Kitabı oku: «Seine Exzellenz Eugene Rougon», sayfa 5
»Wir alle werden Sie besuchen!« rief der Oberst.
»Sie dürfen sich nicht vergraben«, sagten mehrere Stimmen.
Herr Kahn bat mit einer Handbewegung um Ruhe. Dann gab er den großartigen Satz von sich: »Sie gehören nicht mehr sich selbst, Sie gehören Ihren Freunden und Frankreich.«
Und endlich brachen sie auf. Rougon konnte die Tür wieder schließen. Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Da kam Delestang, den er ganz vergessen hatte, hinter dem Haufen Pappkästen hervor, in dessen Schutz er soeben als gewissenhafter Freund das Ordnen der Papiere beendet hatte. Er war ein wenig stolz auf seine Leistung. Er handelte, indes die anderen redeten. So nahm er denn auch mit wahrem Genuß die lebhaften Dankesbezeigungen des großen Mannes entgegen. Nur er verstehe wirklich, einem hilfreich zu sein; er habe Sinn für Ordnung und eine Arbeitsweise, womit er es weit bringen werde. Und Rougon fand noch mehrere andere schmeichelhafte Dinge, ohne daß sich erkennen ließ, ob er sich nicht lustig machte. Dann, sich umwendend und einen Blick in alle Winkel werfend: »Aber nun sind wir, glaube ich, dank Ihrer fertig ... Man braucht nur noch Merle den Auftrag zu geben, diese Bündel da zu mir bringen zu lassen.«
Er rief den Türhüter, bezeichnete ihm seine persönlichen Akten.
Auf alle Anweisungen antwortete der Türhüter: »Jawohl, Herr Präsident!«
»Ach, Sie Trottel«, schrie Rougon schließlich gereizt, »nennen Sie mich doch nicht mehr Präsident, ich bin es ja nicht mehr!«
Merle verbeugte sich, machte einen Schritt auf die Tür zu und blieb zögernd stehen. Er kehrte zurück und sagte: »Unten ist eine Dame zu Pferde, die wünscht, Herrn ... Sie hat lachend erklärt, sie würde bestimmt heraufreiten, wenn nur die Treppe breit genug wäre ... Sie wollte dem Herrn nur die Hand drücken.«
Rougon ballte schon die Fäuste, weil er es für einen Scherz hielt. Aber Delestang, der durch ein Fenster des Treppenabsatzes geschaut hatte, kam angelaufen und murmelte mit sehr erregtem Gesicht: »Fräulein Clorinde!«
Da ließ Rougon ihr ausrichten, daß er hinunterkomme. Als Delestang und er dann nach ihren Hüten griffen, sah er ihn, erstaunt über seine Erregung, mit gerunzelten Brauen und argwöhnischer Miene an.
»Hüten Sie sich vor den Frauen!« wiederholte er.
Und von der Schwelle aus schenkte er dem Arbeitszimmer einen letzten Blick. Durch die drei offengebliebenen Fenster fiel das volle Tageslicht herein, beleuchtete grell die ausgeräumten Schränke, die umherliegenden Schubfächer, die verschnürten und mitten auf dem Teppich aufgehäuften Bündel. Das Arbeitszimmer sah sehr groß, sehr trübselig aus. Im Kamin hatte die Masse der in ganzen Packen verbrannten Schriftstücke nur eine kleine Schaufel voll schwarzer Asche zurückgelassen. Als er die Tür schloß, erlosch die auf einer Ecke des Schreibtisches vergessene Kerze, wobei der kristallene Leuchtereinsatz mit lautem Klang in der Stille des leeren Zimmers zersprang.
Kapitel III
Nachmittags gegen vier Uhr pflegte sich Rougon zuweilen für kurze Zeit zur Gräfin Balbi zu begeben. Er ging als Nachbar hin, zu Fuß. Die Gräfin bewohnte ein kleines Palais, ein paar Schritte von der Rue Marbeuf entfernt, an der Avenue des ChampsElysées. Übrigens war sie selten zu Hause; und wenn sie zufällig anwesend war, lag sie zu Bett und ließ sich entschuldigen. Das verhinderte nicht, daß das Treppenhaus des kleinen Palais von einem Heidenlärm geräuschvoller Besucher erfüllt war und daß unaufhörlich die Türen der Salons schlugen. Ihre Tochter Clorinde empfing in einem langen schmalen Raum, einer Art Maleratelier, das nach der Avenue zu große verglaste Öffnungen hatte.
