulturelle Gebilde spezifizieren sich im Laufe der Zeiten und werden durch das, was ihnen geschieht und was auf sie einwirkt, in ihrer Eigenart geprägt. Für zeitlich existierende Entitäten hat die ›Individuation‹– neben der vorgegebenen, etwa genetischen Singularität – wesentlich mit der durchlaufenen und angeeigneten Geschichte zu tun.

Diese Unterschiedenheit von anderen ist in klassischen Debatten zur personalen Identität eng mit der Identität-über-die-Zeit verwoben, mit der Frage, ob jemand über die Zeiten hinweg derselbe geblieben ist, beziehungsweise der Frage, inwiefern zwei zeitlich auseinanderliegende Konfigurationen Instanzen desselben – desselben Staats, derselben Tradition – sind. Die Selbigkeit (entsprechend der basalen Wortbedeutung von identitas, idem) steht ihrerseits in privilegiertem Konnex mit Geschichte und Erinnerung, sofern sie auf deren spezifische Selbstbezüglichkeit verweist. Im Sich-Erinnern an eigenes Tun und Erleben begegnet sich der Mensch in seiner unvertretbaren Selbigkeit: Er selbst ist es, der die Frage nach der Vergangenheit stellt, der sich in verblassten Erinnerungen an seine Kindheit, in verlorenen Hoffnungen, erlebten Freuden, überstandenen Schmerzen wieder erkennt, sich darin als er selbst gegenwärtig wird. Was in moralischer Hinsicht, im Blick auf Schuld und Verantwortung, von offenkundiger Relevanz ist, ist ebenso für das allgemeine, affektive Betroffensein durch die eigene Geschichte als Geschichte meiner selbst von Belang. Auch wenn Erinnerung und Gedächtniskultur sich nicht im Bezug auf das Eigene erschöpfen, sondern gerade im Verhältnis zum Anderen und Fremden eine genuine Dringlichkeit besitzen können, kommt ihnen im Selbstbezug des Selben eine spezifische Gestalt und ein besonderes Interesse zu. Der Mensch hat nicht einfach eine Geschichte, er hat seine Geschichte, die ihn betrifft und die er erzählt.

Komplementär zur numerischen steht die qualitative Identität zur Diskussion. Sie steht für die Gleichheit verschiedener Individuen derselben Art beziehungsweise die Identifikation von etwas ›als etwas‹ (als Exemplar einer Spezies, Träger einer Berufsrolle). Nicht wer (von allen) wir sind, sondern was bzw. wie wir durch die Geschichte geworden sind, als was wir uns erinnernd erkennen, steht in Frage. Erinnerung gilt hier, jenseits der Individualität und der Selbigkeit über die Zeit, dem inhaltlichen Reichtum dessen, wozu Menschen im Laufe ihres Lebens geworden sind. Das Interesse des Erinnerns gilt nicht der abstrakten Vergewisserung des Unterschiedenseins von anderen und Mit-sich-Identischseins, sondern demjenigen, was wir im Durchlaufen unserer Geschichte erfahren, getan und erlitten haben, was wir als Resultat dieses Prozesses geworden sind. Es ist das Interesse an einer materialen Aneignung der Geschichte, die unter ganz verschiedenen Kriterien wahrgenommen und beurteilt werden kann: im Blick auf den Wert der Erlebnisse und Taten, auf die Verknüpfung der Episoden unseres Werdens, die Gestalt oder Brüchigkeit des Lebenslaufs, die Entwicklung und Gerichtetheit, Konsistenz oder Widersprüchlichkeit der Geschichte. Im Spiel ist dabei sowohl die inhaltliche Seite des Gedächtnisses, das zur Grundlage historischer Selbsterkenntnis wird, wie der Formaspekt der erinnerten Geschichte, die zwischen Schlüssigkeit und Zerstreuung, Ganzheit und Fragmentierung oszillieren kann. Es ist eine offene Frage, wieweit wir zum einen uns mit den Phasen unserer Geschichte identifizieren können, wieweit wir vergangene Handlungen und Widerfahrnisse mit unseren Wünschen und Werten, mit unserem Selbstbild in Übereinstimmung bringen, sie als eigene anerkennen und als Teil unseres Selbst integrieren können, zum anderen aber auch, in welcher Weise die Geschichte einen Zusammenhang bildet und zur Grundlage eines gelingenden Selbstverhältnisses im Ganzen des Lebens wird. Die Rede von geschichtlicher Identität bezieht sich zumeist auf diese ›qualitative‹ Seite, auf die Frage, wie jemand durch seine Geschichte geprägt worden ist, von ihr seine Eigenart, seinen Charakter erhalten hat.

