Kitabı oku: «Pflegekinder», sayfa 9

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Der Armenerziehungsverein schloss mit Richter-Linder die Übereinkunft, dass reformierte Mädchen zwischen zwölf und 15 Jahren – sofern sie sich drei Jahre verpflichteten – in die Anstalt aufgenommen würden. Dort erhielten sie eine Einführung durch den Werkmeister in die Seidenarbeit und durch je eine Hausfrau und eine Näherin eine Einführung in die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. «Dabei sollen die Kinder durch den Hausvater den in Baselland üblichen Repetirschul- und durch Hrn. Pfarrer Seiler den Religionsunterricht empfangen nebst der Konfirmation. Ein Arzt steht der Anstalt zur Seite und macht regelmässig Besuche.»77 Die Erfahrungen mit den platzierten Mädchen seien «grösstentheils erfreulicher Art», und die Mädchen seien aus dem Zustand «der Verwahrlosung an Leib und Seele» befreit worden.78

1858 hielt der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein für einen Moment inne und blickte auf seine Tätigkeit zurück. «Was der Verein vor zehn Jahren sich zum Zwecke gesetzt: gegenüber vielfacher Willkür zu arbeiten für die Kenntniss und für die Praxis einer humanen, einer christlichen Armenpflege, das ist zum grossen Theile in Erfüllung gegangen, und wir stehen im Begriffe, die gemachten Erfahrungen einem gesetzlich geordneten Zustande zu Grunde zu legen.»79 Der Vorstand stellte fest, dass mittlerweile eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen Verein und Behörden existiere; sei es mit der Regierung, mit den Statthaltern oder auch mit den Gemeindevorstehern. In diesem Zusammenhang wurde angemerkt, dass «wir […] in der Mindersteigerung vom vorjährigen August hoffentlich die letzte gesehen [haben]. Wenigstens sind wir soweit gekommen, dass gegen das Vorkommen solchen Unfuges die öffentliche Meinung sich empört.»80

Der Vorstand bemerkte ferner, dass er vom Volk unterstützt werde, und dies sei nicht zuletzt an den steigenden Zuwendungen in der Vereinskasse spürbar. Damit einhergehend wird auch die Arbeit mit den verschiedenen Frauenvereinen positiv erwähnt, «bei dieser Verbindung der verschiedenen Vereine und Bestrebungen» handle es sich aber «nicht um eine Verschmelzung, sondern um eine Wechselwirkung, eine freundliche Theilung der Arbeit, eine gegenseitige Unterstützung in Rath und Trost, Hülfe und fröhlichem Wetteifer».81 Als Grundsatz hielt der Armenerziehungsverein auch nach der Gründung seiner eigenen Anstalt an der präferierten Familienerziehung fest: «Diese bewegt sich im Ganzen in stetiger Weise mit denselben Sorgen und Erfahrungen: Gemeinden, Eltern und Wohlthäter melden sich mit Kindern; Pflegeeltern bewerben sich um Pfleglinge, es gibt Nachfragen und Erkundigungen allerorten.»82

Eine wichtige Zäsur in der Vereinsgeschichte bildete die Übergabe des Inspektorats von Martin Birmann an Emil Gysin im Jahr 1874. Lehrer Gysin reiste schon vor seiner Berufung zum Inspektor freiwillig im Kanton umher und kontrollierte die Pflegeplatzverhältnisse, sodass «sein durchgreifendes und unermüdliches Verfahren […] in den etwas monoton gewordenen Gang des Vereins einen neuen Schwung» brachte. Die Bezirksvorstände wünschten, dass «dieses konsequente, persönliche Überwachen aller Thätigkeit des Vereins demselben gewahrt bleiben und dafür geradezu eine besoldete Stelle geschaffen werden möchte, wie sie der rheinische Armenerziehungsverein von Anfang an aufgestellt hat».83 Die Erhöhung des Staatsbeitrags für den Armenerziehungsverein auf 2000 Franken ermöglichte es, dass Gysin entlöhnt werden konnte.84

