Kitabı oku: «Die Stimme des Atems», sayfa 2

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Kinderspruch

… und eersch dFranzoose

mit de rote Hoose,

mit de gääle Fingge –

schmöggsch wie si stingge?

Bin ich der letzte, der sich erinnert? Die böse Zunge hat ein erschreckendes Gedächtnis. Noch Mitte der vierziger Jahre hörte ich obigen freundnachbarlichen Vers, dessen Entstehung damals schon über siebzig Jahre zurücklag und von dem ich nur den Schluss noch weiss. Dass mir ausgerechnet diese Verse blieben, mag mit der Bereitschaft des Kindes zusammenhängen, sich besser und stärker als andre zu fühlen und sie lustvoll herunterzumachen.

Ein Ausdruck deutschschweizerischer Verachtung und Überheblichkeit angesichts der Niederlage Frankreichs im Krieg von 1870/1871. Die roten Hosen der Infanterie und die gelben, wahrscheinlich naturgegerbten Marschschuhe lebten in Schweizer Kinderhirnen weiter. Es gab also nicht nur das Bourbaki-Panorama und die grosszügige Beherbergung und Durchfütterung der französischen Ostarmee, sondern, untergründig glimmend, die Schadenfreude, dass der grosse Nachbar auf die Nase gefallen und sein Kaiser abgesetzt war. Man gönnte es der grande nation, dass ihre 80000 Mann starke Bourbaki-Armee sich der kleinen Schweiz ergeben und von Schweizern entwaffnen lassen musste. Vermutlich – darauf weist der Beginn – wurden erst die Deutschen, dann die Italiener oder Österreicher und am Schluss die Franzosen aufs Korn genommen.

→Führer →Krieg →Kriegsschuld →Liedgut →Schlagen

Aas

Sonntag. Wir spielen mit Cousins und Cousinen, die zu Besuch sind, vielleicht auch mit den Kindern W. aus dem Nachbarhaus, wo es immer nach abgestandenem Sauerkraut riecht. Auf dem Grasstück zwischen dem Garten von Dr. Ginella und dem Hof des Bauern Aeschbach hat jemand einen Gegenstand versteckt. Nahe dem Zaun wuchert hohes Unkraut, Gebüsch dunkelt. Ich bin am Suchen und habe plötzlich unter den Händen, die das Gras teilen, so nah, dass ich fast hineingegrapscht hätte, eine rötlichgräuliche, fliessende Fleischmasse, eine aufgeplatzte Ratte. Das Gedärm quillt schlabbrig hervor, und darin ringeln sich mästende Würmer über- und durcheinander. Ich zucke zurück, Grausen verschlägt mir die Stimme, der Magen dreht sich, doch kann ich mich nicht übergeben. Ich renne weg, weit weg von diesem Kothaufen des Bösen, durchs Gartentor in den umzäunten, geschützten Bereich des Doktorhauses.

→Erste Heimlichkeit →Der Geruch →Tödlein

Alarmsirene und Schlachthaus

Sie gleicht einem Storchennest und tanzt auf knickigem Stelzbein zuoberst auf dem Giebel des Schlachthauses, des grössten und höchsten Baus in der Ringmauer der Unterstadt. Sie zieht den Krieg auf sich, alle Zerstörung und Angst. Wenn sie zu heulen beginnt, an- und abschwellend, streut sie das Böse in die vier Winde und lässt das Entsetzen über mir zusammenschlagen. Auf dem dünnen Stahlrohr drehe sich, erklärt man mir, nur ein Metallteller, der von einem zweiten Teller bedeckt werde. Doch da ich die Sirene ebenso fürchte wie hasse, wage ich es nicht, sie genau anzusehen. Sie steht und droht abseits. Abgestellt im Augenwinkel, rächt sie sich fürs vorsätzliche Vorbeischauen, indem sie uns nächtens in den Keller des Doktorhauses an der Grabenstrasse scheucht, denn Bahnhof und Fabriken wären das Hauptziel eines Bombenangriffs, und wir wohnen mittendrin.

