Kitabı oku: «Pflegekinder», sayfa 4

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Forschungsstand

Die jüngere Forschung im Bereich der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen ist von folgenden beiden Gesichtspunkten geprägt:75 Sie ist erstens zeitlich vornehmlich im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert angesiedelt und zweitens stark regional auf einzelne Akteure (Anstalten, Vereine, Behörden, Kirche) oder Fremdplatzierungsgruppen fokussiert. Darüber hinaus orientieren sich die Arbeiten stark an zivilrechtlichen, strafrechtlichen und armenrechtlichen Gesichtspunkten.76 Dies lässt sich mit dem Umstand erklären, dass sie als universitäre Qualifikationsarbeiten einen konkreten und eingrenzbaren Gegenstand behandeln. Nur gerade die Arbeit von Heinrich Tuggener et al.77 aus dem Jahr 1998 setzt sich mit dem gesamtschweizerischen Phänomen und den verschiedenen Fremdplatzierungsformen auseinander, ansonsten fehlen Überblickswerke. Allenfalls kann in diesem Zusammenhang noch die Publikation Ramsauers über die schweizerische Praxis der Kindswegnahmen genannt werden.78 Die gegenwärtige interdisziplinäre Aufarbeitung der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen verfolgt einen überregionalen Ansatz und wird diesen Bereich der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vertieft betrachten.

Fallstudien zu Akteuren: Die Forschung zu konkret lokalen und institutionellen Akteuren der Fremdplatzierung wie Anstalten, Vereinen oder Gemeinde- und Kantonsbehörden gehen selbstverständlich auch über eine reine Institutions- oder Verwaltungsgeschichte hinaus und behandeln auch bestimmte Gruppen von Anstalts-, Verding- oder Pflegekindern im weitesten Sinn. In der Regel umschreiben sie den organisatorischen Aufbau der Institutionen sowie deren diachrone Entwicklung und dokumentieren den Alltag der spezifischen Zielgruppen.79 Es entstanden Lizenziats- und Masterarbeiten, die leider grösstenteils unpubliziert blieben (ein weiteres Charakteristikum der Forschungslage in diesem Bereich), was eine Synthese verschiedener Mikrostudien zu einer gesamtschweizerischen Makroperspektive oder einen regionalen Vergleich zwischen ländlichen und urbanen Gegenden erschwert.80

Ausschliesslich auf die Armenerziehungsvereine ausgerichtete wissenschaftliche Darstellungen entstanden an den sozial-caritativen Frauenschulen in Luzern und Zürich zwischen 1932 und 1959 zu den Armenerziehungsvereinen Solothurn-Lebern, Olten-Gösgen, Thurgau, Zofingen, Muri, Baden und Baselland.81 Sie sind im Sinn einer zeitgenössischen Fremdwahrnehmung durch Frauen der Pflegeberufe von höchstem Interesse und gelten daher gleichzeitig auch als historische Quellen. Neueren Datums sind die beiden Lizenziatsarbeiten von Nicole Oelhafen und dem Autor, die sich mit unterschiedlichem zeitlichem und thematischem Fokus mit dem Armenerziehungsverein des Bezirks Baden im Kanton Aargau befassten. Die erste Arbeit konzentrierte sich auf das 19. Jahrhundert und den Schwerpunkt der Sozialdisziplinierung und der christlichen Nächstenliebe, während die zweite die Jahre 1920–1940 mit Augenmerk auf eine quantitative Auswertung der Pflegekinderdaten und die Einbettung der Aargauer Armenerziehungsvereine in die kantonale Verwaltung untersuchte.82