Abbildung 6: Vignette der Anstalt bei Augst, um 1858



Abbildung 7–10: Aufnahmen von Knaben des Schillingsrains, um 1911

Mit der Schaffung des Inspektorats als Vollzeitstelle wurde die Frage aufgeworfen, ob die Bezirksvorstände nun überhaupt noch ihre Daseinsberechtigung hätten. Es sei mehrfach vorgekommen, dass Pflegekinder von Martin Birmann, Emil Gysin oder den Bezirksvorständen «versorgt» worden und es so zu «Unregelmässigkeiten» gekommen sei. Ein Vorstandsmitglied stellte die Frage in den Raum, ob nicht ein «Kantonalbeamter» die «Beaufsichtigung u. Versorgung sämtlicher Kinder im Kanton» übernehmen könne. Auf dieses Votum entgegnete Martin Birmann, dass er 1852 zum Armeninspektor gewählt worden sei und «bis 1859 all den vielen Geschäften, die das Amt ihm gebracht», hätte nachkommen können. Seit der Gründung eines eigenen Hausstandes sei es ihm aber nicht mehr möglich gewesen, die Versorgung aller Kinder zu beaufsichtigen. Auch nach der Ernennung von Gysin zum Inspektor seien die Bezirksvorstände «nicht als überflüssig abzuthun»:85

«Denn für die Sache des Vereins brauche es Geld u. persönliche Arbeit, durch letztere erwache die Liebe zur Sache; diese aber wird rege erhalten dadurch, dass man die Geschichte der zu versorgenden u. die versorgten Kinder wisse, die Geschichte derselben wird in der Bezirksversammlung besprochen, diese dürfen deswegen nicht aufhören.»86

Nach Birmanns Auffassung würde das «neue Inspektorat» die Bezirksvorstände untereinander vereinigen, Gysin müsse an den Beratungen teilnehmen und die Beschlüsse dann ausführen. «H[err]. Gysin ist gleichsam der Arm des Vereins: es ist wohl der 4te Theil der Kinder im Kanton in andern Familien untergebracht; u. diese Menge zu überwachen, erfordert Zeit u. Mühe.»87 Je mehr Mitglieder in die Arbeit des Vereins involviert würden, «desto reichlicher werden auch die Gaben sein». Dies habe auch die «energisch und mit Liebe an die Hand» genommene «Versorgung» von Kindern durch Gysin gezeigt. Dieser konstatierte, dass «die Geschäftsführer […] seit er herumwandere, auch viel mehr arbeiten; auch er stimmt dafür, dass die Bez. Vorstände bleiben sollen.»88

Mit Gysin als vollberuflichem Inspektor besserte sich eingangs das Verhältnis zu den Gemeinden, die die «Bestrebungen des Vereins mehr u[nd] mehr» anerkannten und ihm «je länger je mehr ergänzend zur Seite» stünden.89 Auch das Verhältnis zu den kantonalen Behörden und namentlich der Regierung wurde als ein sehr gutes bezeichnet, so «dass bei allen Wandlungen der zum Regiment gelangenden Parteien noch jede Regierung und jeder Landrath zum Vereine eine freundliche Stellung eingenommen hat. Es hält derselbe auch darauf, dass der Regierungsrath in seinen Vorstand ein Mitglied wählt und noch jeweilen ist es die Person des Erziehungsdirektors gewesen.»90 Im Jahr 1878 wurden die Statuten angepasst, 91 um so das Arbeitsfeld des Inspektors besser einzubringen, dazu gehörte auch, «in unermüdlicher Treue […] ein Armenhaus der Gemeinden ums andere und damit manche Pflanzstätte des Verkommens aufzuheben».92

In den 1890er-Jahren scheint sich das Verhältnis zu den Gemeinden aber negativ verändert zu haben. In den Jahresberichten zeigt sich, dass die Selbstverständlichkeit des Wirkens früherer Jahre auch von Seiten leiblicher Eltern immer mehr in Frage gestellt wurde. Die Eltern, «denen die Kinder durch Staatsgewalt entzogen, denen das Erziehungsrecht genommen worden, sie betrachten das Eingreifen des Armenerziehungsvereins nicht als eine Hülfe, sondern als einen Eingriff in ihr Elternrecht».93 Der Armeninspektor wurde als Eindringling und nicht als «wohlmeinender Freund, sondern als Feind, wenn nicht gar als Räuber ihrer Kinder angeschaut».94 Zugleich lasse die Unterstützung der kommunalen Armenpflegen zu wünschen übrig, indem sich diese «durch allerlei Vorspiegelungen oder durch Verläumdungen des Pfleghauses täuschen» liessen und somit die Entscheide des Inspektors massgeblich untergruben.95 Hier kam erneut die «Emanzipation» der Eltern zum Ausdruck, die dezidiert und unter Verwendung der ihnen möglichen Rechts- und Druckmittel gegen die mögliche Wegnahme ihrer Kinder Beschwerde einlegten. Einer der Gründe, so führte der Vorstand an, sei die Vorspiegelung der Tatsache, dass die Armenpflegen, «bloss um der Pflicht der Familienunterstützung auszuweichen, es vorziehen, die Kinder dem Armenerziehungsverein um die Hälfte der Kosten zu übergeben und zu diesem Zwecke den Entzug des Erziehungsrechtes beantragen».96