Bei alledem drängt sich die Frage auf, wie das Verhältnis zwischen der Geschichte und dem Subjekt, das durch sie bestimmt wird, näher zu fassen ist. Gibt es eine Identität des Subjekts, welche der Geschichte voraus- und zugrundeliegt, oder bildet erst der Sinnzusammenhang der erzählten Geschichte den Rückhalt und Kern der personalen Identität? Lassen sich die Einheit der Geschichte und die Identität dessen, von dem die Geschichte handelt, auseinander halten? Wenn diese Trennung bei Artefakten und historisch-kulturellen Gebilden (romantische Kunst, deutsche Nation, literarische Figuren) vielfach obsolet scheint, so erweist sie sich bei Personen und Kollektiven als uneindeutig und durchaus klärungsbedürftig. Sie verweist auf die grundsätzliche Frage, in welcher Weise überhaupt eine Geschichte einem Geschichtsträger ›zukommt‹, inwiefern sie ›seine‹ Geschichte ist. Wenn wir idealtypisch bei der Person als Geschichts-›Subjekt‹ ansetzen, so ist ihr die Geschichte als dasjenige zugehörig, das von ihr bewirkt, von ihr erlitten, von ihr vergegenwärtigt wird. Der Geschichte vorausliegend ist das Subjekt hier zunächst insofern, als es mit einem raum-zeitlich bestimmten, körperlichen Substrat verbunden ist, das nicht als solches durch die Wendungen der Geschichte generiert wird. Offen hingegen ist, in welcher Weise die Identität des Subjekts, sofern sie nicht in der numerischen Identität des Körpers aufgeht, sondern das konkrete Unterschieden- und Sosein der Person meint, mit der Gestalt und der Einheit einer Geschichte verflochten ist. Sozialpsychologische wie sprach- und erzähltheoretische Argumente sprechen für eine starke Interferenz beider Seiten, die Ricœur auf die Formel bringt, dass »die Identität der Geschichte die Identität der Person ausmacht«.19

Allerdings ist es möglich, diesen Zusammenhang nach beiden darin enthaltenen Schritten kritisch zur Diskussion zu stellen: im Blick auf die Verflechtung zwischen Selbstsein und Lebensgeschichte wie auf den Konnex von faktischem Lebenslauf und erzählter bzw. erzählbarer Geschichte.20 Es steht außer Frage, dass eine Phänomenologie des Selbst auch Dimensionen des Selbstverhältnisses zu erschließen hat, die nicht auf die Lebensganzheit ausgespannt sind und ihren Impuls nicht aus der Kraft der Erinnerung beziehen. Und ebenso kann eine Analyse der existentiellen Zeitlichkeit und Geschichtsaneignung auch unabhängig von der bestimmten Form der narrativen Lebensbeschreibung durchgeführt werden. Die Einheit des Lebenslaufs geht nicht auf in der erzählten Geschichte. Entsprechend nimmt die vorliegende Untersuchung ihren Ausgang nicht von einer Philosophie des Selbst und liegt ihr demonstrandum nicht in der strengen Hinführung vom Selbst über die Erinnerung zur Lebenserzählung. Vielmehr setzt sie bei deren Verschränkung, bei der Sehnsucht nach Erinnerung und dem Wunsch der Lebensbeschreibung an, um deren interne Motivkonstellation aufzuhellen. Gleichwohl gehört es zur leitenden Intuition und zum Duktus der vorliegenden Untersuchung, die nicht-kontingente Verbindung dieser Schichten und Motive des Selbstseins aufzuzeigen. Sie soll in der konkreten Erkundung dessen, was Erinnerung ist und was sie leistet, schrittweise hervortreten.