Zofinger Tagblatt, 24. November 1943
Verheerende Wirkungen des Luftangriffs auf Berlin. Die R.A.F. warf 2400 Tonnen Bomben ab

Insgesamt hielten sich die Geschwader 35 Minuten über Berlin auf. Etwa 20 Minunten nach dem ersten Bombenabwurf kam es zu einer gewaltigen Explosion, deren Wirkung bis zu 6500 Meter Höhe deutlich zu spüren war. Hunderte von Piloten bestätigten in der Vernehmung am Mittwoch, dass sie bisher in keinem Unternehmen eine derartig schwere Detonation mit Luftdruckwirkung in diesen Höhen wahrgenommen haben. Nach der Meinung der Artillerieleitung ist entweder ein Hauptmunitionsdepot oder ein riesiges Gaswerk in die Luft geflogen. «Die von uns allen beobachtete Explosion war unvorstellbar gewaltig. Plötzlich schoss ein glänzend weisses Licht auf, und darnach ging der Horizont langsam in eine rotglühende Farbe über.»

Auch das Schlachthaus behalte ich im Augenwinkel. Ich meide die Fegergasse, und muss ich doch durch, laufe ich den gegenüberliegenden Gehsteig entlang, vor die Füsse blickend oder einfach auf die Türen oder in die halbblinden Fenster der schmalbrüstigen Häuser. Sie sind klein, ärmlich, verlottert, denn im Dunstkreis des Schlachthauses können behäbige Häuser nicht gedeihen. Ein Bogentor gäbe Einblick. Ist die blutige Arbeit getan, am Nachmittag, steht es meist offen; Blut, Urin und Kot wird von Böden, Wänden, Winden, Haken und Messern abgespritzt, frische Luft wird eingelassen, denn Blut stinkt, und der Tod brüllt und quietscht mit Menschenstimme. Die Schauerlichkeit der verbotenen Innereien lockt, die das offene Tor auf obszöne Weise verheisst. Aber ich lasse mich nicht ertappen, lange Jahre nicht.

→Abwässer →Gassen →Hochkamine und Sirenen →Krieg

Tödlein

Die Mutter hat meinen Bruder und mich zu Bett gebracht. Als ein Geräusch mich weckt, herrscht bei heruntergelassenen Rolläden noch die Dämmerung eines langen Frühlingsabends. Ich drehe den Kopf nach dem Raspeln oder Kichern am Betthaupt und sehe den Tod, ein grauweissliches Skelett, so gross wie ein Teddybär. Rittlings hockt er auf der obern Bettlade, klappert mit Knochen und Gebiss und grinst, erfüllt von schauerlicher Lustigkeit, auf mich herab, im Begriff, mir an die Gurgel zu springen und mich fortzuschleppen. Vor Grauen stockt mir der Atem; ich tauche unter Laken und Bettdecke, einziger Fluchtweg, wenn auch sinnlos, da es für den Tod ein leichtes sein wird, mir nachzukriechen und mich nach kurzem Kampf in luftloser Finsternis zu erwürgen. Nass von Angstschweiss warte ich den Angriff ab. In dieser Lage muss ich wieder eingeschlafen sein und mich an die Luft zurückgestrampelt haben.

(Dieser Pavor des Sechsjährigen – wir wohnten bereits im Haus über der Stadt – holte den Tod zum ersten Mal aus Wort und Bild in die mich bedrohende Wirklichkeit. Er borgte seine Gestalt aus Alfred Rethels «Totentanz»; ich kannte das Holzschnittwerk über die revolutionären Barrikadenkämpfe des Jahres 1848 gut, es lag im verglasten Bücherschrank. Nun hatte ich den Tod «lebendig» gesehen und war ihm nur entronnen, weil sein Gekicher mich zu früh geweckt hatte. Monatelang blieb die Angst, im Schlaf von ihm überfallen zu werden. Der Begriff «Tödlein» nistete sich in meinem Wortschatz ein.)