Diese Beschuldigung war insofern interessant und wegweisend, als sie zwei Konzepte gegenüberstellte: die familieninterne Fürsorge, wobei die Armenpflege für die gesamte Unterstützungssumme alleine aufkommen musste, und die Fremdplatzierung in einer Pflegefamilie oder Anstalt, wobei sich der Armenerziehungsverein statutengemäss beteiligte. Die leiblichen Eltern kämpften für eine Familienunterstützung und wehrten sich gegen die Wegnahme ihrer Kinder, weil diese mit dem Aufkommen einer Variante nicht mehr als einzige Lösung galt. Die Frage um die Beschwerdeführung von Eltern und das neue Konzept der Familienfürsorge innerhalb der eigenen Familie schlug sogar auf Ebene der Kantonsregierung Wellen, sodass von dieser Seite beim Kantonalvorstand des Armenerziehungsvereins beantragt wurde:

«Wenn einer Witwe, die nur annähernd Garantie für richtige Erziehung der Kinder bietet, der Regierungsrat das Kindererziehungsrecht nicht entzieht, soll der Armenerziehungsverein der Mutter die Erziehung der Kinder überlassen und ihr die entsprechenden Beiträge zuerkennen, die der Verein leisten würde, wenn er die Kinder bei Pflegeltern untergebracht hätte. Dem Verein steht auch in diesem Falle das Aufsichtsrecht zu.»97

Die Armenerziehungsvereine verstanden sich ausdrücklich nicht als Unterstützungsvereine, sondern als Erziehungsvereine mit dem statutengemässen Auftrag, die Kinder zu diesem Zweck fremdzuplatzieren. Der Vorstand antwortete auf dieses Postulat, dass es selbstverständlich sei, armen Witwen, die Gewähr für eine gute Erziehung ihrer Kinder böten, von Seiten der öffentlich-rechtlichen Armenpflegen Familienunterstützungen zukommen zu lassen. Dies liege ja auch in der Pflicht der Armenpflegen. Der Vorstand präzisiert hierbei, dass diese Unterstützungen selbst von wohlhabenden Gemeinden nur unzureichend seien und die freiwillige Wohltätigkeit ebenfalls unterstützend eingreife, wobei «die Verarmung» in vielen Fällen «auf eignem Verschulden, auf Mangel an Arbeitslust, Sparsamkeit, bösen Gewohnheiten, Berufsunfähigkeit u. dgl.» beruhe.98

Der Vorstand unterliess es gegenüber der Kantonsregierung, diese geforderte Witwenunterstützung formell auszuschlagen, und zitierte stattdessen den Vereinszweck: «Der Armenerziehungsverein hat seit seiner Gründung stets den Zweck, der ihm den Namen gab, verfolgt, arme Kinder zu versorgen, zu bekleiden und unter seiner Aufsicht zu nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft erziehen zu lassen.»99 Als ein weiterer Grund wurde aufgeführt, dass bis vor einigen Jahren die Mittel nicht einmal gereicht hätten, sämtlichen von den Gemeinden eingehenden Gesuchen nachzukommen.100 Somit sei es illusorisch, «die Bedürfnisse der Familienunterstützung, welche den Gemeinden obliegt, zum grossen Teil zu bestreiten».101 Ein zusätzliches Argument gegen die Familienunterstützung von Seiten des Armenerziehungsvereins sah der Vorstand darin, dass Eltern, die ohne Probleme einer Fremdplatzierung zugestimmt hätten, nun «sich beharrlich bemühen würden, die Kinder zu behalten und sich dafür vom Armenerziehungsverein das Kostgeld bezahlen zu lassen».102

