Kitabı oku: «Pflegekinder», sayfa 2
Definition «Pflegekind», Begriffe und Sprachgebrauch
Der Begriff «Pflegekinder» wird im Quellenkorpus am häufigsten verwendet, alternative Begriffe sind «Zögling» oder «Schützling». Um den zeitgenössischen Sprachgebrauch akkurat wiederzugeben und in der vorliegenden Arbeit eine stringente Bezeichnung für die im Zentrum stehende Personengruppe der fremdplatzierten Kinder und Jugendlichen einzuhalten, wird eine Pflegekinderdefinition in Anlehnung an die Absolventin der sozialcaritativen Frauenschule, Nelly Vögtli, abgeleitet:
«Man ist sich allgemein darüber klar, dass Pflegekinder Kinder sind, die nicht bei den Eltern wohnen, sondern in eine fremde Familie in Pflege gegeben werden. In der Meinung, dass Anstalten und Heime ohnehin unter einer öffentlichen Kontrolle stehen, werden sie auch dort, wo es nicht speziell erwähnt ist, wie in den Verordnungen von Zürich und Aargau, nicht zu den Pflegeorten gerechnet.»19
Vögtlis Pflegekinderdefinition geht dahin, dass die Fremdplatzierung20 an sich von vielen Zeitgenossen nicht zwingend mit dem Pflegekinderbegriff gleichzusetzen sei. Deren Auffassung nach waren in Anstalten «untergebrachte» Kinder keine Pflegekinder, da sie unter einer gesetzlichen Aufsicht stünden. Die wohl am meist verbreitete Form der Fremdplatzierung – nach Schätzungen bis zu 50 Prozent – war die «Verkostgeldung» Minderjähriger bei Verwandten. Vögtli wiederum zählte sämtliche Kinder und Jugendliche – unabhängig ob diese in eine «geschlossene» institutionelle oder «offene» Fürsorgesituation überantwortet wurden – zur Gruppe der Pflegekinder: «Hingegen ist es nicht ohne weiteres verständlich, dass man alle Kinder, die nicht bei den Eltern wohnen, also auch diejenigen, die den nächsten Verwandten in Pflege gegeben werden, zu den Pflegekindern rechnet.»21 Nach Vögtli galten als Pflegekinder «alle Kinder, die nicht bei den Eltern oder Adoptiveltern wohnen, unabhängig vom Versorger sowie vom Pflegeort». Für sie kamen als potenzielle «Versorger» Behörden sowie Private (Institutionen, Vormünder, Eltern oder Verwandte) in Frage.22 An den Pflegekinderbegriff knüpfte sie ein Altersmaximum, das sie auf das vollendete 14. Lebensjahr ansetzte.23 Darüber hinaus hielt sie es für wichtig, dass der Pflegekinderbegriff verwendet werden müsse, egal ob eine «Platzierung» gegen oder ohne Entgelt (Kostgeld) stattfände.24
Für die vorliegende Arbeit werden die wesentlichen Merkmale Vögtlis aufgegriffen: die Verwendung des Pflegekinderbegriffs unabhängig von der Art der «Platzierung» sowie die Alterskomponente, 25 wobei hier die Altersspanne von Briner – Geburt bis vollendetes 16. Altersjahr – verwendet wird, da diese dem Pflegekinderbegriff im Aktenkorpus am nächsten kommt.26 Im Buch sollen zeitgenössische Begriffe aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Leserschaft zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit einem damals «allgemein verständlichen» Sprachgebrauch anregen, der umgangssprachliche, wissenschaftliche und juristische Diskurse wiedergab. Als Beispiel kann der bereits angesprochene polyfunktionale Begriff «Verwahrlosung» und dessen Derivat «verwahrlost» oder Komposition «im höchsten Grad verwahrlost» genannt werden.27 Das in der Armenerziehung und der Fürsorge allgemein angewandte Vokabular wurde lokal und regional unterschiedlich eingesetzt. In den Kantonen Bern und Luzern sprach man von «Verding-, Hof- oder Güterkinder», in der Ostschweiz dominierte die Notation «Kostkinder» oder man sprach allgemein vom Vorgang der «Verakkordierung».28 Deshalb werden Quellenbegriffe mit charakterzuweisenden Merkmalen im Lauftext jeweils mit Anführungszeichen gekennzeichnet, um die historische Distanz aufzuzeigen.
