Kitabı oku: «Seine Exzellenz Eugene Rougon», sayfa 4

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»Das ist ein versehentlich in die Haut eines Possenschreibers geratener Bandit«, sagte abschließend Du Poizat.

Rougon hob langsam den Kopf. Er sah die beiden Männer aus seinen großen Augen an.

»Was soll denn die ganze Rederei«, sagte er. »Marsy macht seine Geschäfte, zum Teufel, wie Sie ja auch die Ihren machen möchten ... Wir verstehen einander nicht besonders. Ja, wenn ich ihm eines Tages das Genick brechen könnte, würde ich es gern tun. Aber alles, was Sie da erzählen, ändert nichts daran, daß Marsy enorm tüchtig ist. Wenn es ihm gerade einfiele, würde er sehr leicht mit Ihnen beiden fertig werden, lassen Sie sich das gesagt sein.«

Und des Sitzens überdrüssig, stand er aus seinem Sessel auf und reckte die Glieder. Dann fügte er unter heftigem Gähnen hinzu: »Das um so mehr, meine lieben Freunde, als ich nicht mehr eingreifen könnte.«

»Oh, wenn Sie wollten«, murmelte Du Poizat mit einem dünnen Lächeln, »könnten Sie sehr viel bei de Marsy erreichen. Sie haben hier bestimmt irgendwelche Papiere, die er hoch bezahlen würde ... Sehen Sie, da unten das Aktenstück Lardenois, jenes Abenteuer, bei dem er eine so sonderbare Rolle gespielt hat. Ich kenne da einen Brief von ihm, einen sehr merkwürdigen, den ich selber Ihnen seinerzeit gebracht habe.«

Rougon ging zum Kamin und warf die Papiere hinein, mit denen er nach und nach den Korb gefüllt hatte. Die Bronzeschale reichte nicht mehr aus.

»Man schlägt einander tot, aber man fügt einander keine Nadelstiche zu«, sagte er mit einem verächtlichen Achselzucken. »Jedermann hat solche dummen Briefe geschrieben, die bei anderen herumliegen.«

Und er nahm den Brief, steckte ihn an der Kerze in Brand, benutzte ihn als Fidibus, um den Stoß Papiere im Kamin anzuzünden. Einen Augenblick lang blieb er dort zusammengekauert, dennoch riesenhaft, hocken und bewachte die brennenden Papiere, die bis auf den Teppich rollten. Einige Verwaltungsakten aus dickem Papier wurden schwarz, drehten sich zusammen wie dünne Bleiplatten; mit häßlichen Handschriften besudelte Briefe und Zettel brannten mit kleinen blauen Flammenzungen, während in der Feuerglut, mitten in einem Gewimmel von Funken, ganz versengte Stücke heil und noch lesbar blieben.

In diesem Augenblick ging die Tür weit auf. Eine lachende Stimme sagte: »Gut, gut, ich werde Sie entschuldigen, Merle ... Ich gehöre zum Hause. Wenn Sie mich hindern wollten, hier einzutreten, würde ich, bei Gott, den Weg durch den Sitzungssaal nehmen!«

Das war Herr d'Escorailles, den Rougon vor sechs Monaten zum Auditeur22 beim Staatsrat hatte ernennen lassen. An seinem Arm führte er die hübsche Frau Bouchard mit herein, die in einer hellen Frühjahrstoilette strahlte.

»Das hat mir gerade gefehlt! Jetzt auch noch Frauen!« brummte Rougon.

Er ging nicht gleich vom Kamin fort. Er blieb auf dem Fußboden hocken, in der Hand die Schaufel, mit der er aus Angst vor einem Brand die Flamme erstickte. Und mit verdrossener Miene hob er sein großes Gesicht.

Herr d'Escorailles ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. Er und die junge Frau hatten schon beim Überschreiten der Schwelle aufgehört, einander anzulächeln, und statt dessen eine der Gelegenheit angemessene Haltung angenommen.

»Teurer Meister«, sagte er, »ich bringe Ihnen eine Ihrer Freundinnen, die Ihnen unbedingt ihr Bedauern aussprechen möchte ... Wir haben heute morgen den ›Moniteur‹ gelesen ...«

»Sie haben den ›Moniteur‹ gelesen, Sie alle«, knurrte Rougon, der sich endlich entschloß aufzustehen. Aber da gewahrte er jemanden, den er noch nicht bemerkt hatte. Nach einem Blinzeln murmelte er: »Ah, Herr Bouchard!«

Es war in der Tat ihr Ehemann. Still und würdevoll war er hinter den Röcken seiner Frau eingetreten. Herr Bouchard war sechzig Jahre alt, hatte einen völlig weißen Kopf und einen erloschenen Blick; sein Gesicht wirkte wie abgenutzt von seinen fünfundzwanzig Jahren Verwaltungsdienst. Er sprach kein Wort. Mit tief ergriffener Miene faßte er Rougons Hand, die er dreimal kräftig schüttelte.