Dies sei aber nicht im Sinn der Vereinsgründer, die keine «allgemeine kantonale Armenkasse» schaffen wollten, «so wäre dem Verein der Name ‹Armen-Unterstützungsverein› statt ‹Armen-Erziehungsverein› gegeben worden».103 Hinzu käme bei der Familienunterstützung, dass den Eltern im Voraus ja de facto die Fähigkeit der Kindererziehung zugestanden würde und somit der Armenerziehungsverein keine Entscheidungshoheit für sich beanspruchen könne. Die Eltern würden sich «dessen bewusst, kaum an die Anordnungen und die Befehle der Vereinsorgane kehren, sondern diese durch passiven Widerstand zu ermüden suchen».104 Der Kantonalvorstand kam aus diesen Gründen zur Ansicht, den bereits eingeschlagenen Weg der Fremdplatzierung nicht zu verlassen und die Familienunterstützung nicht zu fördern. Vermisste der Vereinsvorstand bei manchen Armenpflegen eine konstruktive Zusammenarbeit, so sprach er der Polizeidirektion mehrfach den Dank aus, flüchtige Pflegekinder wieder ihren Pflegehäusern zuzuführen: «Es handelt sich dabei übrigens fast ausnahmslos um ältere Zöglinge, welche sich keiner Ordnung fügen wollen, ihren Platz eigenmächtig verliessen oder von unverständigen Anverwandten oder andern Leuten hiezu angestiftet wurden.»105

Während der Weltwirtschaftskrise stellte sich der Vorstand des Armenerziehungsvereins die Frage, ob die rückläufige Pflegekinderzahl auf die «Grundlagen oder die Organisation» des Vereins zurückzuführen sei. Er verneinte die Frage, denn «gerade in den heutigen schweren Zeiten wollen wir an unserm Grundsatze erst recht festhalten, die uns anvertrauten Zöglinge seelisch und beruflich nach Kräften zu fördern, um sie als tüchtige Menschen ins Leben hinaustreten zu lassen.» Der Vorstand wolle nicht alles der Krise zuschreiben, doch seien «die Zeitumstände» wohl tatsächlich die Hauptursache des Pflegekinderrückgangs. Die finanziellen Engpässe drängten viele kommunalen Armenbehörden dazu, «nicht die beste, sondern die billigste Unterbringung der versorgungsbedürftigen Kinder zu verfügen und sich aus Mangel an Mitteln viel grössere Zurückhaltung aufzuerlegen». Der Verein seinerseits könne keinen Einfluss auf die Pflegekinderzahl nehmen, «er nimmt nur die Kinder auf, die von den Versorgern bei ihm angemeldet werden.»106

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Armenerziehungsverein über anstehende Veränderungen diskutiert. Im August 1945 kam ein möglicher Verkauf des Schillingsrainguts an den Landwirtschaftlichen Verein Baselland zur Sprache. Der Kantonalvorstand sollte nun zu diesem Gesuch Stellung nehmen. Falls dieses abgewiesen würde, müsse ein Beschluss über einen notwendigen Um- und Ausbau des Anstaltsgebäudes gefasst werden. Als Erster ergriff Regierungsrat Leo Mann (1890–1958) das Wort und hielt das Anstaltsgebäude für ein «gesundes», das nur neuzeitlich umgebaut werden müsse. «Vom Standpunkt des AEV aus ist das Haus nicht aufzugeben.» Der Umbau solle in einem Zug erfolgen, und die Finanzierung stelle keine Schwierigkeiten dar, wie der Regierungsrat befand. «Ein Beitrag kann im Rahmen des Arbeitsbeschaffungsprogramms geleistet werden. Der Reg.- Rat wartet nur auf den Entscheid des A.E.V. um die Angelegenheit dem Landrat vorzulegen.» Im Anschluss wurde das Gesuch nochmals verlesen und festgestellt, dass es «zahm» sei und überhaupt keine Angaben über eine angemessene Kompensation beinhalte. Der damalige Hausvater des Schillingsrains sprach sich ebenfalls für die Erhaltung der Anstalt auf dem angestammten Platz aus, zumal der Boden sehr fruchtbar sei und die verkehrsgünstige Lage in der Nähe Liestals einen Standortvorteil bedeute. Das im Vorfeld eingeholte Gutachten der Jugendanwaltschaft der Stadt Bern bezeichnete den Schillingsrain als ein mit allen Vorzügen ausgestattetes Erziehungsheim, allerdings mit einigen baulichen Mängeln.107 Diese seien aber durch den geplanten Umbau aufzulösen, weshalb einstimmig beschlossen wurde, den Schillingsrain nicht zu verkaufen.108 Der Pflegekinderskandal in Frutigen warf auch im Armenerziehungsverein in Basel-Landschaft seine Wellen. Der Vorstand bemerkte, dass solche Ereignisse in «weiten Kreisen Misstrauen gegen das Pflegekinderwesen» weckten und die Gefahr bestehe, dass man «in falscher Verallgemeinerung alle Pflegeeltern als unfähig und der Liebe bloss, alle Fürsorger und Inspektoren als ihrer Aufgabe nicht gewachsen taxiert»:109