→Ameisen – Todesspiel →Ersticken →Krieg →Löwentraum

Abwässer

Umweltschutz – kein Mensch hatte davon gehört. Unser aller Kot und Abfall floss stellenweise offen dahin und stach in die Nase.

Die chemischen wie die Farb und Düngerwerke hinter den Bahngleisen wurden im Süden und Westen von einer Mauer umschlossen, die sich über einer Böschung hinzog, ein kleiner Kanal an ihrem Fuss wurde vom Stadtbach gespeist. Das Wasser quoll aus einem Düker etliche Meter über dem Niveau der Bahnhofsunterführung, welche die Quartiere Henzmann und Brühl mit der Stadt verbindet. Wenn die Sonne es durchleuchtete, unterschied man Menschenkot, Papier, Blutgerinnsel und andern organischen Abfall, der träge kreiselnd dahintrieb. Hundert Schritt weiter bog der Kanal um die Ecke der Umfassungsmauer nach Norden ab, und nun überblickte man eine Anzahl dünner Stahlrohre, die in regelmässigen Abständen die Böschung am Fuss der Mauer durchstiessen und ihre Abwässer in den Kanal schütteten. Jedes Rohr führte eine andere Farbe. Es tröpfelte oder rann gelb, rot, grün, blau, orangefarben. Ob der schwache Anilingeruch aus diesen Röhren quoll oder im Räuchlein enthalten war, das zwei bleistiftschlanke blitzende Stahlkamine hinter der Mauer ausstiessen, war nicht zu entscheiden. Ich atmete ihn gierig.

Dann hatte man das Areal der Farben- und Lackfabrik sowie der chemischen Werke hinter sich, doch die Betonmauer setzte sich fort. Hinter ihr duckte sich nunmehr die Pestküche des Industrieviertels, eine Düngerfabrik. Über ihren Schuppen hing bei schönem, windstillem Wetter eine gelbliche Glocke Gestank; die Mauer musste ekelerregende Geheimnisse verbergen. Wehte die Bise, schlug einem scharfer Faul- und Fäkalbrodem ins Gesicht, bei Westwind presste er sich durch die Fensterritzen in die Wohnungen des Bündtenquartiers: das Plumpsklo im Schlafzimmer.

Ein Ruck an der Hand des Vaters, dass er stehenbleibt, denn die Mauer verbirgt nicht alles. In schwer abschätzbarer Distanz, vielleicht im Hof der Knochen- und Abfallmühle, dreht sich langsam ein haushohes Rad und schlenkert fetziges triefendes Gemengsel, Lumpen, Pflanzen, Fleisch und Fellreste durch die Luft, eine primitive Mischvorrichtung. Ich vermute heute, dass es sich durch ein Becken, gefüllt mit verrottendem Müll, gedreht und dafür gesorgt hat, dass die Brühe durchlüftet und die Faulgärung befördert wurde.

Das Rad war der Ort der Umkehr. Das Kanalwasser hatte nun eine ölige Mischfarbe, es schillerte bläulichbraunrot und schäumte uringelb hinter angeschwemmten Hindernissen. Der Graben verlor sich in der Talebene. Die Giftfracht hat mich nie gestört; sie war einfach da, schon seit Urzeit, und mir vertraut. In meiner Vorstellung bin ich auf dem Damm über dem fett schillernden Abwasserkanal zwischen versengten Grasböschungen weitergegangen, bis er sich in die Wigger, mit der Wigger in die Aare, mit der Aare in den Rhein und endlich ins Meer ergoss. Dort bezeugten feinverteilte bläulichbraunrote Schlieren, dass es uns, die stinkende Fabrikkleinstadt im unschuldigen Hinterhof Europas, gab.