Zentraler Bestandteil des Buchs ist die vom Vorstand handlungsbedingte Phasenabfolge der Fremdplatzierung. Auch hier geben die Quellen die wichtigsten Begriffe inklusive deren Ableitungen vor: Auf die «Aufnahme/Patronisierung» folgte die «Platzierung», deren Qualität durch die «Inspektion» geprüft wurde. Bei Anständen wurde eine «Umplatzierung/ Mutation» vorgenommen. Nach einer beruflichen Ausbildung folgte die «Entlassung». Die Leserschaft muss sich bewusst sein, dass diese Begriffe immer aus Vorstandssicht eingesetzt wurden. Die «Vereinsaufnahme» der Kinder und Jugendlichen entsprach keinem freiwilligen Vereinsbeitritt, wie es der mehr oder minder bewusste Entscheid wäre, etwa einer Turnriege beizutreten, sondern stellte die korporative Entscheidung von Gemeinde, Schule, Kirche und Verein dar, die betreffenden Kinder in eine Pflegesituation zu überantworten. Analog zur «Aufnahme» lag der «Austritt» der jungen Erwachsenen meistens ebenso wenig im selbstbestimmten Handeln.
Zeitgenössische charakterbeschreibende Attribute für Kinder und Erwachsene wie «liederlich», «unehelich», «ausserehelich», «arbeitsscheu», «bildungsfähig» oder «verwahrlost» sowie konstitutionsbeschreibende Attribute wie «schwächlich», «tuberkulös», «taubstumm» und so weiter werden in Anführungszeichen belassen und sollen den damaligen Sprachgebrauch der Leserschaft näherbringen – wohlweislich vor dem Hintergrund, dass die Begriffe eng mit armen- und vormundschaftsrechtlichen Wirkungs- und Handlungsweisen verknüpft waren. Die Auseinandersetzung mit den lebensbestimmenden Auswirkungen der Verwendung dieser Begrifflichkeiten wird beispielsweise mit der Dualität des «Aktenzöglings» und dessen real existierenden «Zöglings» offenbar.29 Übertragen auf die Armenerziehungsvereine bedeutet dies bei der «Aufnahme», dass der Vorstand wesentlich von der konstruierten Wirklichkeit/Personalität der Pflegekinder aus Sicht der anmeldenden Armenbehörden beeinflusst war, teilweise ohne das zukünftige Pflegekind gesehen oder gesprochen zu haben. Dies verdeutlicht umso mehr den Einfluss von Expertenmeinungen (Ärzte, Psychologen, Schulinspektoren und so weiter) auf den künftigen Lebensweg.
Forschungsziele und Aufbau der Arbeit
In der Schweiz entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf private Initiative hin die Armenerziehungsvereine – die späteren Jugendfürsorgevereine (siehe Tabelle 1).30 Sie waren Gründungen der Aargauer Kulturgesellschaft, des Landwirtschaftlichen Vereins Baselland, der Thurgauer oder der Solothurner Gemeinnützigen Gesellschaften. Die 28 Armenerziehungsvereine orientierten sich in ihrem Wirkungskreis an bestehenden verwaltungsgeografischen Grössen und kamen von Westen nach Osten her gesehen in den Nordschweizer Kantonen Solothurn, Basel-Landschaft, Aargau und Thurgau vor. Letzterer war der einzige rein kantonal ausgeprägte Verein, ohne Sektionen auf der hierarchisch folgenden Verwaltungsstufe. Die übrigen auf Bezirks- oder im Fall Solothurns auch auf Amtei-Ebene agierenden Vereine bildeten kantonale Delegiertenversammlungen.