«Niemand weiss besser um die Not, in die ein Kind gerät, wenn es aus irgendwelchen Gründen ohne eigene Eltern aufwachsen muss, als gerade die leitenden Instanzen des AEV. Wir wissen, dass auch die Placierung eines benachteiligten Kindes in eine gute Pflegefamilie nur ein ungenügender Ersatz ist für die eigenen Eltern, wenn diese fähig sind, ihren Kindern Liebe und gute Leitung zu geben.»110

Nachdem im Jahr 1958 die Namensänderung von Seiten zweier Reallehrer aus Pratteln erneut vorgeschlagen wurde, 111 besprach der Kantonalvorstand diesen Vorstoss. Er war der Ansicht, dass man den traditionell verankerten Namen keiner «Modeströmung zuliebe» opfern wolle, und stimmte rein informell ab.112 1962 erfolgte im Zusammenhang mit der bevorstehenden Totalrevision des Einführungsgesetzes zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch eine Standortbestimmung des Armenerziehungsvereins. Inspektor Kurt Lüthy schlug den Verkauf des Schillingrains vor, durch den Erlös sollte ein Heimneubau ermöglicht werden. Durch die Gewinnausschüttung würde der Armenerziehungsverein befähigt, eine Familienfürsorgestelle aufzubauen, deren Namen «Birmann-Stiftung» sein sollte – so «wäre auch die Namensfrage gelöst». Wie sich herausstellte, verlangte jedoch der Regierungsrat die Bezeichnung «Jugendsekretariat», womit sich der Armenerziehungsverein nicht anfreunden konnte und vorerst die Pflegekinderbetreuung noch unter dem «Inspektorat des AEV arbeiten liess».113

Bereits 1964 konnte allerdings das zuvor angedachte Szenario umgesetzt werden. Die organisatorische Umstellung und insbesondere die Namensanpassung sei schon seit einigen Jahren überfällig, «weil immer wieder von Seiten der Schützlinge Klagen laut wurden, dass sie unter diesem Namen, Kinder des Armenerziehungsvereins zu sein, von der Umgebung leiden mussten».114 Die Organisationsanpassung wurde so umgesetzt, dass der Armenerziehungsverein als Trägerverein bestehen blieb, das Tagesgeschäft allerdings der «Birmann-Stiftung» übergeben wurde: «Zum Zeichen, dass mit dieser Stiftung nur gegen aussen eine neue Stelle in Erscheinung tritt, innerlich aber der Armenerziehungsverein da ist, ist der Engere Vorstand des Armenerziehungsvereins zugleich Stiftungsrat. Der Armenerziehungsverein bleibt also, die ausführende Hand hat einen neuen Namen erhalten.»115

Die Bezirks-Armenerziehungsvereine des Kantons Aargau

An der Sitzung der Gesellschaft für vaterländische Kultur des Bezirks Aarau (der späteren Kulturgesellschaft) vom 22. August 1854 wurde die Situation armer Jugendlicher besprochen. Das Gesellschaftsmitglied Pfarrer Emil Jakob Friedrich Zschokke (1808–1889), 116 der aus dem Kanton Basel-Landschaft 1845 über Kulm in die Stadtkirche Aarau berufen wurde, brachte nach dem Vorbild des Basellandschaftlichen Vereins die Idee der Armenerziehungsvereine mit in den Aargau.117 In der Sitzung war ursprünglich nur von der «Bildung und Erziehung der armen weiblichen Jugend» die Rede, die mittels Kreisschreiben an sämtliche Kulturgesellschaften nähergebracht werden sollte.118 Auf die nächste Generalversammlung am 20. September 1854 sollte das Thema von Zschokke und Postdirektor Rudolf Lindenmann (1808–1871), der ebenfalls Verbindungen zum Halbkanton pflegte, näher ausgeführt werden. Die geplante Generalversammlung fand jedoch aufgrund einer Cholera-Epidemie nicht statt.119 Das Duo erhielt im folgenden Jahr vom Basellandschaftlichen Armenerziehungsverein den Rechenschaftsbericht über das Jahr 1854120 sowie die Satzungen des Freiwilligen Armenvereins des Bezirks Baden zur weiteren Vorberatung.121