Fast drei Monate lang hatte sich Rougon mit der Brutalität eines keuschen Mannes dem entgegenkommenden Verhalten dieser Damen gegenüber, die sich ihm auf einem Ball des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten hatten vorstellen lassen, sehr ablehnend benommen. Er begegnete ihnen überall, stets zeigten die beiden das gleiche auffordernde Lächeln, immer schwieg die Mutter, sprach das junge Mädchen anmaßend und sah ihm gerade in die Augen. Und er war standhaft, er mied sie, schlug die Augen nieder, um sie nicht zu sehen, lehnte die Einladungen ab, die sie ihm zukommen ließen. Immer wieder bedrängt, verfolgt bis in sein Haus hinein, an dem Clorinde mit Vorliebe vorbeizureiten schien, zog er dann Erkundigungen ein, bevor er sich zu ihnen wagte.
In der italienischen Botschaft äußerte man sich zu ihm sehr günstig über diese Damen: den Grafen Balbi habe es tatsächlich gegeben; die Gräfin unterhalte hohe Beziehungen in Turin; die Tochter schließlich sei noch im vergangenen Jahr nahe daran gewesen, einen kleinen deutschen Fürsten zu heiraten. Aber als sich Rougon anschließend an die Herzogin Sanquirino wandte, sah die Sache ganz anders aus. Dort versicherte man ihm, Clorinde sei zwei Jahre nach dem Tode des Grafen geboren; übrigens gehe eine sehr verwickelte Legende über das Ehepaar Balbi um, der zufolge Mann und Frau eine Menge Abenteuer hinter sich hätten, beiderseits Ausschweifungen, eine in Frankreich ausgesprochene Scheidung, eine in Italien überraschend vollzogene Aussöhnung, nach der sie in einer Art wilder Ehe gelebt hätten. Ein junger Botschaftsattaché, sehr auf dem laufenden über das, was sich am Hofe Viktor Emanuels27 zutrug, wurde noch deutlicher: wenn die Gräfin dort unten noch Einfluß besitze, so verdanke sie das seiner Ansicht nach einem früheren Liebesverhältnis mit einer sehr hochgestellten Persönlichkeit; und er ließ durchblicken, daß sie in Turin geblieben sein würde, hätte sich nicht ein gewisser ungeheurer Skandal ereignet, über den er sich nicht näher auslassen könne. Rougon, allmählich von dem Reiz seiner Nachforschungen gepackt, ging bis zur Polizeipräfektur, wo er nichts Genaues ermitteln konnte; die Akten über die beiden Ausländerinnen stellten diese lediglich als zwei Frauen dar, die auf großem Fuß lebten, ohne daß etwas von einem ihnen gehörenden soliden Vermögen bekannt gewesen wäre. Sie behaupteten, Güter in Piemont zu besitzen. Tatsächlich war es zuweilen mit ihrem Aufwand plötzlich zu Ende; dann verschwanden sie auf einmal, um bald in neuem Glanz wieder aufzutauchen. Kurz, man wußte nichts über sie; man zog es vor, nichts zu wissen. Sie verkehrten in der besten Gesellschaft, ihr Haus wurde als neutraler Boden anerkannt, auf dem man Clorindes Überspanntheit als eine fremdländische Blüte duldete. Rougon entschloß sich, diese Damen zu besuchen.
Beim dritten Besuch hatte die Neugier des großen Mannes zugenommen. Er war von einer schwerfälligen Sinnlichkeit, die nur sehr langsam erwachte. Was ihn zunächst an Clorinde anzog, war das Prickelnde des Unbekannten, ihre ganze Vergangenheit, eine sie völlig beherrschende Zukunftsvorstellung, die er auf dem Grunde dieser großen Augen, den Augen einer jungen Göttin, zu lesen vermeinte. Wohl hatte man ihm abscheuliche Geschichten erzählt von einer ersten Schwäche für einen Kutscher und von einem später mit einem Bankier abgeschlossenen Geschäft, der die Scheinjungfräulichkeit des Fräuleins aus dem kleinen Palais der ChampsElysées bezahlt habe. Aber in manchen Stunden erschien sie ihm so kindlich, daß er zu zweifeln begann, sich fest vornahm, sie zu Geständnissen zu bewegen, und wiederkam, um das Geheimnis dieses seltsamen Mädchens zu ergründen, die, ein lebendes Rätsel, ihn schließlich ebensosehr beschäftigte wie ein schwieriges Problem der hohen Politik. Bis dahin war er ein Frauenverächter gewesen, und die erste, an die er geriet, war bestimmt der komplizierteste Mechanismus, den man sich vorstellen konnte.