3.4 Räume und Formen der Erinnerung
(a) Objektive und subjektive Erinnerung

Bevor wir die Stadien der ins Auge gefassten schreibenden Selbsteinholung des Lebens näher ins Auge fassen, seien vorausgreifend grundlegende Dimensionen benannt, in denen Erinnerung sich vollzieht. Eine fundamentale Unterscheidung, welche die Gedächtnistheorien durchzieht, ist die zwischen subjektiven und objektiven Anteilen im Erinnerungsprozess – zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit, Gedächtnisspeicher und Erinnerungsakt, Sedimentierung von Spuren und Wiedererkenntnis. In der deutschen Sprache lässt sich die Polarität mit der Distinktion von Gedächtnis und Erinnerung assoziieren, wobei ›Gedächtnis‹ zum Teil eher im Sinne des Archivs, des Raums und Trägersubstrats der Reminiszenz, teils eher im Sinne der vorhandenen Quellen und objektivierten Spuren verstanden wird. In dieser Bedeutung figuriert die Unterscheidung in einer der ältesten Gedächtnistheorien, in der aristotelischen Schrift De memoria et reminiscentia, als Unterscheidung zwischen dem Niederschlag des vergangenen Erlebens in einem Erinnerungsbild, das uns passiv gegenwärtig ist, und dem aktiven Vollzug des Wiedererinnerns als erneuerter Wahrnehmung dessen, wovon wir in unserem Gedächtnis das Zeugnis bewahren.21 Mit der Relation von mneme und anamnesis verbindet Aristoteles die Frage, die sich auch außerhalb des erinnerungspsychologischen Kontextes stellt, wie nämlich eine anwesende Affektion für ein Abwesendes, ein Gegenwärtiges für ein Vergangenes stehen kann. Aristoteles’ Antwort führt über den Bild-Charakter der uns innewohnenden Vorstellung; in einem weiteren Horizont verbindet Paul Ricœur damit den Rätselcharakter der Spur, die zugleich als Wirkung und Zeichen (»un effet signe«)22 auf ihren Ursprung bezogen ist. Indem er den Begriff der Spur, der bei verschiedenen Autoren – Husserl, Freud, Derrida, Lévinas – einen zentralen Stellenwert besitzt, nach den Haupttypen der kortikalen, psychischen und dokumentarischen Spur diversifiziert und in den Räumen der Neurologie, der Psychologie und der Geschichte verortet, erweitert er den objektiven Charakter des Erinnerns über die Bewusstseinsdimension hinaus.23