»Na ja«, sagte Rougon, »es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie alle zu mir gekommen sind; nur stören Sie mich entsetzlich ... Kurz, setzen Sie sich da drüben hin ... Du Poizat, geben Sie der gnädigen Frau Ihren Sessel.«

Als er sich umdrehte, sah er sich nun Oberst Jobelin gegenüber. »Auch Sie, Oberst!« rief er.

Die Tür war offengeblieben, und Merle hatte sich dem Eintreten des Obersten, der unmittelbar hinter den Bouchards die Treppe heraufgekommen war, nicht widersetzen können. Der Oberst hielt seinen Sohn an der Hand, einen großen Schlingel von fünfzehn Jahren, damals Schüler der dritten Klasse des Gymnasiums LouisleGrand.

»Ich wollte Ihnen Auguste herbringen«, erklärte er. »Im Unglück geben sich die wahren Freunde zu erkennen ... Auguste, gib die Hand.«

Aber Rougon stürzte zum Vorzimmer und schrie: »Machen Sie doch die Tür zu, Merle! Wo haben Sie denn Ihre Gedanken! Ganz Paris wird noch hereinkommen.«

Der Türhüter wandte ihm sein ruhiges Gesicht zu und sagte: »Das kommt davon, daß man Sie gesehen hat, Herr Präsident.«

Und er mußte beiseite treten, um die Charbonnels vorbeizulassen. Sie kamen nebeneinander herein, aber nicht untergefaßt, nach Atem ringend, tief unglücklich, bestürzt. Sie sprachen beide zugleich.

»Wir haben soeben den ›Moniteur‹ gelesen ... Ach, welche Nachricht! Wie verzweifelt wird Ihre arme Mutter sein! Und wir – in welch traurige Lage versetzt uns das!«

Diese zwei, naiver als die anderen, fingen sofort mit ihren unwichtigen Angelegenheiten an. Rougon brachte sie zum Schweigen. Er schob einen unter dem Türschloß verborgenen Riegel vor, wobei er murmelte, jetzt könne man die Tür seinetwegen einschlagen, und als er dann sah, daß offenbar nicht einer seiner Freunde sich entschließen mochte, das Zimmer zu verlassen, ergab er sich und versuchte, inmitten der neun Personen, die den Raum füllten, seine Arbeit zu Ende zu bringen. Das Ausräumen der Papiere hatte das Zimmer schließlich völlig in Unordnung gebracht. Auf dem Teppich lag ein wirres Durcheinander von Akten, so daß der Oberst und Herr Bouchard, die zu einer Fensternische gelangen wollten, die allergrößte Vorsicht walten lassen mußten, um auf dem Wege dorthin nicht irgend etwas Wichtiges zu zertreten. Auf allen Sitzgelegenheiten häuften sich verschnürte Bündel; einzig Frau Bouchard hatte sich auf einen leergebliebenen Sessel setzen können; und sie lächelte zu den Artigkeiten Du Poizats und Herrn Kahns, während Herr d'Escorailles, der keine Fußbank mehr fand, ihr einen dicken blauen, mit Briefen vollgepfropften Umschlag unter die Füße schob. Die in einer Ecke auf einen Haufen umgestürzten Schubfächer ermöglichten es den Charbonnels, sich für einen Augenblick hinzuhocken, um wieder zu Atem zu kommen, indes der junge Auguste, entzückt davon, in dieses Umzugsdurcheinander geraten zu sein, umherschnüffelte und hinter dem Berg von Schubfächern verschwand, in dessen Mitte sich Delestang verschanzt zu haben schien. Letzterer machte viel Staub, indem er von oben die Zeitungen aus dem Bücherschrank herunterwarf. Frau Bouchard hüstelte.

»Sie tun nicht gut daran, sich in diesem Schmutz aufzuhalten«, sagte Rougon, damit beschäftigt, die Schubfächer zu leeren, die nicht anzurühren er Delestang gebeten hatte.