Nicole Oelhafen setzte sich in ihrer 2007 eingereichten Lizenziatsarbeit einen zeitlichen Rahmen von der Vereinsgründung im Jahr 1862 bis 1887 und konzentrierte sich auf die beiden Konzepte der «christlichen Nächstenliebe» und der «Besserung». Sie suchte nach Erklärungsmustern für die «Rettungstätigkeit» des Vereinsvorstands, wobei sie betonte, dass ihre Arbeit nicht auf die einzelnen Pflegekinder, sondern vielmehr auf «das Konstrukt des Vereins» abziele.83 Ihre Hauptquellen bildeten daher insbesondere die Jahresberichte und Vorstandsprotokolle, die sie anhand eines hermeneutischen Ansatzes qualitativ untersuchte.84 In einem Zwischenfazit stellte sie fest, dass die subsidiären Kontrollinstanzen zusehends ausgebaut wurden, dass das Konzept der Besserung der Armen durch Anstaltseinweisung keine Erfindung der Politik, sondern der Sozialpädagogen und -reformer war und – wie sich herausstellen sollte – besonders durch die Philanthropie geprägt wurde.85 Im direkten Vergleich zwischen dem öffentlichen und freiwilligen Armenwesen konnte sie zweierlei feststellen: erstens, dass die Vereine eine direkte Hilfe leisteten, während sich die öffentliche Armenpflege mehr auf die Aufsichtsfunktion als die Hilfestellung konzentrierte; zweitens, dass über die Unterstützungszahlungen von öffentlicher Seite eine Kontrolle über die private Armenfürsorge ausgeübt wurde.86 In ihrem Schlusswort fasste sie zusammen, dass die öffentliche Armenpflege reglementierend gewirkt und sich durch einen erzieherischen und bestrafenden Charakter ausgezeichnet habe. Bürgerliche Wohltätigkeitsvereine und Gesellschaften entstanden aus der «liberale[n] Grundhaltung» der Schweiz im Kontext der Sozietätenbildung und wurden als Ergänzung der «öffentlich-rechtlichen Behörden» verstanden. Nicole Oelhafen betrachtete ihre eingangs gestellte These als erwiesen, indem sowohl das Konzept der «christlichen Nächstenliebe» wie auch der Gedanke einer «Besserung» durch Erziehung im Verein nachgewiesenermassen angewandt wurden.87

Die zweite Lizenziatsarbeit zum Armenerziehungsverein des Bezirks Baden setzte sich den zeitlichen Rahmen der Zwischenkriegsjahre. Der Arbeit lagen ein vom Autor erschlossener Nachlass im Staatsarchiv Aargau und insbesondere die darin enthaltenen 379 Pflegekinderdossiers aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugrunde.88 Zielsetzung der Lizenziatsarbeit war einerseits, das Phänomen der privaten Armenerziehungsvereine in den Kontext der sich ausweitenden und professionalisierenden öffentlich-rechtlichen Aargauer Jugendfürsorge zu setzen («Fürsorgelandschaft») und die daraus entstandenen Möglichkeiten und Probleme zu reflektieren. Andererseits sollten anhand der quantitativen Inhaltsanalyse der Aktenserien «Pflegekinderdossiers», der «Pflegekinderkarteikarten» sowie der «Pflegekinder- und Lehrverträge» empirische Aussagen über die aufgenommenen Kinder, aber insbesondere auch über die Hauptaufgaben und Handlungsweisen des Vereins gemacht werden.

Fallstudien zu bestimmten lokalen Gruppen von fremdplatzierten Personen: Die Begriffe «Pflegekinder», «Kostkinder», «Heimkinder» oder «Verdingkinder» umschreiben vordergründig und anscheinend allgemein verständlich Formen der Fremdplatzierung – das Fehlen eines normierten Vokabulars in der historischen Aufarbeitung setzt somit einen denkbar weitgefassten Begriff von Armenfürsorge für Kinder voraus. Neben der auf Akteure zentrierten Forschung stehen Untersuchungen über Gruppen von Kindern, die innerhalb eines bestimmten geografischen Gebiets fremdplatziert wurden. Hierbei sind regionale Besonderheiten der Fremdplatzierung, wie die saisonale Verdingung von Kindern in der Ostschweiz, die sogenannte «Schwabengängerei»89 oder die erzwungene «Kindswegnahme» von bestimmten Gruppen von Kindern, beispielsweise den Jenischen, 90 sehr gut dokumentiert.