→Aas →Brände →Fabrikgerüche →Gestank →Der Geruch →Tinte

Zofinger Tagblatt
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«Mit doppelten Kräften Mehranbau 1942»

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Eisenbahn

Der Bahnhof gleich hinter dem Garten von Dr. Ginella hornt, pfeift, rasselt, klenkt, dampft, zischt, raucht. Selbst nachts kündigt sich in der Ferne plötzlich ein schwaches Rollen an, schwillt zum Donnern eines durchfahrenden Güterzugs und verhallt erst nach langer Zeit. Im Gleis­areal hetzen und keuchen tagsüber zwei zweiachsige Verschiebedampfloks kurzatmig hinter den Güterwagen her. Die Geräusche des Bahnhofs bleiben mir Heimat, obschon ich mit fünf aus dem Quartier wegkomme; der Geruch heissen Schmieröls und halbverbrannter Kohle ist noch heute ein Zauber.

Die Güterzüge, verdreckt und zusammengewürfelt, kommen von fern, von viel weiter her als selbst die Schnellzüge. Diese hält der Bahnhofsvorstand an, die Güterzüge lässt er passieren; er verkriecht sich vor ihnen ins Stationsgebäude oder den langen Güterschuppen. Das in den plombierten Waggons oder mit Planen überdeckten Hochbordwagen transportierte Gut, unterwegs nach Deutschland oder Italien, duldet keinen Aufschub.

Unheimlich und der Verehrung würdig sind diese abgekämpften, zerbeulten, auf beschädigten oder ausgeleierten Achslagern vorüberhumpelnden Güterzüge. Sie kanalisieren den Krieg: In nur fünfzig Meter Distanz fahren sie an unsrem Haus vorbei. Zwar lautet die tröstliche Doktrin, dass Olten zuerst «drankäme», weil dort mit einem Bombenschlag das Eisenbahnkreuz der Schweiz zertrümmert würde. Doch ein Nachschlag auf die hiesigen Eisenbahnanlagen, die Brücke der Strassenunterführung, den Gaskessel und die wie Zunder brennenden und explodierenden chemischen Werke würde den Nord-Süd-Verkehr für eine gute Weile lahmlegen. Drum wohl holt die Mutter mich in Alarmnächten aus dem Gitterbett und trägt mich in den Keller. Später, im Haus ob der Stadt, ist dies nicht mehr nötig, obwohl der Krieg weiterwütet und die Bombardierungen näher rücken.

Im Süden des Bahnhofs staut ein fünfgleisiger Niveauübergang mit Fussgängerunterführung den Strom der Radfahrer aus Strengelbach und Vordemwald. Den Fussgängern vorbehalten ist die Passerelle, die der elektrischen Fahrleitungen wegen in einem Kasten aus feinmaschigem Drahtgitter hängt, das weit über meine Kopfhöhe reicht. Ein Totenschädel über gekreuztem Gebein warnt. Hier erfahre ich die fröhliche Brutalität der Eisenbahn.

Ich blicke durchs Gitter über die Gleise und auf die hoch gestapelten, blaugrünlich gestriemten Stämme der Holzkonservierung. Von Norden nähert sich das Höhöhö eines schweren Güterzugs in DampfDoppeltraktion, und einen Moment lang möchte ichʼs zum Stillstand bringen, das Dröhnen jagt die Angst vor sich her. Die vordere Lokomotive pustet aus dem Schatten des äusseren Bahnsteigdachs, die Passerelle beginnt zu vibrieren, die Angst schlägt um in ausgelassene Begeisterung. Die Maschinen donnern unter der Passerelle durch, zischender Dampf nimmt mir die Sicht und beinahe den Atem. Allmählich lichtet sich der wild wallende, vom Luftzug herumgewirbelte Nebel über einem schweren Rumpeln und Pumpeln wie im Bauch des Wolfs. Güterwagen, plump und machtvoll, rollen folgsam unter mir durch, in allen Farben von Rauch, Russ und Rost, Dach um Dach. Der Schwanz des Zugs wird vorbeigezogen, die auf- und abblakende rote Zugsschlusslaterne entfernt sich, die Luft ist wieder klar. Blaugrünlich der Stammstapel der Holzkonservierung.