Im September 1855 wurde das angesprochene Zirkular schliesslich verfasst, wobei nicht die epidemische Angst als Absagegrund für die vorjährige Generalversammlung genannt wurde, sondern die Vorbehalte gegenüber einem interessanten und hitzigen Ideenaustausch, dem aber voraussichtlich kein «praktischer Erfolg» beschieden sein würde. Im Rundschreiben an die Bezirksgesellschaften wurden die Fragen aufgeworfen: «Wie kann am zweckmässigsten für Rettung verwahrloster Kinder gesorgt werden? Und welche Mittel sind anzuwenden, um dieses Rettungswerk ohne längeres Zögern in’s Leben zu rufen?» Die Aarauer Kulturgesellschaft stellte ferner die Frage in den Raum: «Ob die Gründung von eigenen Rettungsanstalten oder aber die Unterbringung und Erziehung von verwahrlosten Kindern in ehrbaren Familien als zweckmässiger erschiene?»122

Auch die aargauische Direktion des Innern unterstützte das Unterfangen und signalisierte, «sich an das Wirken jenes Vereins anzuschliessen und hiefür die geeigneten Schritte einzuleiten», sodass die Kulturgesellschaft die Initiative ruhig ergreifen könne. Ausserdem wurde allgemein konstatiert, «dass der gegenwärtige Moment geeignet sei, solche Vereine zu gründen, und dass hiefür authographierte123 Zuschriften an die sämmtlichen Gemeinderäthe und Pfarrer im Bezirk mit der Bitte zu senden seien, damit sie Abgeordnete zur Berathung der Statuten senden möchten».124

Die Generalversammlung sämtlicher Bezirks-Kulturgesellschaften, die zuletzt 1853 in Bremgarten tagten, sollte dafür der passende Rahmen sein. Anvisiert wurde der 15. Oktober 1856 im Casino Aarau mit den zwei Haupttraktanden, der Schaffung von «Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder» und Aufsichtsvereinen für entlassene Sträflinge.125 Regierungsrat Augustin Keller (1805–1883) und Pfarrer Emil Zschokke sollten eine diesbezügliche Kommission bilden.126 Die Ausstellung des Zirkulars übernahm die «Regierungs-Autographie», sodass für den Verein keine Kosten entstanden.127 Die Pläne für neue Kindererziehungsanstalten wurden mit der Übergabe der Pestalozzistiftung in Olsberg an den Staat jedoch hinfällig.

Dennoch wollte sich die Kulturgesellschaft dafür einsetzen, dass im Bezirk Aarau ein Pendant zum 1855 gegründeten Zofinger Kinderversorgungsverein geschaffen werde.128 Die Kulturgesellschaften der Bezirke engagierten sich bereits vor den Gründungen der Armenerziehungsvereine im Bereich der «Armenpflege». Im Bezirk Brugg wurden in den Jahren 1854 und 1855 Lebensmittelkollekten durchgeführt und 1856 der «Almosenverein der Gemeinde Brugg» gegründet, sodass «in der Kulturgesellschaft von Brugg […] in jener Zeit eine warme, schöne Theilnahme an Fragen der Armenpflege und an soliden Verbesserungen auf diesem Gebiet erwacht[e].»129 Diese Sensibilisierung führte zu einer Bezirksversammlung «von Männern des Armenwesens», in deren Schoss «die Wege einer bessernden Einwirkung auf die bestehende Armenpflege, eifrigst durchgesprochen und berathen» wurde. Insbesondere die Arbeit des 1855 gegründeten Kinderversorgungsvereins Zofingen, «ganz besonders aber die so ergreifenden als gediegenen Berichte von dem schönen Wirken des Basellandschaftlichen Armen-Erziehungsvereins hatte […] einen tiefen Eindruck hinterlassen, eine nachhaltige Begeisterung erweckt».130

Bei der Kulturgesellschaft des Bezirks Aarau wurde der Beschluss gefasst, dass das Zofinger Reglement als Vorlage verwendet werden sollte. Am 4. Januar 1860 richteten sich Emil Zschokke und Ludwig Karrer (1830–1893), der Aargauer Regierungsrat und nachmaliger Kommissär des eidgenössischen Auswanderungsamtes, mit einem Aufruf an die Bezirksbevölkerung. Im Aufruf wurden desolate Familienverhältnisse, von Gemeinden praktizierte «Mindersteigerungen» und die «Liederlichkeit» der Eltern als Gründe für die Konstituierung genannt: «Mitten in einem Christenlande begegnen wir somit Familien und verwahrlosten Kindern, deren Zustand ein wahrhaft heidnischer ist. Es bildet dies zur hochgepriesenen Civilisation unserer Zeit einen düstern Gegensatz. Manchem Menschenfreund blutet das Herz darob und er hat diese Übelstände schon längst tief beklagt.»131