Unter mehrfachen Hinsichten haben die Kulturwissenschaften die materielle, gegenständliche Seite des Gedächtnisses zur Geltung gebracht. Verwiesen sei auf die von Sigmund Freud verwendete Metaphorik der Archäologie, die ihm als Bild dafür dient, »dass im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, dass alles irgendwie erhalten bleibt, und unter geeigneten Umständen […] wieder zum Vorschein gebracht werden kann«, ähnlich wie die archäologische Grabung in der verborgenen Tiefe einer Stadt deren Vorstadien, Wandlungen, Konstruktionen und Zerstörungen sichtbar macht.24 Das konnotationsreiche Bild des Verschüttens, Verdeckens und Aufbewahrens im Erdreich, des Ausgrabens und Rekonstruierens lässt sich in Kontexten des Psychischen, Sozialen und Geschichtlichen mit Assoziationen des Zertrümmerns und Zerfallens, aber auch des Zurechtrückens und Refigurierens in die Erinnerungsdynamik einzeichnen. Walter Benjamin hat in seiner Berliner Chronik, in welcher er Erinnerungsbruchstücke aus den Kindheits- und Jugendjahren versammelt, die Metapher des Ausgrabens aus dem Erdreich übernommen und in eine umfassendere topographische Schematik eingefügt, als deren Hintergrund man auf die klassische, in die Antike zurückreichende topographische Methode der ars memoriae verweisen kann. Erinnerung macht sich nach Benjamin fest an Orten und Räumen, sie beleuchtet »weniger die Bilder der Menschen als die der Schauplätze«.25 Anstelle der Zeit- und Ablauffiguren, welche den Fluss des Erinnerns modellieren, dominieren Raster der Räumlichkeit und Äußerlichkeit, in denen das Gedächtnis seine Bezugnahme und Formbildung verankert. In Überlagerung mit der Idee des Erdreichs assoziiert das topographische Gedächtnis gleichzeitig »die Verbindung mit den Toten dieses Bodens«, die Kultur des Totengedenkens.26 Nach anderer Hinsicht verknüpft es sich mit Aspekten sinnlicher Materialität, die den Erlebnissen und Begegnungen ihre Färbung geben und sie im Speicher des Gedächtnisses deponieren (wie die »Mauern und Quais, der Asphalt, die Sammlungen und der Schutt, die Gatter und Squares« zum Erkennungszeichen von Paris werden). Nicht die Kette von Ereignissen, sondern die Konstellierung von Objekten, das Versunkensein in eine Dingwelt fundiert dann den Raum gelebten Erinnerns.27 Dabei geht es, wie Benjamin in einer Reflexion über »Ausgraben und Erinnern« festhält, nicht einfach um das punktuelle Fixieren der Dinge und Orte, sondern um die »sorgsamste Durchforschung« der Schichten, in denen die Residuen und Dinge abgelagert sind, die Nachzeichnung des Umgrabens und Findens, das sich der verschütteten Vergangenheit nähert, um sie zum Sprechen zu bringen und in Bildern auferstehen zu lassen. Wahrhafte Erinnerung gilt nicht nur dem Fundobjekt, sondern gleichermaßen dem Grabungsbericht und »dem, der sich erinnert«.28

Räumlichkeit ist Paradigma der Äußerlichkeit, und dies in zweifacher Hinsicht, als das in sich und gegenseitig Äußerliche, die Dimension des partes extra partes, und als das dem Subjekt gegenüber Andere und Äußere. Die Räumlichkeit und Materialität des Erinnerns steht für die Dimension der Zerstreuung und Zersplitterung wie für das dem Subjekt Fremde und Unerkannte, das Abwesende und Undurchdringliche; sie ist der Raum des Bruchstückhaften, der Splitter und Trümmer, die vergessen und bezugslos nebeneinander liegengeblieben sind, doch unversehens aus ihrer Bedeutungslosigkeit auftauchen, Erinnerungen heraufrufen und zu Knotenpunkten einer lesbaren Geschichte mutieren können. Dekonstruktion hat die Figuren der Verräumlichung, der Spaltung und Abdrift generell als Gegenkonzepte zur ganzheitlichen Kontinuität des Sinns stark gemacht, die Medialität und Äußerlichkeit anstelle der Innerlichkeit subjektiven Meinens und Nachvollziehens als Raum der Bedeutung expliziert. Sinngenese und Verstehen transzendieren den Binnenraum des Selbstbezugs, und dieses Überschreiten gewinnt im Feld von Gedächtnis und Erinnerung ein besonderes Profil und Gewicht.

Die Dialektik von subjektiver und objektiver Verortung tangiert die Herkunft wie den Akt der Reminiszenz. Es gibt Bilder, die auftauchen, Dinge, Stimmen und Atmosphären, die an etwas erinnern; weithin hat Erinnerung mehr mit spontaner Assoziation als einem intendierten Zurückholen aus der Zone des Abwesenden zu tun. Auch thematisch geht Erinnern nicht im Sicherinnern auf, sein Modell ist nur zum Teil das individuelle, bewusste Zurückdenken an eigenes Tun und selbst Erlebtes. Entgegen der psychologisierenden Orientierung am Wieder-Erleben früherer Widerfahrnisse und Handlungen – dem »landläufigen Erinnerungsbegriff«29 – findet Erinnerung ihr wahres Potential, ihre wirkliche Tiefe jenseits des Rückbezugs auf ein früheres, subjektives Erleben; ebensowenig ist sie – gegen eine von vielen geteilte Meinung30 – auf das Erinnern des Individuums zu beschränken. Nicht zuletzt ist die Schwierigkeit des Erinnerns, der Widerstand gegen das Wiederaufleben verdrängter Ereignisse gerade im Falle des kollektiven Gedächtnisses prägnant fassbar.31 Auch das dem Bewusstsein Entzogene, doch dem Unbewussten Eingeschriebene, das als Residuum im nichtpsychologischen Gedächtnis der Kultur Dokumentierte, im kollektiven Sein und Verhalten Verkörperte konstituiert das Substrat, aus welchem Erinnerungsarbeit ihre Ressourcen, ihr Material und ihren Impuls bezieht. Erinnerung ist nicht nur ein Insichgehen der Person, sondern ein Teilhaben an der Geschichte und dem gemeinsamen Fundus, aus denen heraus Subjekte ihre Identität gewinnen. In vielfältiger Auseinandersetzung mit der Objektivität, Äußerlichkeit und Andersheit ist Erinnerung nicht ein Wiederholen und Wiedererleben, sondern eine Aneignung von etwas, das einem noch gar nicht zu eigen war. Es gehört zur Macht und Größe des Erinnerns, sich in dem erkennen, aus dem finden zu können, was über das Eigene hinausgeht.