Aber die junge Frau, ganz rosig vom Husten, versicherte ihm, daß sie sich sehr wohl fühle und ihr Hut den Staub vertragen könne. Und die Clique konnte ihre Anteilnahme gar nicht genug bekunden. Der Kaiser kümmere sich wahrlich nicht um das Wohl des Landes, wenn er sich von seines Vertrauens so wenig würdigen Männern umgarnen lasse. Frankreich erleide einen Verlust. Übrigens sei das immer so: gegen einen großen Geist verbündeten sich stets alle Mittelmäßigen.

»Regierungen sind undankbar«, erklärte Herr Kahn.

»Um so schlimmer für sie!« sagte der Oberst. »Sie treffen sich selbst, wenn sie ihre Diener schlagen.«

Aber Herr Kahn wollte das letzte Wort behalten. Er wandte sich zu Rougon um.

»Wenn ein Mann wie Sie stürzt, trauert das ganze Volk!«

Die Clique bestätigte: »Ja, ja, dann trauert das ganze Volk!«

Bei diesen plumpen Lobsprüchen hob Rougon den Kopf. Seine grauen Backen bekamen einen roten Schimmer, sein ganzes Gesicht lächelte verhalten vor Befriedigung. Er war so eitel auf seine Macht, wie es eine Frau auf ihre Anmut ist; und er liebte es, wenn die Schmeicheleien seine breite Brust, die so stark war, daß kein Pflasterstein sie zerschmettern konnte, aus nächster Nähe trafen. Unterdessen wurde es offensichtlich, daß seine Freunde einander im Wege waren; sie belauerten sich mit Blicken, versuchten sich gegenseitig zu verdrängen, wollten nicht deutlich reden. Jetzt, da der große Mann gezähmt zu sein schien, mußte man sich beeilen, ihm ein Versprechen zu entreißen. Und als erster faßte der Oberst einen Entschluß. Er führte Rougon, der, ein Schubfach unter dem Arm, widerstandslos mitging, in eine Fensternische.

»Haben Sie an mich gedacht?« fragte er ihn im Flüsterton, mit einem liebenswürdigen Lächeln.

»Gewiß, Ihre Ernennung zum Kommandeur der Ehrenlegion ist mir noch vor vier Tagen versprochen worden. Nur werden Sie wohl einsehen, daß es mir heute unmöglich ist, irgend etwas zuzusichern ... Ich fürchte, ich gestehe es Ihnen, meine Freunde werden die Folgen davon, daß ich in Ungnade gefallen bin, zu spüren bekommen.«

Die Lippen des Obersten zitterten vor Erregung. Er stammelte, man müsse kämpfen, er selber werde kämpfen. Dann drehte er sich plötzlich um und rief: »Auguste!«

Der Schlingel kauerte auf allen vieren unter dem Schreibtisch und war damit beschäftigt, die Aufschriften auf den Aktendeckeln zu lesen, was ihm ermöglichte, leuchtende Blicke auf Frau Bouchards Stiefelchen zu werfen. Er kam rasch herbei.

»Da ist mein munterer Sprößling«, sagte der Oberst leise. »Sie wissen, daß ich dieses Wurm da eines Tages irgendwo unterbringen muß. Ich rechne dabei auf Sie. Ich schwanke noch zwischen der Gerichts und der Verwaltungslaufbahn ... Gib deinem guten Freund die Hand, Auguste, damit er sich deiner erinnert.«

Inzwischen hatte sich Frau Bouchard, die vor Ungeduld an ihrem Handschuh knabberte, erhoben und das Fenster zur Linken erreicht; Herrn d'Escorailles hatte sie mit einem Blick befohlen, ihr zu folgen. Ihr Gatte war bereits dort; die Ellbogen auf die Schutzstange gestützt, genoß er die Aussicht. Ihm gegenüber zitterte das Laub der großen Kastanienbäume des Tuileriengartens in der heißen Sonne, während von der Pont Royal bis zur Pont de la Concorde die Seine ihr blaues, ganz mit Lichtflittern übersätes Wasser wälzte.

Auf einmal wandte sich Frau Bouchard um und rief: »Oh, Herr Rougon, sehen Sie doch nur!«

Und als sich Rougon beeilte, den Oberst zu verlassen, um ihrem Wunsch zu entsprechen, zog sich Du Poizat, der der jungen Frau nachgegangen war, diskret zurück und gesellte sich wieder zu Herrn Kahn, der am Mittelfenster stand.

»Sehen Sie doch, der mit Ziegeln beladene Kahn da wäre beinahe gekentert«, plapperte Frau Bouchard.