Steht die Barriere des Niveauübergangs draussen im Altachenquartier offen, trete ich zwischen die Gleise und schaue nach Süden. Die Stahlschienen blitzen, die Luft flimmert; je ferner der Blick den Gleissträngen folgt, desto näher kommen sie sich, desto schwächer wird das Glimmern, desto stumpfer und dunstiger die Luft. Irgendwo hängt noch der Rauch des zuletzt vorbeigefahrenen Zuges. Italien – wo die Schienen sich schneiden.

Am Villenhügel hört man den Krieg und die Eisenbahn nur bei Westwind. Statt ihrer wird uns eine Märklin-Spielzeugbahn Spur 0 mit schwarzgespritzter Dampflok auf roten Rädern, Kohletender und einigen Personenwagen geschenkt; mir wäre ein müde kriechender Wurm von einem Güterzug lieber. Unter meiner Regie verkehrt die Bahn zwischen den Beinen des Esstischs und unter dem kleinen Buffet mit der Alabasterstanduhr aus Paris. Abenteuerlich istʼs, die Schienen erst zusammenzustecken und dann an düstere Orte zu schieben, die ich kriechend nicht erreiche, mich auf den besonnten Teppich in der Zimmermitte zu setzen und die Lokomotive loszuschicken. Sie erkundet in meinem Namen, da ich als Lokführer mitfahre. Auf sicheren Schienen unter dem leicht durchhängenden Stoffbauch des Ledersofas zirkulierend, nehme ich die Gegend in Besitz, und selbst an dunklen Orten wird das Unheimliche so schnell nicht nachwachsen.

Den Traum von einer Modellbahnanlage träume ich weit über die Kindheit hinaus. Meine Mutter, wohl um diese Leidenschaft wissend, hat mir den FCW-Katalog zugeschickt bis wenige Jahre vor ihrem Tod.

→Dampfdreirad →Dr. med. Ginella →Hochkamine und Sirenen →Krieg →Waldbahn

Zofinger Tagblatt, 10. Januar 1950
«Operation Schweiz»
Wie unser Land von den Truppen Hitlers überrumpelt werden sollte

Etwa am Morgen des zweiten Angriffstages ist mit der Ausweitung der Brückenköpfe zu rechnen, so dass drei Panzerdivisionen antreten können: Eine Division stösst von Basel aus in allgemeiner Richtung auf Solothurn vor, die zweite Division, von Waldshut ins Aaretal, dreht mit ihren Kolonnen fächerförmig auf Zofingen und Zürich ein, die dritte von Schaffhausen über Winterthur. Es kommt vor allem darauf an, den mit absoluter Sicherheit zu erwartenden «Panzerschreck» des Schweizer Heeres sofort kräftig auszunützen. Nach Erreichen der Linie Biel–Bern–Luzern–Zürich steht die Masse des Panzerkorps etwa am fünften Tage für andere Verwendung bereit.

[Aus der Zusammenfassung des 1943 von SS-General Böhme ausgearbeiteten Plans für eine bewaffnete Intervention in der Schweiz. ]

Intermezzo: Zügelmann Holderegger, Dienstkollege

Juli oder August 1943; wir ziehen aus dem Bahnhofsviertel um ins Haus über der Stadt. Es ist Krieg, es ist friedlich. Ich freue mich und bin traurig. Dr. Ginella wird mich nicht mehr auf seinen Schultern reiten lassen. Das Haus am Hügel hat zwar einen Terrassengarten, doch statt des Weihers mit Fontäne nur ein Brunnenbecken aus Sandstein sowie einen Brunnenstock, dessen Wasserhahn noch nicht funktioniert. Das Haus kommt mir wie eine verrauchte Höhle vor. Noch wird umgebaut; zusätzliche Fenster sowie Fenstertüren auf die Veranda werden eingesetzt, aus einer schmalen Ostveranda im oberen Wohngeschoss wird ein Zimmer mit breiter Fensterfront, dunkelgrüne Tapeten werden heruntergerissen, die neue Holztäfelung im Wohnzimmer wird von Malermeister Laug naturbehandelt, die Türen an den Oberenden der Treppen werden entfernt, ebenso die Treppenverschalungen, aus einem finstern Flur im Obergeschoss soll ein heller Aufenthaltsraum mit Rattanstühlen und einem Tischchen werden. In dieses Durcheinander halten wir Einzug.