Die jüngste öffentliche Auseinandersetzung mit dem «Verdingkinderwesen»: Ausdruck dieser disparaten, doch sehr lebendigen und interdisziplinären Forschung war das erste informelle Kolloquium «Fremdplatzierung» unter der Leitung von Loretta Seglias und Marco Leuenberger am 26. März 2011 in Bern, bei dem die Teilnehmenden in zehnminütigen Impulsreferaten ihren Forschungsgegenstand präsentierten und mit einem Schlag fassbar wurde, was unter dem Begriff Fremdplatzierung alles subsumiert ist und wie mit dem Thema je nach Disziplin verfahren wurde. Ein weiterer Anstoss, die laufenden Forschungsprojekte und -arbeiten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen, ging von verschiedenen interessierten Betroffenengemeinschaften in Internetforen aus, die in ihren Publikationslisten oftmals eine Sparte wissenschaftlicher Arbeiten führten.91 Darüber hinaus ergriffen einzelne Betroffene selbst das Wort und erzählten ihre Lebensgeschichte.92 Nicht zuletzt boten Fernsehen, Film, Radio, Presse und eine Wanderausstellung dem Thema Fremdplatzierung (insbesondere das medial aktuelle «Verdingkinderwesen») eine breitere Plattform.93

Die Versuche einzelner Politiker seit 1999, eine historische Untersuchung dieser Thematik anzuregen (Vorstösse im Nationalrat durch Jean-Charles Simon, Didier Berberat und Ruedi Baumann/Jacqueline Fehr), 94 blieben anfänglich erfolglos. Der Bundesrat betonte in der Antwort auf den politischen Vorstoss Baumanns am 26. September 2003 sein grundsätzliches Interesse an einer fundierten Aufarbeitung des Schweizer «Verdingkinderwesens» und verwies dabei explizit auf die bestehenden Förderungsmöglichkeiten, insbesondere auf diejenigen des Schweizerischen Nationalfonds. Dieser bewilligte im Dezember 2004 das Projektgesuch «Verdingkinder, Schwabengänger, Spazzacamini und andere Formen der Fremdplatzierung und Kinderarbeit in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert» vom 1. März 2004 partiell. Im Rahmen dieses Nationalfondsprojekts wurden mit über 220 ehemaligen Fremdplatzierten qualitative lebensgeschichtliche leitfadengestützte Gespräche geführt. Es handelte sich damit um eines der grösseren, von öffentlichen Geldern finanzierten Projekte zur Erfassung mündlich überlieferter Geschichte in der Schweiz.95

Eine qualitative Auswertung der Gespräche sah das Projekt nicht vor. Es sollten allein lebensgeschichtliche Erinnerungen von ehemaligen «Verdingkindern» gesammelt und archiviert werden. Die Gespräche wurden transkribiert und für Forschungszwecke – unter Wahrung der Datenschutzbestimmungen – zugänglich gemacht.96 Daraus ging im Oktober 2008 eine erste Bestandsaufnahme hervor. Darin enthalten waren 40 Porträts, begleitet durch erläuternde Texte zu wiederkehrenden Themen wie Machtmissbrauch oder Diskriminierung, sowie ein kurzer Beitrag zur gesetzlichen Entwicklung im Bereich Kinder- und Jugendfürsorge.97 Von diesem Forschungsprojekt gingen einige interdisziplinäre Impulse aus, die die konkret lokale und institutionelle Ebene verliessen und sich beispielsweise mit Erinnerungskultur oder emotionalen Verarbeitungsprozessen befassten.98 Als eines der Ergebnisse des runden Tischs zum Thema fürsorgerische Zwangsmassnahmen wurde am 5. November 2014 die Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen eingesetzt, die interdisziplinär dieses Kapitel der Schweizerischen Geschichte aufarbeiten soll. Ein Antrag für ein begleitendes Nationalfondsprojekt, das sich weiterer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen wie Fremdplatzierungen und Verdingungen, Sterilisation und der zwangsweisen Abgabe von Medikamenten annehmen soll, wurde eingereicht.