Rougon blieb bereitwillig dort in der Sonne stehen, bis Herr d'Escorailles, auf einen abermaligen Blick der jungen Frau hin, zu ihm sagte: »Herr Bouchard will um seine Entlassung einkommen. Wir haben ihn mitgebracht, damit Sie ihm Vernunft predigen.«

Darauf erklärte Herr Bouchard, daß ihn die Ungerechtigkeiten empörten.

»Ja, Herr Rougon, ich habe als Sekretär im Innenministerium angefangen, und ich habe es bis zum Bürovorsteher gebracht, ohne etwas der Begünstigung oder irgendwelchen Ränken zu verdanken ... Bürovorsteher bin ich seit dem Jahre siebenundvierzig. Nun gut! Inzwischen ist der Posten des Abteilungschefs schon fünfmal frei geworden, viermal während der Republik und einmal unter dem Kaiserreich, ohne daß der Minister an mich, der ich der Rangordnung nach Anspruch darauf habe, gedacht hätte ... Jetzt werden Sie das Versprechen, das Sie mir gegeben haben, nicht mehr einlösen können, und ich will lieber abgehen.«

Rougon mußte ihn beschwichtigen. Der Posten sei immerhin noch nicht an einen anderen vergeben; wenn er ihm auch diesmal entgehe, so sei das nur eine verpaßte Gelegenheit, eine Gelegenheit, die sich gewiß wieder einmal ergeben werde. Dann ergriff Rougon Frau Bouchards Hände und machte ihr auf eine väterliche Art Komplimente. Das Haus des Bürovorstehers war das erste gewesen, wo er nach seiner Ankunft in Paris empfangen worden war. Dort hatte er den Oberst getroffen, ein Geschwisterkind des Bürovorstehers. Später, als Herr Bouchard mit vierundfünfzig Jahren seinen Vater beerbte und ganz plötzlich von dem Wunsch gepackt wurde, sich zu verheiraten, hatte Rougon Frau Bouchard, geborene Adèle Desvignes, einer sehr wohlerzogenen jungen Dame aus einer angesehenen Familie in Rambouillet, als Trauzeuge gedient. Der Bürovorsteher hatte ein junges Mädchen aus der Provinz haben wollen, weil er auf Ehrbarkeit hielt. Adèle, blond, klein und bestrickend mit der ein wenig faden Naivität ihrer blauen Augen, war nach vier Ehejahren bei ihrem dritten Liebhaber angelangt.

»Nun, machen Sie sich keinen Kummer«, sagte Rougon, der noch immer ihre Handgelenke mit seinen großen Händen umklammert hielt, »Sie wissen genau, daß man alles tut, was Sie wünschen ... Jules wird Ihnen an einem der nächsten Tage berichten, wie die Dinge stehen.«

Und er nahm Herrn d'Escorailles beiseite und teilte ihm mit, daß er selber an diesem Morgen an dessen Vater geschrieben habe, um ihn zu beruhigen. Der junge Auditeur solle ruhig seine Stellung beibehalten. Die Familie d'Escorailles war eine der ältesten Familien in Plassans, wo sie allgemeine Verehrung genoß. Deshalb setzte Rougon, der früher in schiefgetretenen Schuhen an dem Palais des alten Marquis, des Vaters von Jules, vorbeigegangen war, seinen Stolz darein, den jungen Mann zu protegieren. Die Familie trieb noch immer einen frommen Kult mit Heinrich V.23, gleichzeitig aber ließ sie es zu, daß sich ihr Kind dem Kaiserreich verband. Das kam von den abscheulichen Zeiten.

Am Mittelfenster, das sie geöffnet hatten, um besser abgesondert zu sein, unterhielten sich Herr Kahn und Du Poizat und sahen dabei auf die fernen Dächer der Tuilerien hinaus, die in dem flimmernden Sonnenlicht bläulich schimmerten. Sie fühlten einander auf den Zahn, gaben abgerissene, von großen Pausen unterbrochene Worte von sich, Rougon sei zu heftig, er hätte sich nicht über die RodriguezAngelegenheit ärgern dürfen, die sich so leicht beilegen lasse. Dann murmelte Herr Kahn mit abwesendem Blick, als spräche er zu sich selber: »Man weiß, daß man fällt, aber man weiß nie, ob man wieder aufsteht.«

Du Poizat tat, als habe er nichts gehört. Und lange danach sagte er: »Oh, er ist ein sehr starker Kerl.«

Da drehte sich der Abgeordnete plötzlich um und sprach, den anderen fest ansehend, sehr schnell: »Unter uns gesagt, mir ist bange um ihn. Er spielt mit dem Feuer ... Gewiß, wir sind seine Freunde, und es ist nicht die Rede davon, ihn im Stich zu lassen. Ich lege nur Wert darauf, festzustellen, daß er bei dem allen sehr wenig an uns gedacht hat ... So habe ich zum Beispiel ungeheuer große und wichtige Dinge unter den Händen, die er mit seinem unüberlegten Vorgehen gefährdet hat. Er hätte kein Recht, es mir zu verübeln, wenn ich jetzt an eine andere Tür klopfte, nicht wahr? Denn schließlich erleide nicht ich allein Schaden, sondern auch die Bevölkerung.«

»Man muß an eine andere Tür klopfen«, wiederholte Du Poizat mit einem Lächeln.