Am Tage nach jenem, an dem Clorinde auf ihrem Mietspferd erschienen war, um Rougon an der Tür des Staatsrats teilnahmsvoll die Hand zu drücken, hatte er ihr einen Besuch gemacht, den sie übrigens nachdrücklich gefordert hatte. Sie müsse, hatte sie gesagt, ihm etwas zeigen, das ihn aus seiner trüben Stimmung reißen werde. Er nannte sie lachend »mein Laster«; er vergaß gern bei ihr die Zeit, belustigt, geschmeichelt, aufmerksamen Geistes, um so mehr, als er noch an ihr herumbuchstabierte, womit er noch nicht weitergekommen war als am ersten Tag. Als er um die Ecke der Rue Marbeuf bog, warf er einen Blick in die Rue du Colisée, auf das Stadthaus Delestangs, den er schon mehrmals dabei ertappt zu haben glaubte, wie er, das Gesicht zwischen den halb geöffneten Sommerläden, von der anderen Seite der Avenue aus nach Clorindes Fenstern spähte; aber die Läden waren geschlossen, Delestang mußte wohl morgens auf sein Mustergut La Chamade gefahren sein.
Die Tür des Palais Balbi stand stets weit offen. Rougon traf am Fuß der Treppe eine kleine, dunkelhäutige, schlecht frisierte Frau in einem zerlumpten gelben Kleid, die wie in einen Apfel in eine Orange biß.
»Antonia, ist Ihre Herrin zu Hause?« fragte er sie.
Sie antwortete nicht, da sie den Mund voll hatte, bewegte nur heftig und lachend den Kopf. Ihre Lippen waren ganz verschmiert vom Orangensaft; sie kniff die kleinen Augen zusammen, die wie zwei Tintenflecke auf ihrer braunen Haut aussahen.
Rougon, bereits an die schlampige Dienerschaft des Hauses gewöhnt, ging hinauf. Im Treppenhaus kam er an einem baumlangen Diener mit dem Aussehen eines Banditen und einem langen schwarzen Bart vorbei, der ihn ruhig ansah, ohne ihm die Geländerseite freizugeben. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks fand er sich dann allein drei offenen Türen gegenüber. Die zur Linken führte in Clorindes Zimmer. Er war so vorwitzig, einen langen Hals zu machen. Obwohl es bereits vier Uhr war, war das Zimmer noch nicht aufgeräumt; ein vor dem Bett aufgestellter Wandschirm verdeckte zur Hälfte die herunterhängenden Decken, und über den Wandschirm geworfen, trockneten die untenherum ganz mit Schmutz bespritzten Röcke vom Tage zuvor. Vor dem Fenster stand auf dem Fußboden die mit Seifenwasser gefüllte Waschschüssel, während die Katze des Hauses, ein grauer Kater, zusammengerollt auf einem Haufen Kleidungsstücke schlief.
Clorinde hielt sich meist im zweiten Stock auf, in jenem Raum, aus dem sie nacheinander ein Atelier, ein Rauchzimmer, ein Treibhaus, einen Sommersalon gemacht hatte. Je weiter Rougon hinaufstieg, um so stärker vernahm er Stimmenlärm, helles Gelächter, das Gepolter stürzender Möbelstücke. Und als er vor der Tür angelangt war, unterschied er schließlich, daß ein schwindsüchtiges Klavier den Lärm anführte, während eine Stimme sang. Er klopfte zweimal, ohne Antwort zu erhalten. Da entschloß er sich, einzutreten.
»Ah! Bravo, bravo! Da ist er ja!« rief Clorinde und klatschte in die Hände.
Er, der für gewöhnlich schwer aus der Fassung zu bringen war, blieb einen Augenblick lang staunend auf der Schwelle stehen. Vor dem alten Klavier, auf das er wütend einhieb, um ihm weniger dünne Töne zu entlocken, saß der Cavaliere Rusconi, der italienische Botschafter, ein schöner Mann, brünett und, wenn es ihm gerade paßte, ein ernsthafter Diplomat. In der Mitte des Raumes walzte der Abgeordnete La Rouquette mit einem Stuhl, dessen Rücklehne er zärtlich mit den Armen an sich drückte, so hingerissen von seinem Schwung, daß er das Parkett mit umgestürzten Sitzgelegenheiten bestreut hatte. Und im grellen Licht eines der Fenster stand, einem jungen Mann gegenüber, der sie mit Reißkohle auf eine Leinwand zeichnete, mitten auf einem Tisch Clorinde mit nackten Schenkeln, nackten Armen, nackter Brust, völlig nackt und mit gelassener Miene Modell als Jagdgöttin Diana. Auf einem Kanapee saßen drei tiefernste Herren, rauchten dicke Zigarren und betrachteten, die Beine übereinandergeschlagen, das junge Mädchen, ohne ein Wort zu sprechen.