Qualitative und quantitative Inhaltsanalyse

Die erläuterten Fragestellungen werden einerseits mit einem hermeneutischen, andererseits mit einem analytischen Ansatz anhand der fixierten Kommunikation – sprich der schriftlichen Quellen – angegangen.99 Die Methodenwahl liegt vornehmlich darin begründet, dass insbesondere für den Untersuchungszeitraum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Zeitzeugen mehr existieren. Darüber hinaus stellt die Überlieferungsdichte und -fülle der akribisch geführten «Pflegekinder-Kontrollen» der Armenerziehungsvereine im Vergleich zu den in kommunalen Quellen aufgenommenen «Verdingkinder»-Schicksalen aus Forscherperspektive einen ausgesprochenen Glücksfall dar, was eine detaillierte Betrachtung nahelegt. Die Grenze dieser perspektivenabhängigen Reflexion liegt auf der Hand, dokumentiert sie doch in erster Linie nur die Handlungsweise der Akteure wie des Vereinsvorstands, der kantonalen Verwaltung, der Kommunen oder der Kirchenpflegen. Die Pflegekinder selbst kommen in den Quellen nur vereinzelt zu Wort.100

Philipp Mayring schlägt zur qualitativen Inhaltsanalyse des Quellenkorpus ein dreistufiges Modell vor, an dem sich auch die vorliegende Arbeit orientiert.101 Im ersten Schritt, der qualitativen Analyse (I), werden die Leitfragen und Untersuchungskriterien durch das Forschungsinteresse und Vorwissen über den zu behandelnden Forschungsgegenstand sowie das Quellenkorpus definiert, es handelt sich also im weitesten Sinn um eine hermeneutische Herangehensweise («Verstehen»).102 Im zweiten Schritt, der quantitativen Analyse (II) des Phasenmodells, wird eine empirische Auswertung der Personendaten durchgeführt, hierbei handelt es sich folglich um eine analytische Herangehensweise («Erklären»).103 Dafür sind zwei Arten von Informationen erforderlich, die zueinander in Bezug gesetzt werden: erstens Metadaten über die Pflegekinder selbst und deren Gliederung nach spezifischen Merkmalen wie Geschlecht, Alter, Zivilstand; zweitens – wie sie Sokoll nennt – «vitalstatistische Daten» über die eintretenden Ereignisse. Beim vorliegenden Forschungsgegenstand sind dies beispielsweise die «Stationen der Fremdplatzierung», wie sie in den «Pflegekinderregistern» festgehalten wurden.104 Durch die Analyse der Zählung von «Eintritten», «Austritten» und so weiter pro Kalenderjahr und die regionale Kontextualisierung lassen sich Muster erkennen, die durch hermeneutische Interpretationen vertieft werden können («Explikation»).105 Der Datenvergleich zwischen den Armenerziehungsvereinen ist selbstverständlich abhängig von der historisch gewachsenen Datenmenge und deren Strukturierung (und deren Harmonisierung durch den Autor) sowie die Offenlegung der Vergleichskriterien (Bildung von Alterskohorten, Eintrittsalter, Austrittsalter, Dauer der Fremdplatzierung und so weiter). Mit dem Vergleich wird dabei eine doppelte Zielsetzung verfolgt: Einerseits werden zwei Modelle herausgearbeitet und ihre Eigenheiten («das Besondere, Individuelle») kontrastiert. Andererseits werden im Vergleich Gemeinsamkeiten festgelegt, die in eine Verallgemeinerung münden können.106