Herr Kahn aber rückte, von plötzlichem Zorn ergriffen, mit seiner wahren Meinung heraus.

»Soll man es für möglich halten! – Dieser verteufelte Bursche bringt einen mit jedem auseinander. Wenn man zu seiner Clique gehört, ist es, als stände es einem an der Stirn geschrieben.«

Er beruhigte sich, seufzte und schaute zum Are de Triomphe hinüber, dessen leicht graue Steinmasse über die grünen Flächen der ChampsElysées hinausragte.

Bedächtig sagte er: »Was will man machen? Ich bin nun mal von einer blödsinnigen Treue.«

Seit einem Augenblick stand der Oberst hinter den beiden Herren.

»Die Treue ist der Pfad der Ehre«, sprach er mit seiner soldatischen Stimme.

Du Poizat und Herr Kahn traten auseinander, um dem Oberst Platz zu machen, der fortfuhr: »Rougon lädt heute eine Schuld gegen uns auf sich. Rougon ist nicht mehr sein eigener Herr.«

Diese Worte hatten eine ungeheure Wirkung. Nein, Rougon war gewiß nicht mehr sein eigener Herr. Und man mußte ihm das deutlich sagen, damit er seine Pflichten begriff. Alle drei senkten die Stimme, trafen heimliche Vereinbarungen, machten einander Hoffnungen. Von Zeit zu Zeit wandten sie sich um, warfen einen raschen Blick in das große Zimmer, um zu sehen, ob nicht einer der Freunde den großen Mann zu lange mit Beschlag belege.

Jetzt sammelte der große Mann die Aktenstöße zusammen, wobei er sich gleichzeitig mit Frau Bouchard weiterunterhielt. Die Charbonnels aber waren in der Ecke, wo sie sich bis dahin stumm und verlegen aufgehalten hatten, in einen Wortstreit geraten. Zweimal hatten sie versucht, Rougons habhaft zu werden, der sich von dem Oberst Und der jungen Frau hatte entführen lassen. Schließlich schob Herr Charbonnel seine Frau auf ihn zu.

»Heute morgen«, stammelte sie, »haben wir einen Brief von Ihrer Mutter erhalten ...«

Er ließ sie nicht ausreden. Er selber führte, abermals die Akten ohne übermäßige Gereiztheit im Stich lassend, die Charbonnels in die rechte Fensternische.

»Wir haben einen Brief von Ihrer Mutter erhalten«, wiederholte Frau Charbonnel.

Und sie wollte ihm den Brief vorlesen, als er ihn ihr wegnahm, um ihn mit einem Blick zu überfliegen.

Die Charbonnels, ehemalige Ölhändler aus Plassans, waren die Schützlinge Frau Félicités, wie man Rougons Mutter in der kleinen Stadt, in der sie lebte, zu nennen pflegte. Sie hatte die Charbonnels anläßlich eines Gesuchs, das sie dem Staatsrat einreichen wollten, zu ihm geschickt. Der Sohn eines Vetters von ihnen, ein gewisser Chevassu, Anwalt in Faverolles, der Hauptstadt des benachbarten Departements, hatte bei seinem Ableben den Schwestern von der Heiligen Familie ein Vermögen von fünfhunderttausend Francs vermacht. Die Charbonnels, die niemals mit dieser Erbschaft gerechnet hatten, nun aber plötzlich durch den Tod eines Bruders des Verblichenen zu Erben geworden waren, klagten laut über Erbschleicherei; und als die Gemeinde vom Staatsrat die Ermächtigung erbat, das Legat anzunehmen, verließen sie ihren alten Wohnsitz Plassans und eilten nach Paris, wo sie sich im Hôtel du Périgord in der Rue Jacob einmieteten, um ihre Angelegenheit aus der Nähe zu verfolgen. Und diese Angelegenheit zog sich schon sechs Monate hin.