1848 riefen Philanthropen im Kanton Basel-Landschaft den ersten Armenerziehungsverein ins Leben. Das Paradigma des auf unterschiedlichen Ebenen agierenden subsidiären Föderalstaates übernehmend, konstituierten sie zuerst den Kantonalvorstand (eine Art Lenkungsausschuss), um anschliessend bezirksweise selbständige Sektionen zu schaffen. Ersterer übernahm danach die Funktion einer koordinierenden Delegiertenversammlung. In den späten 1850er- und 1860er-Jahren folgten die elf Aargauer Bezirks-Armenerziehungsvereine, die sich erstmals 1863 zu einem ursprünglich wohl rein informellen Dachverband zusammenschlossen.31 Die solothurnischen Armenerziehungsvereine entstanden vergleichsweise spät in den 1880er- und 1890er-Jahren (Dorneck sogar erst 1906). Ein kantonaler Dachverband wurde 1898 «Zum Zwecke einer einheitlichen Entwicklung des freiwilligen Armen-Erziehungswesens […] und zur gemeinsamen Besprechung der dieses Gebiet berührenden Fragen» gegründet32 und durch den Armenverein der Stadt Solothurn sowie den Hülfsverein Schönenwerd ergänzt.33 Die Tagungen wurden jeweils – wie im Kanton Aargau auch – durch einen alle zwei Jahre wechselnden «Vorort» ausgerichtet.34 Der Thurgauer Armenerziehungsverein wurde als Gründung der Thurgauischen Gemeinnützigen Gesellschaft im Jahr 1882 aus der Taufe gehoben.
Die Dachverbände traten in Erscheinung, um einerseits gemeinsame Themenschwerpunkte wie die Ressourcenbeschaffung oder die Organisation der Aufsicht über «ihre» Pflegekinder zu koordinieren und zu vereinheitlichen, andererseits aber auch, um eine gemeinsame Stimme gegen aussen zu haben. So konnten sich die kantonalen Delegiertenversammlungen bei Stellungnahmen zu Gesetzgebung, Öffentlichkeitsarbeit oder Fundraising Gehör verschaffen. Der Schritt von den kantonalen Dachorganisationen hin zu einem nationalen Dachverband wurde ebenfalls gewagt: Der «Verband schweizerischer Armenerziehungsvereine» wurde auf Initiative des reformierten alt Pfarrers Friedrich Küchler (gestorben etwa 1906) aus Unterseen BE am 15. April 1901 in Olten ins Leben gerufen, 35 zwecks «Besprechung der für die Jugenderziehung und Jugendfürsorge brennenden Fragen».36
1848 | AEV des Kantons Baselland BL |
1849 | AEV des Bezirks Arlesheim BL |
1849 | AEV des Bezirks Liestal BL |
1849 | AEV des Bezirks Waldenburg BL |
1855 | AEV des Bezirks Sissach BL |
1856 | Kinderversorgungsverein des Bezirks Zofingen AG |
1857 | AEV des Bezirks Brugg AG |
1860 | AEV des Bezirks Aarau AG |
1860 | AEV des Bezirks Lenzburg AG |
1861 | AEV des Bezirks Bremgarten AG |
1862 | Armenkinder-Erziehungs-Verein des Bezirks Muri AG |
1862 | AEV des Bezirks Baden AG |
1863 | Verband Aargauer Armenerziehungsvereine |
1864 | AEV des Bezirks Zurzach AG |
1865 | AEV des Bezirks Kulm AG |
1878 | AEV Olten-Gösgen SO |
1880 | AEV Thierstein SO |
1880 | AEV Solothurn-Lebern SO |
1882 | AEV des Kantons Thurgau TG |
1882 | AEV des Bezirks Laufenburg AG |
1888 | AEV des Bezirks Balsthal-Thal SO |
1889 | AEV des Bezirks Rheinfelden AG |
1890 | AEV Kriegstetten/Wasseramt SO |
1892 | AEV Bucheggberg SO |
1894 | AEV des Bezirks Balsthal-Gäu SO |
1898 | Verband Solothurner AEV SO |
1900 | Verband schweizerischer AEV |
1906 | AEV des Bezirks Dorneck |
Tabelle 1: Gründungsjahre der kantonal-, bezirks- oder amteiweise geführten Armenerziehungsvereine inklusive ihrer Dachverbände (kursiv hervorgehoben), 1848–190637