»Lassen Sie, rühren Sie sich nicht«, rief der Cavaliere Rusconi Clorinde zu, die vom Tisch herunterspringen wollte. »Ich werde die Vorstellung übernehmen.« Und von Rougon begleitet, sagte er scherzend, als sie an Herrn La Rouquette vorbeigingen, der atemlos in einen Sessel gesunken war: »Herr La Rouquette, den Sie kennen. Ein künftiger Minister.«
Dann fuhr er, sich dem Maler nähernd, fort: »Herr Luigi Pozzo, mein Sekretär, Diplomat, Maler, Musiker und Verliebter.«
Die drei Herren auf dem Kanapee vergaß er. Doch als er sich umwandte, bemerkte er sie; und er gab seinen scherzenden Ton auf, verneigte sich in ihrer Richtung und murmelte dabei in formvollendetem Ton: »Herr Brambilla, Herr Staderino, Herr Viscardi, alle drei politische Flüchtlinge.«
Die drei Venetianer verbeugten sich, ohne ihre Zigarren aus der Hand zu legen. Der Cavaliere Rusconi kehrte gerade ans Klavier zurück, als Clorinde ihn heftig schalt und ihm vorwarf, er sei ein schlechter Zeremonienmeister. Und ihrerseits auf Rougon weisend, sagte sie einfach, aber mit einer besonderen, sehr schmeichelhaften Betonung: »Herr Eugène Rougon.«
Man verbeugte sich abermals. Rougon, der einen Augenblick lang irgendeinen unpassenden Scherz befürchtet hatte, war überrascht von dem plötzlichen Takt und der Würde dieses großen Mädchens, das da halbnackt in seinem Gazegewand stand. Er setzte sich und erkundigte sich nach dem Befinden der Gräfin Balbi, wie es seine Gepflogenheit war; er tat sogar bei jedem Besuch so, als gelte er der Mutter, was ihm schicklicher erschien.
»Ich hätte mich sehr gefreut, ihr persönlich meine Aufwartung machen zu dürfen«, fügte er hinzu, die Formel anwendend, die er in diesem Fall zu gebrauchen pflegte.
»Aber Mama ist ja hier«, sagte Clorinde, mit dem Ende ihres Bogens aus vergoldetem Holz auf eine Ecke des Raumes deutend.
Und die Gräfin war tatsächlich da; hinter Möbelstücken verborgen, lag sie in einem großen Sessel. Das löste allgemeines Erstaunen aus. Auch die drei politischen Flüchtlinge hatten offenbar nichts von ihrer Anwesenheit gewußt; sie standen auf und verbeugten sich. Rougon ging zu ihr und reichte ihr die Hand. Er blieb bei ihr stehen, und sie, immer noch ausgestreckt, antwortete einsilbig, mit jenem ständigen Lächeln, das sie niemals verließ, nicht einmal wenn sie litt. Dann versank sie wieder in ihre Schweigsamkeit, war zerstreut, blickte seitlich auf die Avenue hinaus, wo ein Strom von Wagen entlangrollte. Sie hatte sich zweifellos hierhergesetzt, um dem Verkehr zuzusehen. Rougon ließ sie allein.
Inzwischen suchte der Cavaliere Rusconi, der wieder am Klavier saß, leise die Tasten anschlagend und mit halber Stimme italienische Worte vor sich hin singend, nach einer Melodie. Herr La Rouquette fächelte sich mit seinem Taschentuch. Clorinde hatte sehr ernst ihre Pose wieder eingenommen. Und Rougon ging in der plötzlich entstandenen Stille gemächlich auf und ab und betrachtete die Wände. Der Raum war mit einem erstaunlichen Durcheinander von Gegenständen vollgestopft: allerlei Möbelstücke, ein Schreibtisch, eine Truhe, mehrere Tische – alles in die Mitte geschoben –, schufen ein Labyrinth enger Gänge; an einem Ende welkten, schief aneinandergelehnt, ausrangierte Treibhauspflanzen, deren herabhängende grüne Wedel ganz von Rost zerfressen waren; am anderen Ende aber lag ein großer Haufen trocken gewordenen Tons, zwischen dem man noch die zerbröckelten Arme und Beine einer Statue erkannte, an der sich Clorinde versucht hatte, als sie eines schönen Tages von der Laune gepackt worden war, Künstlerin zu werden. Der sehr ausgedehnte Raum bot in der Tat an freiem Raum nur einen kleinen Platz vor einem der Fenster, eine Art viereckiger Lücke, die man mit zwei Kanapees und drei nicht zueinander passenden Sesseln in einen kleinen Salon verwandelt hatte.