Die Armenerziehungsvereine waren statutengemäss dazu verpflichtet, jeweils über das vergangene Vereinsjahr in Form eines Jahresberichts ihren Mitgliedern gegenüber Rechenschaft abzulegen. Diese Rechenschaftsberichte bestanden bei allen Vereinen aus dem Résumé des Präsidenten, der Jahresrechnung und der Bezifferung der fremdplatzierten Kinder. Es bot sich folglich an, die Vereinsfinanzen und die Pflegekinderzahlen quantitativ zu erfassen und einander gegenüberzustellen. Dies konnte bei den Kantonen Baselland und Thurgau, die als Kantonalvereine die Jahresberichte herausgaben, 107 denkbar einfach erreicht werden. Um äquivalente Aussagen auch für die beiden Kantone Aargau und Solothurn zu erhalten, die über bezirks- und amteiweise geführte Armenerziehungsvereine verfügten, wurden die Rechenschaftsberichte des Regierungsrats des Kantons Aargau beziehungsweise des Kantons Solothurn konsultiert, denn die Bezirksgesellschaften waren Empfänger von Kantonsbeiträgen und schuldeten folglich dem Regierungsrat Bericht. Die daraus entstandenen quantitativen Zusammenstellungen lassen somit einen Vergleich auf Kantonsebene hinsichtlich der Aufwendungen für die Fremdplatzierungen zu.

Diesen aggregierten Daten aus den Jahresberichten können fünf sehr detaillierte und umfassende kantonale und bezirksweise zusammengestellte Datensammlungen gegenübergestellt werden. Stellvertretend für die übrigen zehn Bezirks-Armenerziehungsvereine des Kantons Aargau steht beispielsweise der Armenerziehungsverein des Bezirks Baden mit der 379 Personendaten umfassenden quantitativen Erhebung aus den Jahren 1920–1940. Mit den Parametern zu den Personalien, dem «Vereinsaufenthalt», den Pflegeverhältnissen, den Kost- und Lehrgeldern sowie den Angaben zur Ausbildung widerspiegelt diese Erhebung Einzelbiografien, wie sie aus den Pflegekinderkarteien des Vereins hervorgehen.108

Für den Kanton Basel-Landschaft liegt vermutlich die älteste jemals erhobene und annähernd kantonsumspannende Umfrage mit armenerzieherischer Zielsetzung vor, nämlich jene des Landwirtschaftlichen Vereins an die Pfarrämter bezüglich Erfassung «derjenigen Kinder, deren Aufnahme in die Versorgungsanstalt besonders rathsam wäre» aus dem Jahr 1840.109 In den Umfragebogen führten die Pfarrer 253 Kinder auf, deren «körperlicher», «sittlicher» und «intellektueller Zustand» eine Anstaltsversorgung aus ihrer Sicht notwendig machte. Diese (genuine) Enquête – ursprünglich als Bedarfsanalyse für eine zu gründende Anstalt gedacht – führte schliesslich zur Konstituierung des Basellandschaftlichen Armenerziehungsvereins. Aus der Pflegekinderkartei des basellandschaftlichen Inspektors stammt die zweite Erhebung von Pflegekinderdaten, die 1217 Teilbiografien aus dem Zeitraum 1917–1961 umfasst.110

Stellvertretend für die sieben weiteren bezirksund amteiweise geführten Armenerziehungsvereine des Kantons Solothurn lässt die Pflegekinder-Datensammlung des Armenerziehungsvereins Balsthal-Thal mit insgesamt 265 Pflegekinderdaten Rückschlüsse auf die verschiedenen Stationen der Fremdplatzierung zwischen 1925 und 1975 zu.111 Aus den Pflegekinder-Kontrollbüchern des Thurgauer Armenerziehungsvereins wurden 500 Einträge aus dem Zeitraum der Vereinsgründung im Jahr 1882 bis 1904 ausgewertet, mit einer Akzentsetzung auf die Herkunft der Kinder und die Gründe zur «Aufnahme» in den Verein.112