(b) Formen der Erinnerung

Neben den Räumen interessieren die Gestalten und Prozessformen des Erinnerns. Psychologische, neurologische und kulturwissenschaftliche Analysen haben dazu unterschiedliche Differenzierungen vorgenommen und vielfältigste Modelle erarbeitet; sie können hier nicht unser Thema sein. Als Grundlage für das Folgende seien nur zwei grundlegende Unterscheidungen festgehalten, die das lebensweltliche Feld der Erinnerung strukturieren.

Die erste ist die Differenz zwischen spontan aufkommenden und intentional herbeigeführten Erinnerungen. Es gibt auf der einen Seite das Aufblitzen von Erinnerungsbildern, die durch äußere Anlässe provoziert, durch Stimmungen und Dispositionen in uns hervorgerufen werden, durch unbekannte Ursachen aus dem Dunkel emergieren. Auf der Gegenseite gibt es das bewusste Bemühen um Erinnerung, von mnemotechnischen Memorierungsübungen bis zur lebensgeschichtlichen Erinnerungsarbeit und zu komplexen historischen Forschungen. Beides gehört zu der Art und Weise, wie Vergangenheit im Leben der Menschen anwesend wird, wie Vergangenes in das Heute einbricht, wie es in der Rückschau aufgesucht und gefunden wird. Beide Wege überkreuzen und überlagern sich, die methodische Arbeit des Gedächtnisses kann durch das plötzliche Hervortreten von Bildern vergangener Zeiten unterbrochen werden, sich in Wechselwirkung mit diesen vollziehen, in ihrem Dienst stehen und durch sie vorangebracht werden.

Die andere Unterscheidung ist die von Edmund Husserl exemplarisch herausgearbeitete Differenz zwischen dem Nachhall der implizit noch anwesenden, stufenweise sich abschwächenden Eindrücke des Vergangenen und der gezielten Wiederherstellung und bewusstseinsmäßigen Erneuerung früherer Ereignisse und Erfahrungen: zwischen ›Retention‹ und ›Reproduktion‹, ›primärer‹ und ›sekundärer‹ Erinnerung, zwischen der sich sukzessiv entziehenden Gegenwärtigkeit des Einst und seiner reflexiven Ver-Gegenwärtigung.32 Husserl expliziert das Spezifische der retentionalen Erinnerung am Beispiel des Melodiehörens, wo das Nachklingen und Noch-Präsent-Haben erklungener Töne konstitutiv zur Wahrnehmung einer Melodieform dazugehört; das Beispiel lässt sich auf verschiedene Wahrnehmungs- und Verstehensvollzüge – das Erfassen einer Rede, einer Bewegung, einer Filmsequenz – übertragen, die zeitlich verfasst sind und nicht in der Aktualität des Hier und Jetzt aufgehen können. Husserls klassische Analyse bezieht sich auf den Nahhorizont, innerhalb dessen die Konstitution eines konkreten Wahrnehmungsgegenstandes nicht ohne den Schatten des Nichtmehr-Gegenwärtigen, des Soeben-Wahrgenommenen – und korrelativ der antizipierten Fortführung des Erlebens – zustandekommt. Indes könnte man die Struktur auch zeitlich ausweiten und sie auf die nicht-thematische Anwesenheit des Vergangenen im größeren Zeitradius anwenden, auf die Art und Weise, wie ein erfreuliches oder trauriges Erlebnis von heute früh auf mein jetziges Empfinden und Tun abfärbt, wie ein gestriger Misserfolg noch unbewältigt und psychisch anwesend ist, wie meine Lebensgeschichte, letztlich die umfassendere Geschichte, der ich zugehöre, mein Wollen und Handeln prägen, in mein Selbstgefühl und mein Weltverhältnis eingehen. Dieser impliziten, nicht-aktualisierten Präsenz des Vergangenen steht die thematische Wieder-Vergegenwärtigung entgegen, die das Erinnern im normalen Verständnis ausmacht. Hier kommt das weite Feld der eigentlichen Erinnerungsarbeit in den Blick, die sich in mannigfachen Formen, in unterschiedlichen Medien vollzieht und den Untersuchungsgegenstand der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung bildet. Es ist der Rahmen, innerhalb dessen die Fragen nach der angemessenen Methode, nach den Schwierigkeiten und Problemen, dem existentiellen Interesse, den sozialen und kulturellen Funktionen der Erinnerung aufgeworfen und kontrovers debattiert werden.