Im Bezirk Lenzburg tagte am 25. November 1860 die Bezirks-Kulturgesellschaft über die Gründung eines Armenerziehungsvereins, und am 19. Dezember 1860 wurden die Statuten im Lenzburger Rathaus besprochen, die Konstituierung als wünschenswert anerkannt und den Gemeinden die Schaffung von «Fünfrappenvereinen» aufgetragen. Erste Geldmittel wurden bis am 21. März 1861 zusammengetragen, sodass der Armenerziehungsverein «mit der Verkostgeldung der angemeldeten armen, ‹der Verwahrlosung entgegengehenden Kinder› den Anfang» machen konnte, gegebenenfalls auch unter Anwendung von «Zwangsmassregeln».132 Auch der am 28. Oktober 1861 ins Leben gerufene Armen-Kinder-Erziehungs-Verein des Bezirks Muri war eine Tochter der dortigen Gemeinnützigen Gesellschaft, die sogar die Führung des Vereins für 25 Jahre – bis zum Jahr 1887 – übernahm.133 Der Gründung voran ging ein Aufruf an die Einwohner, der «von allen Kanzeln verlesen» wurde und in fast allen Gemeinden der Kreise Muri, Sins und Merenschwand auf Resonanz stiess. Die Vereinsleitung unter dem ehemaligen liberal-katholischen Regierungsrat und späteren Nationalrat Peter Suter (1808–1884) wurde einem fünfköpfigen Vorstand übergeben, diesem untergeordnet war für jeden Kreis des Bezirks ein abermaliger fünfköpfiger Vorstand.134

Sowohl das Zirkular der Aarauer Kulturgesellschaft als auch eines der Direktion des Innern vom Oktober 1863 führten zu weiteren Gründungen von Armenerziehungsvereinen in den Bezirken Lenzburg (1861), Bremgarten (1861), Muri (1862), Baden (1862), Zurzach (1864) und Kulm (1865).135 Insbesondere der Direktor des Innern begrüsste die Schaffung von Armenerziehungsvereinen, indem er bekräftigte, dass die «Armenerziehung» im Kanton Aargau eine «ebenso erfreuliche als erfolgreiche Thätigkeit von Vereinen und Freunden der Armen» darstelle und von «Regierung und Volk bereits anerkannt» würde. «Die Direktion des Innern, der das Armenwesen unterstellt ist, hat jeden Anlass, die Armenvereine in ihrem Bestreben zu unterstützen, gerne benutzt.»136 In der ersten Hälfte der 1860er-Jahre bildete die Gründung von Armenerziehungsvereinen «eine Hauptaufgabe fast sämmtlicher Bezirks-Kulturgesellschaften», wie Emil Zschokke in einem Artikel in der Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit resümierte, und sie stünden «in blühendem Gedeihen».137 Er führte die Vereinsgründungen auf die Notjahre von 1845 zurück, die in einigen Gegenden des Aargaus tiefe Schäden hervorriefen und «am Lebensmark der untersten Volksschichten» nagten:

«Man ward gewahr, dass nicht nur äusserster leiblicher Mangel bei vielen armen Familien des Landes bestehe, sondern hie und da eine eben so grosse sittliche Verkommenheit zu finden sei. Grenzenlose Liederlichkeit, völlige Arbeitsscheu und Abgestumpftheit gegen alle besseren Gefühle sammt dem ganzen Gefolge von Lastern, die aus solchem Sumpfe gewöhnlich hervorgehen, traten nicht selten in erschreckender Weise auf. Das Unwesen der Bettelei überfluthete das Land in vorher noch nie dagewesener Weise.»138

Diesem moralischen Sumpf wollten die Armenerziehungsvereine laut Zschokke entgegenwirken, indem «nämlich durch bessere Erziehung der Kinder aus solchen sittlich und ökonomisch versunkenen Familien» eine pädagogische Hilfe geleistet werden sollte. Er bemerkte, dass es sehr wohl «Rettungsanstalten» im Kanton Aargau gab, «allein theils gewährten dieselben nicht den erforderlichen Raum für Aufnahme so vieler bedürftiger Kinder, theils konnten die verhältnismässig immerhin grossen Kostgelder nicht erschwungen werden». Das geeignete und kostengünstigere Pflegehausmodell hatte aber auch noch einen weiteren pädagogischen Vorteil, indem «Familien-Erziehung weit natürgemässer und für alle Zukunft heilsamer sei, als Anstalts-Erziehung».139