Kollektivmitglieder dieses schweizerischen Verbands waren neben den Armenerziehungsvereinen die Berner Gotthelfstiftungen, das Landwaisenhaus Basel, die evangelischen Erziehungsvereine Toggenburg und Rheintal im Kanton St. Gallen, verschiedene evangelische Pfarrämter und die Fischinger Waisenanstalt St. Iddazell im Kanton Thurgau. Als Einzelmitglieder traten mehrere Waisen- und Hausväter, Inspektoren und Amtsvormünder sowie Exponenten der Jugendfürsorge wie Pfarrer Albert Wild aus Mönchaltorf oder Jakob Kuhn-Kelly aus St.Gallen dem Gremium bei.38 Nur 20 Jahre nach dessen Konstituierung stellte der schweizerische Dachverband seine Tagungen wieder ein, da er sich wegen des expandierenden Jugendhilfswerks Pro Juventute (1912 gegründet) und des mit fast identischen Aufgaben betrauten, längst etablierten Verbands Schweizerischer Armenerzieher (1844 gegründet) für überflüssig hielt.39
Die Namensänderung von «Armenerziehungsverein» hin zum zeitgenössischeren Begriff «Jugendfürsorgeverein» wurde im Fall der Aargauer Vereine im Jahr 1946 und bei den Solothurner Vereinen in den 1960er-Jahren vorgenommen. Im Kanton Thurgau entstand aus dem Armenerziehungsverein im Jahr 1970 der «Verein für Erziehungshilfe», einzig im Kanton Basel-Landschaft existiert noch heute der Armenerziehungsverein. Dieser gründete im Jahr 1965 – benannt nach dem ersten hauptamtlichen Inspektor des Vereins – die Birmann-Stiftung, die Familien- und Jugendberatung leistet.
Die Studie über die deutschschweizerischen Armenerziehungsvereine soll in einem sozialgeschichtlichen Kontext gelesen werden. Dieser umfasst im weitesten Sinn die Analyse gesellschaftlicher Schichtung in ihrer Struktur und ihrem Wandel, «Vereinigungen und Bewegungen in der Gesellschaft», deren Interaktion miteinander sowie «das Handeln von gesellschaftlichen Formationen oder Gruppen».40 Dabei liegt der Gesellschaftsgeschichte als grundlegende Konstante das menschliche Leben in sozialen Beziehungen zugrunde, das im «Spannungsfeld von sozialer Ungleichheit stattfindet». Insbesondere befasst sie sich mit Gruppen, Schichten und Klassen sowie den Ursachen und Folgen sozialer Prozesse wie unter anderem den Auswirkungen der Industrialisierung. Ihr Ansatz ist «eher analytisch als hermeneutisch», das Erklären steht mehr im Zentrum als das reine Verstehen.41 Beim Erfassen und Darlegen von historischen Phänomenen steht nicht das individuelle, sondern das kollektive «Handeln und Leiden» im Mittelpunkt.42 Die Abhandlung setzt sich mit der vereinsgetragenen Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in den vier Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Solothurn und Thurgau auseinander. Nur in diesen Kantonen existierten «Armenerziehungsvereine». Der Forschungsgegenstand ist somit geografisch überregional angesiedelt, folgt aber – aufgrund der Organisation der Vereine – den Kantonsgrenzen und nicht wirtschaftlich-sozialen Regionen. Der Untersuchungszeitraum wurde anhand zweier Eckdaten des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins gewählt: der Gründung 1848 sowie der Reorganisation 1965.43 Dies geschah im Bewusstsein, dass der Namenswechsel keine eigentliche Neuorientierung in der Aufgabenerfüllung der Vereine bewirkte, sondern sich lediglich dem zeitgenössischen Sprachgebrauch annäherte.