Für lokal-mikroperspektivische, regionale, überkantonale und diachrone quantitative Auswertungen kann somit auf rund 2600 Personendaten zurückgegriffen werden (siehe Tabelle 2). Diese geben Aufschluss über das Alter der Kinder und Jugendlichen bei «Vereinsaufnahme» und «Vereinsentlassung», die Dauer der Fremdplatzierung und deren Stationen, Geschlechter- und Konfessionsverhältnis, Ausbildungen und Lehren der jungen Erwachsenen und so weiter, sprich die Verfahrensweise der Vereinsvorstände und weiterer Entscheidungsträger mit vermögenslosen Kindern und deren Herkunftsfamilien.


Tabelle 2: Anzahl Datensätze (Pflegekinder-Teilbiografien) pro Provenienz

Bei den Personendaten wurden folglich quantitative Angaben zu den Personalien der Pflegekinder, den Eckdaten der Fremdplatzierung durch den Verein, die Pflegeverhältnisse und -orte, die Ausbildung und die Kost- und Lehrgelder erhoben. Überkantonale Vergleiche verlassen diese individuelle Mikroperspektive und lassen Rückschlüsse über Einnahmen, Ausgaben und Kostenverteiler zu. Ähnlich wie bei einem Beschlussprotokoll offenbaren sie allerdings lediglich das Ergebnis, nicht aber die Vorgeschichte oder die Beweggründe zur Entscheidung: Warum wurde ein Säugling oder ein Kind in den Verein aufgenommen, und wie lief dieser Vorgang ab? Was waren die ausschlaggebenden Gründe für eine Anstaltseinweisung oder die Platzierung bei einer Familie? Wann und weswegen wurde ein Pflegeverhältnis gelöst und das Pflegekind in eine neue Familie oder Anstalt überführt? Und wer entschied, welcher Jugendliche welche Lehre absolvieren durfte/sollte? Diese angedeutete textbasierte qualitative Analyse lässt sich nur bei denjenigen Datenerhebungen bewerkstelligen, die über das reine Zahlenmaterial hinausgehen.

Erst durch die Kombination der quantitativen und der erneuten qualitativen Analyse (III) nach Mayring können die zentralen Fragen nach dem «Wer», «Warum» und «Wie» zu einem möglichst klaren Bild der Handlungsmuster und Vorgehensweisen der Armenerziehungsvereine und deren Pflegekindern gezeichnet werden. Dabei bewegt sich das Verstehen zwischen dem Vorverständnis, der hermeneutischen Interpretation und dem laufend gewonnenen Sachverständnis («hermeneutischer Zirkel»).114 Die Validität der Untersuchungsergebnisse wird letztlich im engeren Sinn an Aussenkriterien festgemacht, an Forschungsarbeiten mit vergleichbaren Fragestellungen und Untersuchungsgegenständen (aktuelle Forschung zur Fremdplatzierung).115

Formen der institutionalisierten Fremdplatzierung in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert

Die Fremdplatzierung Minderjähriger im Spiegel ausgewählter zeitgenössischer Überblickswerke

Die dauerhafte «Platzierung» von Kindern und Jugendlichen fand schweizweit statt. Dabei gab es im Grund zwei Formen des ausserfamiliären Aufwachsens: die «offene Fürsorge» in Pflegefamilien und die «geschlossene» in Anstalten. Initianten der Fremdplatzierung waren zeitgenössischen Schätzungen zufolge zur einen Hälfte die leiblichen Eltern selbst (ohne behördliche Intervention) und zur andern Behörden und Vereine. Verschiedene Anstalten und Vereine spezialisierten sich auf die langfristige «Platzierung» von Pflegekindern.

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