»Sie dürfen rauchen«, sagte Clorinde zu Rougon.
Er dankte, er rauche nie. Sie, ohne sich umzuwenden, rief: »Cavaliere, drehen Sie mir doch eine Zigarette. Tabak muß vor Ihnen auf dem Klavier stehen.«
Und während der Cavaliere die Zigarette drehte, trat wieder Schweigen ein. Rougon, ärgerlich darüber, all diese Leute hier zu finden, wollte gehen und seinen Hut holen. Er trat jedoch wieder vor Clorinde hin, den Kopf erhoben, fragte lächelnd: »Haben Sie mich nicht gebeten, vorbeizukommen, weil Sie mir etwas zeigen wollten?«
Sehr ernst, ganz mit dem Modellstehen beschäftigt, antwortete sie nicht sogleich. Er mußte nochmals fragen: »Was wollten Sie mir denn zeigen?«
»Mich«, sagte sie.
Sie sagte das in einem überlegenen Ton, ohne jede Geste, in ihrer Göttinnenpose auf dem Tisch stehend. Rougon, nun seinerseits sehr ernst, trat einen Schritt zurück, betrachtete sie lange. Und sie war wirklich prachtvoll mit ihrem reinen Profil, ihrem schlanken Hals, den eine abfallende Linie mit den Schultern verband. Vor allem besaß sie jene königliche Schönheit, die Schönheit der Büste. Ihre runden Arme und Beine schimmerten wie Marmor. Ein wenig gebogen dadurch, daß sie die linke Hüfte leicht vorgeschoben hatte, streckte sie die rechte Hand in die Luft und bot so den Blicken eine lange, sehr wirkungsvolle und geschmeidige, in der Taille eingebogene, am Schenkel ausgebogene Linie von der Achselhöhle bis zur Ferse. Mit der anderen Hand stützte sie sich in der ruhig kraftvollen Haltung der antiken Jagdgöttin auf ihren Bogen, unbekümmert um ihre Nacktheit, der Liebe der Männer nicht achtend, kalt, hoheitsvoll, unsterblich.
»Sehr hübsch, sehr hübsch«, murmelte Rougon, der nicht wußte, was er sagen sollte.
In Wahrheit war ihm ihre statuenhafte Regungslosigkeit unbehaglich. Sie schien so sieghaft, so davon überzeugt, klassisch schön zu sein, daß er, wenn er es gewagt hätte, Kritik an ihr geübt haben würde wie an einem Marmorbild, das seine spießbürgerlichen Augen durch gewisse Effekte beleidigte; er hätte eine zierlichere Taille, weniger breite Hüften, eine höher angesetzte Brust vorgezogen. Dann wandelte ihn ein brutales Gelüst an, ihr in die Wade zu greifen. Er mußte etwas zurücktreten, um diesem Gelüst nicht nachzugeben.
»Haben Sie genug gesehen?« fragte Clorinde, immer noch ernst und von sich überzeugt. »Warten Sie, jetzt kommt etwas anderes.«
Und auf einmal war sie nicht mehr Diana. Sie ließ ihren Bogen fallen, sie wurde Venus. Die Hände hinter den Kopf gehoben und in ihren Haarknoten verschlungen, den Oberkörper etwas zurückgebogen, so daß sich die Spitzen der Brüste hoben, lächelte sie, öffnete ein wenig die Lippen und ließ den Blick schweifen, das Gesicht plötzlich wie in Sonne gebadet. Sie wirkte kleiner und als habe sie fleischigere Glieder, ganz vergoldet von einem Schauer des Begehrens, dessen warme Wellen er über ihre seidige Haut rieseln zu sehen vermeinte. Sie kauerte dort, bot sich dar, machte sich begehrenswert, sah aus wie eine unterwürfige Geliebte, die in einer Umarmung ganz und gar genommen werden will.
Herr Brambilla, Herr Staderino und Herr Viscardi spendeten ihr ernsthaft Beifall, ohne ihre finstere Verschwörerstarre aufzugeben.
»Bravo! bravo! bravo!«
Herr La Rouquette brach in Begeisterungsrufe aus, indes der Cavaliere Rusconi, der sich dem Tisch wieder genähert hatte, um dem jungen Mädchen die Zigarette zu reichen, mit verzücktem Blick stehenblieb und leicht den Kopf wiegte, als schlage er damit den Takt seiner Bewunderung.