Der Vater hat einen Dienstkollegen mit dem Umzug beauftragt, einen Soldaten seiner Territorialkompanie. Dienstkollegen offerieren bedeutend günstigere Tarife; unter Dienstkollegen wickelt man, wie unter Männern überhaupt, alles rasch und unkompliziert ab. Zudem hat Holderegger sich schon anderswo als Zügelmann bestens bewährt; für ihn spricht die restlose Zufriedenheit seiner Kunden. Der Mann hat eine grosse geschäftliche Zukunft.

Um sieben stellt er sich ein, untermittelgross, kraushaarig. Sein Fuhrpark besteht aus Pferd und flachem Ladewagen. Holderegger hievt die ersten Möbelstücke auf die Ladefläche, mit einem Krach fallen sie in die ideale Zügelposition und werden festgezurrt. Wissen wie, sagt Holderegger, ein Schnalzen, ein Zwick am Zügel, das Pferd ruckt an, die Ladung schwankt, Holderegger pfeift ein Liedchen zum Umzug. Erst die Grabenstrasse hinauf zum Untertor – Holderegger winkt gönnerhaft den wachehaltenden Steinlöwen zu –, dann mehr oder weniger ebenaus den Ringmauergärten entlang, vorbei an Gefängnis und Museum, durchs Neuquartier bis vor den Stadtsaal; nun gehtʼs zur Volière hoch; die Anfangssteigung der staubigen Rebbergstrasse wird von Holderegger und Pferd relativ frisch und rumpelnd bewältigt. Schon haben sie die Festhütte hinter sich, es ist acht. Hundert Meter weiter wird abgeladen, nun beginnt der Stutz, der Hangweg zum Haus hinauf. Ab hier muss gebukkelt werden.

Als Holderegger mit Donnerknall, begleitet von unheimlichem Knistern, das elegante Schränkchen für die Tischwäsche auf die Dielen des Esszimmers plumpsen lässt, sagt er zu mir, der in rückhaltloser Bewunderung seiner Könnerschaft und Bärenkräfte nebenher gelaufen ist: Früe it Hose git starchi Manne, hä? Itz holemer de nööchscht Siech. Um neun sind wir wieder an der Grabenstrasse.

Der Tag wird lang, erstickt beinahe unter schwerem klebrigem Blau, die Luft simmert, die Sonne trommelt, besseres Zügelwetter kann man sich nicht wünschen. Holderegger schleppt und buckelt Stück um Stück ins Haus über der Stadt. Irgendein Grossmöbel, das nicht die Treppen hinaufgetragen werden kann, sehe ich an Seilen vor der Hausfassade trudeln, woraus ich heute schliesse, dass Holderegger seinerseits kurzfristig einen Dienstkollegen engagiert haben musste; einer melkt am Flaschenzug, der andre mostet das schwere Stück durch ein Fenster ins Innere; es kratzt, knirscht, scherbelt, aber es geht, denn es muss, doo gits käi Bire. Was meine Begeisterung zusätzlich nährt, ist die an Bemerkungen ablesbare steigende Beunruhigung der Mutter. Scho wider isch zFurnier abgschlage, uder Schpiegu rächts ader Psüüche het ou eSchprung! Der Vorgang, dem ich Schritt für Schritt beiwohnen darf, muss von hoher Bedeutsamkeit sein.