»Wir sind sehr traurig«, seufzte Frau Charbonnel, während Rougon den Brief las. »Ich wollte ja nichts von diesem Prozeß hören. Aber mein Mann sagte immer wieder, mit Ihrer Hilfe sei uns das Geld sicher, Sie brauchten nur ein Wort zu sagen, und die fünfhunderttausend Francs flössen in unsere Tasche ... Nicht wahr, Charbonnel?«

Der ehemalige Ölhändler schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Das war ein Betrag«, fuhr die Frau fort, »dafür lohnte es sich, seine bisherige Lebensweise auf den Kopf zu stellen ... Ach ja, sie ist auf den Kopf gestellt worden, unsere Lebensweise! Denken Sie doch, Herr Rougon, noch gestern hat sich das Zimmermädchen geweigert, uns frische Handtücher zu geben! Das mir, die ich in Plassans fünf Schränke voll Wäsche habe!«

Und sie beklagte sich weiter bitter über Paris, das sie verabscheue.

Sie waren für acht Tage hierhergekommen, später hatten sie sich, da sie von Woche zu Woche hofften, abreisen zu können, nichts nachschicken lassen. Jetzt, als die Sache kein Ende nahm, ließen sie es eigensinnig bei ihrem möblierten Zimmer bewenden, aßen, was das Hausmädchen ihnen gerade brachte, und saßen ohne Wäsche, ja fast ohne Kleidungsstücke da. Sie hatten nicht einmal eine Bürste, und Frau Charbonnel frisierte sich mit einem zerbrochenen Kamm. Zuweilen setzten sie sich auf ihren kleinen Koffer und weinten vor Erschöpfung und Wut.

»Und dieses Hôtel hat so zweideutige Gäste!« murmelte Herr Charbonnel mit großen verstörten Augen. »Da wohnt ein junger Mann neben uns. Man hört da Sachen ...«

Rougon faltete den Brief zusammen.

»Meine Mutter«, sagte er, »gibt Ihnen den ausgezeichneten Rat, sich zu gedulden. Ich kann Sie nur auffordern, sich mit einem neuen Vorrat an Mut zu wappnen ... Ihr Prozeß scheint mir gut zu stehen; aber nun bin ich abgegangen, und da wage ich Ihnen nichts mehr zu versprechen.«

»Morgen verlassen wir Paris!« schrie Frau Charbonnel in einem Anfall von Verzweiflung.

Doch kaum hatte sie diesen Schrei ausgestoßen, als sie ganz blaß wurde. Herr Charbonnel mußte sie stützen. Und einen Augenblick lang standen sie wortlos da, sahen einander mit zitternden Lippen an und hätten am liebsten geweint. Es wurde ihnen schwach, ein jäher Schreck befiel sie, als seien ganz plötzlich die fünfhunderttausend Francs vor ihren Augen zerronnen.

Rougon fuhr herzlich fort: »Sie haben es mit einem starken Gegner zu tun. Monsignore24 Rochart, der Bischof von Faverolles, ist persönlich nach Paris gekommen, um die Eingabe der Schwestern von der Heiligen Familie25 zu unterstützen. Ohne sein Dazwischentreten hätten Sie schon lange gewonnenes Spiel. Der Klerus ist heute leider sehr mächtig ... Aber ich lasse hier Freunde zurück, ich hoffe, etwas tun zu können, ohne selber in Erscheinung zu treten. Sie haben so lange gewartet, daß, wenn Sie morgen abreisten ...«

»Wir werden bleiben. Wir werden bleiben«, beeilte sich Frau Charbonnel zu stammeln. »Ach, Herr Rougon, diese Erbschaft wird uns teuer zu stehen kommen!«

Rougon machte sich eifrig wieder an seine Papiere. Er ließ einen befriedigten Blick durch den Raum schweifen, erleichtert, weil er niemanden mehr sah, der ihn noch in eine Fensternische hätte führen können; die ganze Clique war abgespeist. In wenigen Minuten brachte er seine Arbeit ein gutes Stück weiter. Er besaß eine brutale Heiterkeit, mit der er sich über die Leute lustig machte, um sich für den Verdruß zu rächen, den man ihm verursachte. Eine Viertelstunde lang wurde er furchtbar für seine Freunde, deren Geschichten er sich eben noch mit soviel Wohlwollen angehört hatte. Er trieb es so weit, er zeigte sich so schroff gegen die hübsche Frau Bouchard, daß sich die Augen der jungen Frau mit Tränen füllten, obwohl sie nicht zu lächeln aufhörte. Die Freunde, an solche Keulenschläge gewöhnt, lachten. Niemals war es besser um ihre Angelegenheiten bestellt als in den Stunden, da Rougon seine Fäuste auf ihrem Nacken übte.