Rougon sagte nichts. Er schlang die Hände so fest ineinander, daß seine Finger knackten. Ein leichter Kälteschauer hatte ihn soeben vom Nacken bis zu den Fersen überlaufen. Jetzt dachte er nicht mehr daran, fortzugehen; er richtete sich auf Bleiben ein. Sie aber hatte bereits laut lachend, die Zigarette rauchend und mit hochfahrend geschürzten Lippen ihren durch keine Kleidung behinderten Körper wieder aufgerichtet. Sie erzählte, daß sie brennend gern Schauspielerin geworden wäre, alles hätte sie darstellen können, Zorn, Zärtlichkeit, Keuschheit, Entsetzen; und mit einer Haltung, einem Mienenspiel deutete sie Charaktere an. Dann sagte sie ganz plötzlich: »Herr Rougon, möchten Sie, daß ich Sie spiele, wie Sie im Corps législatif reden?«
Sie blähte sich auf, warf sich in die Brust, schnaufend, die Fäuste vorwärtsschleudernd, mit einer so drolligen Mimik, so wahr in der Übertreibung, daß alle vor Entzücken vergingen. Rougon lachte wie ein Kind; er fand sie anbetungswürdig, sehr durchtrieben und sehr beunruhigend.
»Clorinda, Clorinda«, murmelte Luigi und klopfte leicht mit dem Malstock auf seine Staffelei.
Clorinde bewegte sich so viel, daß er nicht weiterarbeiten konnte. Er hatte die Reißkohle beiseite gelegt, um in der bemühten Art eines Schülers dünne Farben auf die Leinwand zu streichen. Inmitten des Gelächters blieb er ernst, warf flammende Blicke auf das junge Mädchen und sah mit einer schrecklichen Miene die Männer an, mit denen sie scherzte. Es war sein Einfall gewesen, sie in diesem Gewand der Jagdgöttin Diana zu malen, von dem seit dem letzten Botschaftsball ganz Paris sprach. Er bezeichnete sich als ihren Vetter, weil sie beide in derselben Straße von Florenz geboren waren. »Clorinda!« wiederholte er in zornigem Ton.
»Luigi hat recht«, sagte sie. »Sie sind nicht ganz gescheit, meine Herren; Sie vollführen einen Lärm! Arbeiten wir, arbeiten wir!«
Und sie nahm wieder ihre olympische Stellung ein. Abermals wurde sie zu einem schönen Marmorbild. Die Herren verharrten auf ihren Plätzen, regungslos, wie angewurzelt. Einzig Herr Rouquette wagte es, mit den Fingerspitzen einen leisen Trommelwirbel auf der Armlehne seines Sessels zu schlagen. Rougon, den Rücken weit hintenübergebogen, sah Clorinde an und geriet nach und nach ins Träumen, von Phantasien überfallen, in denen das junge Mädchen ins Maßlose wuchs. Eine Frau war trotz allem ein seltsamer Mechanismus! Nie war es ihm eingefallen, es zu erforschen. Er begann ungewöhnliche Schwierigkeiten zu ahnen. Für Sekunden hatte er ein sehr deutliches Vorgefühl von der Macht dieser nackten Schultern, die wohl fähig waren, eine Welt ins Wanken zu bringen. Clorinde dehnte sich vor seinen getrübten Augen immer mehr aus, versperrte ihm mit ihrer zu einer riesigen Statue gewordenen Gestalt das ganze Fenster. Doch er schloß und öffnete die Lider, und da fand er sie, sehr viel weniger groß als er selber, wieder auf dem Tisch. Nun mußte er lächeln; wenn er es gewollt hätte, würde er ihr wie einem kleinen Mädchen die Rute gegeben haben; und er wunderte sich, daß er sich einen Augenblick lang vor ihr gefürchtet hatte.
Unterdessen erhob sich am anderen Ende des Raumes ein gedämpftes Stimmengeräusch. Rougon hörte, wie es seine Gewohnheit war, aufmerksam hin, vernahm aber nichts als ein schnelles Murmeln italienischer Silben. Der Cavaliere Rusconi, der sich soeben hinter die Möbel geschlichen hatte, stützte sich, ehrerbietig der Gräfin zugeneigt, mit der Hand auf die Rücklehne ihres Sessels und schien ihr irgend etwas mit allen Einzelheiten zu erzählen. Die Gräfin begnügte sich damit, zustimmend zu nicken. Einmal jedoch machte sie eine Gebärde heftigen Abstreitens, und der Cavaliere beugte sich noch tiefer, beschwichtigte sie mit seiner singenden Stimme, die wie Vogelgezwitscher dahinplätscherte. Dank seiner Kenntnis des Provenzalischen erhaschte Rougon schließlich ein paar Worte, die ihn ernst stimmten.