Anscheinend weckte die Berichterstattung über die aargauischen Armenerziehungsvereine das Interesse der Leserschaft der «Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit», denn im folgenden Jahr meldete sich Zschokke erneut zu Wort: «Die Sache scheint in der Schweiz herum vielfach Anklang zu finden; wenigstens wurde ich schon wiederholt über deren Einrichtung befragt.»140 Wieder führte er die Vereinsgründungen auf das Jahr 1845 und «die Erkrankung der Erdäpfel und die von da an wiederholt herrschenden Gewerbs- und Handelskrisen» zurück. In deren Folge trat «der Pauperismus in mehreren Gegenden des Kantons in erschreckender Gestalt wie nie zuvor» auf. Im Schosse der Kulturgesellschaft seien daraufhin ergebnislos verschiedene Lösungsansätze besprochen worden, bis man schliesslich zur Überzeugung kam, «dass alle bisher versuchten Mittel ohne radikale Abhülfe durch bessere Erziehung der Kinder aus verkommenen Familien nichts fruchten würden».141 Aus diesem Gedanken heraus seien die sich gleichenden Armenerziehungsvereine entstanden.142

Eine umfangreiche Darstellung erfuhren die Armenerziehungsvereine beim Geschichtswerk über die Aargauische Gemeinnützige Gesellschaft im Jahr 1912. Rudolf Wernly resümierte aus den Protokollen, dass die Gründung im Schosse der Kulturgesellschaft wesentlich um die Frage kreiste, ob Anstaltserziehung oder Familienerziehung das geeignetste Mittel sei.143 Am 24. September 1856 wurde im Kasinosaal in Aarau eine Generalversammlung abgehalten, wobei Emil Zschokke als Referent geladen war. Als «Grundgedanken» wurden festgesetzt: die «Versorgung aller armen, der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzten Kinder womöglich in rechtschaffene Familien, dagegen Unterbringung von bereits verdorbenen in Rettungsanstalten» und die «Gründung von sogenannten Fünfrappen-Vereinen, später vom Volksmund ‹Halbbatzenvereine› genannt».144 Die «Zweigvereine» der Kulturgesellschaften wurden in den Bezirken aktiv. «Die Organisation dieser Bezirksvereine gestaltete sich, bis auf kleinere unwesentliche Verschiedenheiten, überall gleichmässig und stütte sich bei allen auf das System der Fünfrappen-Kollekte, weiterhin auf Gemeinde- und Staatsbeiträge, Schenkungen und Legate.»145 Wernly umschrieb die einzelnen Funktionen der Vereinsorgane und bekräftigte insbesondere, dass die «Sammlerinnen» die «freiwilligen Mitgliederbeiträge von Haus zu Haus» einzögen und die «wertvolle Vorhut des Vereins für den Eroberungszug der Humanität» bildeten.146 Die beiden vorgestellten Geschichtswerke über den Kanton Aargau und die Kulturgesellschaft stammten aus dem direkten Umfeld der Armenerziehungsvereine und zeugen vom Selbstverständnis der damals höchst aktiven Vereine, die zwischen 1910 und 1915 jährlich rund 1300 Pflegekinder beaufsichtigten.

Im Bezirk Laufenburg musste ein erster Armenerziehungsverein aufgrund von «äusseren Verumständungen» aufgelöst werden, sodass in der Folge «aus dem langen Ausbleiben eines Armenerziehungs-Vereins» geschlossen wurde, «es sei dieses Institut bei uns nicht nothwendig». Diesen Eindruck teilten 72 Männer aus den Gemeinden des Bezirks ganz und gar nicht, sodass am 24. September 1882 die «Wiedereinführung des Armenerziehungs-Vereins» beschlossen und sogleich 52 Kinder «platziert» wurden.147 Als letzter Armenerziehungsverein im Kanton Aargau wurde 1889 derjenige im Bezirk Rheinfelden gegründet. Der offiziellen Gründung gingen bereits einige Versuche voraus, so löste sich der 1862 gegründete Armenerziehungsverein zwischenzeitlich auf.148 Bei der Einladung eines Initiativkomitees am 3. Februar 1889 machte die anwesende Opposition geltend,

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