In diesem Augenblick wurde leise an die Tür geklopft.

»Nein, nein, machen Sie nicht auf!« rief er Delestang zu, der aufgesprungen war. »Will man mich etwa zum Narren halten! Mir dröhnt schon der Kopf!«

Und als man die Tür heftiger erschütterte, knurrte er zwischen den Zähnen: »Ach, wie würde ich diesen Merle hinauspfeffern, wenn ich hierbliebe!«

Es klopfte nicht mehr. Auf einmal aber tat sich in einer Ecke des Zimmers eine kleine Tür auf, durch die sich ein riesiger Frauenrock aus blauer Seide rücklings hereinzwängte. Und dieser sehr helle, reich mit Bandschleifen verzierte Rock verhielt dort einen Augenblick, halb schon im Zimmer, ohne daß man etwas anderes sah. Draußen sprach lebhaft eine ganz zarte Frauenstimme.

»Herr Rougon!« rief die Dame, endlich ihr Gesicht zeigend. Es war Frau Correur in einem mit einem Rosensträußchen garnierten Hut.

Rougon, der wütend, die Fäuste geballt, näher gekommen war, ergab sich in sein Schicksal, drückte der Eintretenden die Hand und dienerte.

»Ich habe Merle gefragt, wie es ihm hier gefällt«, sagte Frau Correur und ließ dabei ihren Blick zärtlich auf dem großen Kerl von Türhüter ruhen, der aufrecht und lächelnd vor ihr stand. »Und Sie, Herr Rougon, sind Sie mit ihm zufrieden?«

»Aber ja, gewiß doch«, erwiderte Rougon liebenswürdig.

Merle behielt sein verzücktes Lächeln, die Augen starr auf Frau Correurs üppigen Hals gerichtet. Sie warf sich in die Brust, brachte mit einer Hand die Locken an den Schläfen in Ordnung.

»Es geht also gut, junger Mann«, sagte sie. »Wenn ich jemanden unterbringe, möchte ich, daß alle zufrieden sind ... Und wenn Sie einen Rat brauchen sollten, so kommen Sie zu mir, morgens, Sie wissen ja, zwischen acht und neun. Also, seien Sie brav.«

Und mit den an Rougon gerichteten Worten: »Nichts geht über die ehemaligen Soldaten«, trat sie ganz in das Arbeitszimmer. Dann gab sie ihn nicht mehr frei; sie führte ihn mit kleinen Schritten zu dem Fenster am anderen Ende und zwang ihn so, den ganzen Raum zu durchqueren. Sie schalt ihn, weil er nicht aufgemacht hatte. Wenn sich Merle nicht bereit gefunden hätte, sie durch die kleine Tür hereinzulassen, hätte sie also draußen bleiben müssen? Doch Gott wisse, wie nötig es für sie sei, ihn zu sprechen! Denn schließlich könne er doch nicht einfach weggehen wollen, ohne ihr zu sagen, wie es um ihre Bittgesuche stehe. Sie zog ein kleines, sehr kostbares, in rosa Moiré gebundenes Notizbuch aus der Tasche.

»Ich habe den ›Moniteur‹ erst nach dem Frühstück gesehen«, sagte sie. »Ich habe sofort eine Droschke genommen ... Hören Sie, wie steht es mit der Angelegenheit von Frau Leturc, der Hauptmannswitwe, die um einen Tabakladen bittet? Ich habe ihr für nächste Woche eine Entscheidung versprochen ... Und die Sache jener jungen Dame, Sie wissen schon, Herminie Billecoq, eine frühere Schülerin von Saint Denis26, die ihr Verführer, ein Offizier, zu heiraten eingewilligt hat, falls irgendeine ehrliche Seele die vorgeschriebene Mitgift vorstrecken will. Wir hatten an die Kaiserin gedacht ... Und all die anderen Damen, Frau Chardon, Frau Testanière, Frau Jalaguier, die seit Monaten warten?«