»Mama«, rief plötzlich Clorinde, »hast du dem Cavaliere die gestern abend gekommene Depesche gezeigt?«
»Eine Depesche!« wiederholte der Cavaliere ganz laut.
Die Gräfin hatte aus einer ihrer Taschen einen Packen Briefe gezogen, in dem sie lange herumsuchte. Endlich reichte sie ihm ein ganz zerknittertes Stück blaues Papier. Sobald er es überflogen hatte, machte er eine überraschte und zornige Bewegung.
»Nanu!« rief er, die anwesende Gesellschaft vergessend, auf französisch, »das wissen Sie seit gestern! Ich aber habe diese Nachricht erst heute morgen erhalten!«
Clorinde brach in lautes Lachen aus, was ihn vollends ärgerlich machte.
»Und Frau Gräfin lassen mich ihr die Geschichte lang und breit erzählen, als wisse sie nichts davon! – Da ja der Sitz der Botschaft hier ist, werde ich jeden Tag herkommen und die Korrespondenz durchsehen.«
Die Gräfin lächelte. Sie blätterte noch immer in ihrem Briefpacken, nahm ein anderes Schriftstück heraus und ließ es ihn lesen. Diesmal schien er sehr befriedigt zu sein. Und die leise geführte Unterhaltung begann von neuem. Er hatte zu seinem ehrerbietigen Lächeln zurückgefunden. Als er die Gräfin verließ, küßte er ihr die Hand.
»So, damit wären die ernsten Angelegenheiten erledigt«, sagte er halblaut, als er sich wieder ans Klavier setzte.
Er hieb aus Leibeskräften einen in jenem Jahr sehr beliebten Gassenhauer herunter. Dann sprang er, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte, plötzlich auf, um seinen Hut zu holen.
»Sie gehen?« fragte Clorinde.
Sie winkte ihn heran, stützte sich auf seine Schulter, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Lachend schüttelte er den Kopf. Er murmelte: »Ganz großartig, ganz großartig ... Das werde ich denen da unten schreiben.« Und nachdem er sich verbeugt hatte, ging er hinaus.
Luigi hatte Clorinde, die auf dem Tisch hockte, durch einen Schlag mit seinem Malstock veranlaßt, sich wieder aufrecht hinzustellen.
Der Strom der Wagen, der die Avenue entlangrollte, langweilte die Gräfin auf die Dauer zweifellos, denn sobald sie das Kupee des Cavaliere, das inmitten der Landauer, die aus dem Bois de Boulogne28 kamen, verschwand, aus den Augen verloren hatte, zog sie an einer Klingelschnur hinter ihr. Der baumlange Diener mit dem Banditengesicht trat ein und ließ die Tür offen. Die Gräfin vertraute sich seinem Arm an, durchquerte, zwischen den Herren, die sich vor ihr verbeugten, hindurchschreitend, langsam den Raum. Sie dankte mit einem Kopfneigen, mit ihrem Lächeln. Auf der Schwelle wandte sie sich dann um und sagte zu Clorinde: »Ich habe meine Migräne, ich will mich ein Weilchen hinlegen.«
»Flaminio«, rief das junge Mädchen dem Bedienten zu, der ihre Mutter wegführte, »legen Sie ihr ein heißes Bügeleisen an die Füße!«
Die drei politischen Flüchtlinge nahmen nicht wieder Platz. Sie blieben noch einen Augenblick lang in einer Reihe stehen und kauten ihre Zigarren zu Ende, die sie alle mit der gleichen korrekten und wohlgezielten Bewegung in einen Winkel hinter dem Tonhaufen warfen. Und sie defilierten an Clorinde vorbei, gingen in feierlichem Zuge fort.