In unserem Zusammenhang werden diese Fragen, die auch den Horizont der vorliegenden Untersuchung bilden, in einem engeren Fokus ins Auge gefasst. Sie interessieren im Blick auf die eingangs umrissene Idee einer lebensgeschichtlichen Erinnerung, das Wunschbild einer gelingenden Lebensbeschreibung, wie sie Marcel Proust am Ende seiner Erzählung in ihrem Versprechen und ihren Schwierigkeiten umreißt. Diese Idee soll im Folgenden schrittweise konkretisiert werden.

Auszugehen ist vom Ideal einer erfüllten Gegenwart, wie sie Proust exemplarisch im Aufbrechen der Vergangenheit im Jetzt in Erlebnissen der mémoire involontaire beschreibt und wie sie ihm als utopische Richtschnur einer gelingenden Lebenserinnerung vor Augen steht. Es ist eine Erinnerung, die sich durch den Charakter des Unwillkürlichen von der methodischen Gedächtnisarbeit, durch die erfüllte Aktualität von der abgeschwächten Präsenz der Retention unterscheidet. Es ist eine lebensweltlich vertraute Erinnerungsform, die nicht auf jene singulären, emphatischen Augenblicke beschränkt sein muss, welche Proust in berühmten Passagen vergegenwärtigt, sondern die im Alltagsleben der meisten, sei es flüchtig und schwach, zuweilen aufscheinen kann und über fließende Übergänge mit den anderen Gedächtnisformen des nichtthematischen Inneseins und des bewussten Vergegenwärtigens verbunden ist.

Gegenläufig zur spontanen Erinnerung steht sodann die reflektierte Bemühung um ein Wiederfinden und Rekonstruieren des Vergangenen zur Diskussion. Es geht um jene große Arbeit, vor deren Unermesslichkeit Prousts Erzähler zurückschreckt und die der Autor Proust beharrlich in Angriff nimmt. Zu verdeutlichen sind die Wege und Umwege, welche die Erinnerung einzuschlagen hat, die Aufarbeitung des Vergangenen und die Vermittlung des Ausdrucks, über welche der Mensch sein Leben aneignen und in seinem Leben sich selbst gegenwärtig werden kann. Zu reflektieren sind ebenso die Widerstände und Schwierigkeiten, die sich der Erinnerung entgegenstellen und die nicht nur der temporalen Entrückung, sondern dem Unerledigtsein und der Unabgegoltenheit des Vergangenen selbst entstammen. Vor dem Hintergrund der Wege und Hindernisse ist abschließend die Frage zu vertiefen, worin das eigentliche Interesse der Lebensbeschreibung liegt, was das Ziel einer im Ganzen gelingenden Erinnerung ausmacht und wie sich in ihr das Ideal einer Selbstpräsenz im Leben verwirklicht.

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