Rougon antwortete in aller Ruhe, erklärte die Verzögerungen, ging auf die geringsten Einzelheiten ein. Er gab Frau Correur jedoch zu verstehen, daß sie von nun an sehr viel weniger auf ihn zählen dürfe. Da wurde sie tieftraurig. Es beglücke sie doch so sehr, anderen zu helfen! Was denn aus ihr und allen diesen Damen werden solle? Und sie endete damit, von ihren persönlichen Angelegenheiten zu sprechen, die Rougon genau kannte. Sie wiederholte, daß sie eine Martineau sei, von den Martineaus in Coulonges, einer guten Familie aus der Vendée, in der man bis zu sieben aufeinanderfolgende Generationen Notare nachweisen könne. Niemals ließ sie sich deutlich darüber aus, wie sie selber zu dem Namen Correur gekommen war. Im Alter von vierundzwanzig Jahren war sie mit einem Metzgerburschen durchgebrannt, nachdem sie sich einen ganzen Sommer lang mit ihm in einem Schuppen getroffen hatte. Ihr Vater hatte unter dem Schlag dieses Skandals, einer Ungeheuerlichkeit, von der man noch jetzt in jener Gegend sprach, sechs Monate lang mit dem Tode gerungen. Seit jener Zeit lebte sie in Paris, für ihre Familie sozusagen gestorben. Zehnmal hatte sie an ihren Bruder, der jetzt dem Notariat vorstand, geschrieben, ohne ihn zu einer Antwort bewegen zu können; und dieses Schweigen legte sie ihrer Schwägerin zur Last; »eine Frau, die es mit den Pfaffen hält, die diesen Dummkopf Martineau an der Nase herumführt«, sagte sie. Eine ihrer fixen Ideen war, wie Du Poizat nach Coulonges zurückzukehren, um sich dort als sehr wohlhabende und geachtete Frau zu zeigen.

»Noch vor acht Tagen habe ich geschrieben«, murmelte sie. »Ich wette, sie wirft meine Briefe ins Feuer ... Dennoch müßte sie mir, wenn Martineau stürbe, das Haus ganz weit auftun. Sie haben keine Kinder, ich würde wichtige Angelegenheiten zu regeln haben. Martineau ist fünfzehn Jahre älter als ich und leidet, wie man mir erzählt hat, an Gicht.«

Dann änderte sie plötzlich den Ton und sagte: »Nun, denken wir nicht mehr an all das ... Jetzt geht es darum, daß man sich für Sie einsetzt, nicht wahr, Eugène? Und man wird sich einsetzen, das werden Sie sehen. Es ist unbedingt nötig, daß Sie alles sind, damit wir überhaupt etwas sind ... Erinnern Sie sich noch an einundfünfzig?«

Rougon lächelte. Und als sie ihm mütterlich beide Hände drückte, neigte er sich zu ihrem Ohr und flüsterte: »Falls Sie Gilquin sehen, sagen Sie ihm, er solle vernünftig sein. Hat er es sich doch in der vorigen Woche einfallen lassen, nachdem er sich so benommen hatte, daß man ihn auf die Wache brachte, meinen Namen anzugeben, damit ich hingehen und seine Freilassung fordern sollte!«

Frau Correur versprach, mit Gilquin zu reden, einem ihrer früheren Mieter aus jener Zeit, da Rougon im Hôtel Vanneau wohnte, einem sehr nützlichen Burschen, wenn es darauf ankam, der aber von einer recht kompromittierenden Liederlichkeit war.

»Ich habe eine Droschke unten, ich mache mich davon«, sagte sie mit einem Lächeln und sehr laut, während sie in die Mitte des Zimmers zurückkehrte.

Und trotzdem blieb sie noch einige Minuten, von dem Wunsch erfüllt, die ganze Clique mit ihr zugleich fortgehen zu sehen. Um einen allgemeinen Aufbruch herbeizuführen, bot sie sogar an, jemanden in ihrer Droschke mitzunehmen. Der Oberst nahm an, und man kam überein, daß der kleine Auguste neben dem Kutscher sitzen solle. Dann begann ein großes Händeschütteln. Rougon hatte sich in die Nähe der weit offenen Tür gestellt. Alle, die an ihm vorbeigingen, sprachen ihm noch einmal mit ein paar phrasenhaften Worten ihre Anteilnahme aus. Herr Kahn, Du Poizat und der Oberst reckten den Hals, flüsterten ihm ganz leise etwas ins Ohr, damit er sie nicht vergäße. Die Charbonnels waren schon auf der obersten Treppenstufe, und Frau Correur plauderte im Hintergrund des Vorzimmers mit Merle, während sich Frau Bouchard, auf die in ein paar Schritt Entfernung Herr d'Escorailles und ihr Gatte warteten, noch sehr anmutig, sehr sanft bei Rougon versäumte und ihn fragte, zu welcher Stunde sie ihn ganz allein in der Rue Marbeuf sprechen könne, weil sie in Gegenwart anderer allzu blöd sei. Als aber der Oberst sie diese Bitte äußern hörte, machte er plötzlich kehrt; die anderen folgten ihm, alle kamen wieder herein.

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