»Mein Gott«, sagte La Rouquette, der gerade ein ernstes Gespräch mit Rougon begonnen hatte, »ich weiß genau, daß die Zuckerfrage von großer Bedeutung ist. Es handelt sich dabei um einen ganzen Zweig der französischen Industrie. Das Unglück ist, daß, wie mir scheint, niemand in der Kammer diese Materie von Grund auf studiert hat.«
Rougon, den er langweilte, antwortete nur durch Kopfbewegungen. Der junge Abgeordnete trat näher an ihn heran und fuhr, seinem Zierpuppengesicht plötzlich Würde verleihend, fort: »Sehen Sie, ich habe einen Onkel in der Zuckerindustrie. Er besitzt eine der ertragreichsten Raffinerien von Marseille ... Nun, ich habe drei Monate bei ihm verbracht. Ich habe mir Notizen gemacht, oh, sehr viele Notizen. Ich unterhielt mich mit den Arbeitern, kurz, ich machte mich mit allem vertraut! – Sie verstehen, ich wollte vor der Kammer sprechen ...«
Er spielte sich vor Rougon auf, er gab sich ungeheure Mühe, ihn von den einzigen Dingen zu unterhalten, die, wie er glaubte, jenen interessieren mußten, war dabei allerdings sehr bestrebt, sich im Lichte eines gediegenen Politikers zu zeigen.
»Und Sie haben nicht gesprochen?« fiel ihm Clorinde ins Wort, die Herrn La Rouquettes Anwesenheit ungeduldig zu machen schien.
»Nein, ich habe nicht gesprochen«, erwiderte er mit leiserer Stimme, »ich glaubte, nicht sprechen zu sollen ... Im letzten Moment fürchtete ich, meine Zahlen könnten nicht ganz genau sein.«
Rougon sah ihn fest an und sagte dabei ernst: »Wissen Sie die Anzahl der Zuckerstücke, die pro Tag im Café Anglais verbraucht werden?«
Einen Augenblick lang riß Herr La Rouquette verblüfft die Augen auf. Dann brach er in Lachen aus.
»Ach, reizend, reizend!« rief er. »Ich verstehe, Sie scherzen ... Aber das, das ist die Frage des Zuckerhandels; ich sprach von der Frage der Zuckerindustrie ... Reizend! Sie gestatten mir wohl, den Ausspruch zu wiederholen, nicht wahr?«
Er wippte vor Vergnügen in seinem Sessel. Er bekam wieder ein rosiges Gesicht, fühlte sich wieder wohl und suchte nach gefälligen Worten. Clorinde aber zog ihn der Frauen wegen auf. Sie habe ihn noch vor zwei Tagen im Théâtre des Variétés29 mit einer kleinen, sehr häßlichen, wie ein Pudel struwweligen Blondine gesehen. Zuerst leugnete er. Dann aber, ärgerlich über die grausame Art, in der sie von dem »kleinen Pudel« sprach, vergaß er sich, verteidigte diese Dame, eine sehr wohlerzogene Person, die gar nicht so übel sei, und er erzählte von ihrem Haar, ihrem Wuchs, ihren Beinen. Clorinde wurde unausstehlich. Herr La Rouquette rief schließlich: »Sie erwartet mich, und ich gehe zu ihr.«
Als er dann die Tür hinter sich geschlossen hatte, klatschte das junge Mädchen frohlockend in die Hände und sagte wiederholt: »Weg ist er, glückliche Reise!«
Und sie sprang munter vom Tisch und lief auf Rougon zu, dem sie beide Hände reichte. Sie tat sehr sanft; sie sei sehr verdrießlich, daß er sie nicht allein angetroffen habe. Welch eine Mühe habe es sie gekostet, die ganze Gesellschaft wegzuschicken! Die Leute begriffen nichts, wirklich! Dieser La Rouquette mit seiner Zuckerindustrie sei reichlich lächerlich! Aber jetzt werde man sie vielleicht nicht mehr stören, und sie könnten plaudern. Sie habe ihm so viel zu sagen! Während sie so sprach, führte sie ihn zu einem Kanapee. Er hatte sich hingesetzt, ohne ihre Hände loszulassen, als Luigi hart mit seinem Malstock aufklopfte und dabei in ärgerlichem Ton wiederholte: »Clorinda! Clorinda!«
»Ach ja, richtig, das Porträt!« rief sie lachend.
Sie entschlüpfte Rougon, ging hin und beugte sich auf eine zärtlich geschmeidige Art von hinten über den Maler. Oh, wie hübsch das sei, was er da gemacht hatte! Das komme sehr gut heraus. Aber sie sei wirklich etwas müde, und sie bitte um eine Viertelstunde Ruhe. Übrigens könne er ja am Gewand malen, dafür brauche sie doch nicht Modell zu stehen. Luigi warf funkelnde Blicke auf Rougon, fuhr fort, übellaunige Worte zu murmeln. Da sagte sie mit gerunzelten Brauen, aber immer noch lächelnd, sehr schnell etwas auf italienisch zu ihm. Und er schwieg, führte aufs neue vorsichtig seinen Pinsel.