Im ersten Drittel der Studie wird nach der Verortung der Armenerziehungsvereine innerhalb der Sozietätenbildung und der stetig wachsenden Anzahl von Schweizer Institutionen für die dauerhafte «Platzierung» von Kindern und Jugendlichen gefragt. Dabei sollen die Vereine gegen «aussen», das bedeutet gegen Vereine mit ähnlichem Profil, abgegrenzt werden. Anschliessend wird eine andere Perspektive eingenommen: Die Armenerziehungsvereine werden in ihrem massgebenden Rahmen, dem kantonalen Kontext, betrachtet. Wie gestalteten die Vereine ihre Handlungsräume (Partizipation), wie interagierten sie mit Partnern, und wie reagierten sie auf Veränderungen (Aushandeln)?44 Welche Impulse gingen von ihnen in der kantonalen «Fürsorgelandschaft» aus, konnte ein reziproker Informationsaustausch geschaffen werden? Insofern werden die staatlichen Akteure, die Funktionsträger und Exekutivmitglieder, in die Studie einbezogen und erscheinen als weitere teilautonome Einheiten, «die ihrerseits im Handlungsraum des Politischen agieren und kommunizieren».45 Die Profilierung der aargauischen, solothurnischen, basellandschaftlichen und thurgauischen Armenerziehungsvereine mündet in eine Synthese, die das «Vereinskonzept» darlegt. Hier wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Vereine eine Alternative zur kommunal praktizierten Fremdplatzierung im Sinn hatten. Stellt die Fremdplatzierung durch einen Armenerziehungsverein einen Spezialfall dar?
Im zweiten Drittel des Buchs stehen die Handlungsweisen und -spielräume der Vorstandsmitglieder bei der konkreten Armenpraxis im Zentrum. Administrationsabläufe wie «Vereinseintritt», «Platzierung», «Pflegeelternsuche», «Kontrolle» oder «Entlassung» werden quantitativ-analytisch dargestellt. Dabei kann die Kongruenz zwischen der «ideellen» und der «tatsächlichen» Armenfürsorge überprüft werden. Mit der Darlegung der verschiedenen Stationen der Fremdplatzierung werden auch die «Rollen» und das «Rollenverständnis» aus Vorstandsperspektive qualitativ charakterisiert: Welchen Part übernehmen Vorstandsmitglieder, Gemeindebehörden, Herkunftsfamilien, Pflegeeltern und Pflegekinder?
Im letzten Drittel wird die Eigen- und Fremdwahrnehmung der Vorstände der Armenerziehungsvereine angesprochen. Wie begründeten die Vorstandsmitglieder ihre Teilnahme in den Vereinen, worin lag ihre Motivation? Anhand welcher Kriterien leiteten sie eine gelungene Erziehung beziehungsweise eine erfolgreiche Intervention ab? Wie stark kontrastierte diese Eigenwahrnehmung zu jener der «Hilfeempfänger», der Pflegekinder? Und wie beurteilten zeitgenössische Exponenten und Fachkollegen die Vereinstätigkeit in einem Umfeld, das durch die Professionalisierung der Fürsorgeberufe und der kantonalen Verwaltung Veränderungen unterworfen war? Wurde die einst als pionierhaft umschriebene freiwillige Tätigkeit zum Stigma?
Die Fragestellungen teilen sich somit in eine makro- und eine mikroperspektivische Ebene auf. Die Einordnung der Armenerziehungsvereine im gesamtschweizerischen und kantonalen Kontext sowie die Profilierung der Vereinskonzepte gehören zur ersteren. Mikrostudien werden besonders im Bereich des Phasenablaufs der Fremdplatzierung getätigt, dies ist den kantonal unterschiedlich vorkommenden quantitativen Quellen geschuldet. Wo immer möglich, werden die Ergebnisse auch mit der Makroperspektive in Bezug gesetzt. Die «Erkenntnisinteressen»46 und «Absichten» des Buchs, die in methodologischer Hinsicht dargelegt werden müssen, liegen vornehmlich im analytischen und hermeneutischen Erkenntnisprozess: Wie funktionierten die Armenerziehungsvereine, und welchen Stellenwert nahmen sie in der regionalen und kantonalen Fremdplatzierung ein? Bedeutete die Fremdplatzierung per Definition eine «schlechtere Kindheit» als das Aufwachsen in einer leiblichen Familie? Die Arbeit muss selbstverständlich auch in der gegenwärtigen Diskussion über die fürsorgerischen Zwangsmassnamen gesehen werden und berücksichtigt die damit verknüpften politischen Forderungen (Interessenpolitik), die mediale Präsenz der «Verdingkinder» und deren Gleichsetzung mit «Pflegekindern» (Definitionsdefizit) und nicht zuletzt auch die Revision des Kindes- und Erwachsenenschutzgesetzes und deren organisatorische Umsetzung in die sogenannten Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden (Professionalisierungsbestrebungen).