Vier Uhr, der Tag ist eine glühende Pfanne, die Sonne schlägt Nägel in die Köpfe, und am Fuss des Rebberghangs – prachtvollste Südlage – schmilzt sie tropfend vom Himmel. Holderegger keucht und ächzt bergwärts, hitzerot, schweissüberströmt, ununterbrochen lästerlich fluchend i dere himuherrgottsieche Bruethitz. Ich laufe nebenher, noch immer, ein fünfjähriger Kobold und Quälgeist. Nicht dass ich mich an Holdereggers Pein weide, nein: Fasziniert trinke ich seine Fluchlitaneien. Nichts, das zwischen seinen paar Zähnen nicht zu Fluch und Lästerung würde. Den Ledersessel könnte er auf der Stelle ficken; die drei geschnitzten Renaissancestühle, hinter deren Armlehnenknäufen Holzringe ähnlich Vorhangringen klingeln, sind Huereböck, das machtvolle Pult des Vaters es Mischpviich; die kiesbestreute Steigung zum Haus heisst e gopfverfluemereti Rutschbaan, die Züglete generell en uhuere Schiissdräck, und der stinkende Säuplunder, den er, Holderegger, weil der Dienstkollege es ungern sähe, unterwegs nicht i Abfaau rüere darf, der kann ihn am Aarsch läcke.

Und so geschieht das Unausdenkbare. Beim Abladen einer der letzten Fuhren glitscht der grosse, mit Kirschholz furnierte, doppelstöckige Geschirrschrank aus Holdereggers schweissnassen Händen und kracht ins Kies. Doch das Möbel made in Italy beweist seine Klasse. Zwar zersplittert das Bein, das den Sturz auffängt, doch bleibt der Schrank inklusive Glastüren mehr oder weniger ganz. Nun lässt die Mutter ihrem Zorn freien Lauf: Cha dä Kärli eigetlech nid Soorg ha? Am groosse Chleiderschaft isch eTüürgriff ab uds Furnier am angere unge linggs ewägg. U diStüeu, diStüeu gse uus … U ietz daas! DsKlavier isch nonidemau zzüglet. Und ich spüre, in welch übler Lage der Vater ist, weil er Dienstkollege Holderegger engagiert hat. Hier muss er beschwichtigen und dort verhindern, was nicht zu verhindern ist.

Zur Katastrophe wird der Tag durch den Unfall meines Bruders. Er hat, wohl über Mittag, Holdereggers Ross auf dem Unkrautstück vor Bauer Aeschbachs Scheune geweidet, baarfis. Unerfahren im Umgang mit Pferden, hat er es an zu kurzem Zügel geführt. So stellt es denn eins der vier schweren Hufe auf seinen linken Fuss und belässt es so lange dort, bis eine Zehe unter dem Hufeisen gebrochen ist.

Was uns Kindern eingeprägt blieb, war Holdereggers sprachliche Kompetenz, deren Metaphern unmittelbar einleuchteten und von der vornehm zurückhaltenden Redeweise der Eltern brachial abstachen. Noch Wochen nachdem ein neues Schrankbein vom Tischler angesetzt, der Riss im Sofaleder vom Kürschner genäht, das Klavier gestimmt und das abgezwängte Pedal gerichtet, das Furnier angeleimt, der Spiegel in der Psyche ersetzt, die zerbrochenen Holzringe hinter den Armlehnenknäufen der Renaissancestühle wieder ganz waren, übten wir uns in Holdereggerschen Lästertiraden, und aus dunklen Gründen – vielleicht weil Dienstkollegen trotz allem Ehrenmänner sind oder weil Zitate nicht die moralische Brisanz autonomer Aussagen besitzen – verbot es uns niemand. Ja, die Mutter unterstützte uns mit ihrer wehmütigen Erinnerung an die Lieferung des Klaviers in Mailand, wo der Zügelmann von Ricordi & Finzi pfeifend, ohne je anzuecken, das Instrument durch vier Stockwerke hochgetragen habe. Ach ja, die Italiener, galant und kein böses Wort. Weisst du noch, Vater? Es gibt Situationen, da würde man es begrüssen, das Klavier wäre seinerzeit von Laurello e Hardino zuschanden geritten worden.

→Dienstmann Küpfer →Reisigsammlerinnen

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