Kitabı oku: «Die Stimme des Atems», sayfa 3
Zofinger Tablatt, 13. September 1944
Verdunkelung aufgehoben; Grenzmarkierung am Tag. Massnahmen zum Schutz unseres Landes und Volkes
Die allgemeine Verdunkelung war am 6. November 1940 verfügt worden, als die Schweiz von ganzen Luftflotten wiederholt überquert worden war, mit Start England und Ziel Oberitalien.
Die Kriegslage hat sich (…) insbesondere seit Anfang September dieses Jahres für die Schweiz in zweifacher Hinsicht in grundlegender Weise geändert. Einmal sind die Kriegsschauplätze unserer Grenze wieder näher gerückt und dabei sind auch die Flugplätze weitgehend nach dem Kontinent verlegt worden. Damit haben die Durchflüge ganzer Bombergeschwader durch unser Land aufgehört, da von den kontinentalen Flugplätzen aus die Ziele auf direktem Wege erreicht werden können. Sodann stossen wieder beide kriegführenden Parteien auf unsere Landesgrenze. Eine nicht verdunkelte Schweiz kann daher nicht mehr als Wegweiser für die eine oder andere Kriegspartei angesehen werden, und es können sich daraus für beide Parteien weder Vor- noch Nachteile ergeben. Die vollständige Parität ist wiederhergestellt.
II. Freiheit
Flachmaler Siegrist
Im Auftrag von Herrn Laug, dessen Malergeselle er ist, laugt Herr Siegrist das dunkelbraune Haus ab, das wir bezogen haben. Er wird, sagt die Mutter, den kratzend scharfen Gestank des Salmiakgeists entschuldigend, die natürliche Holzfarbe ans Licht holen und die Balken mit einem Firnis schützen. Für mich braucht der Gestank keine Entschuldigung, denn ich liebe und bewundre Herrn Siegrist; jeden Morgen erwarte ich sehnlich sein Kommen. Er pfeift oder singt auf der Leiter, die er von der Hausterrasse über die Veranda hinweg an die Südfront gelehnt hat. In Schwaden Salmiakgestanks weit oben zwischen den Fenstern der Schlafzimmer schrubbt er mit Schwamm und Bürste.
Kaum stehe ich unten auf der Terrasse und schaue zu ihm hinauf, hält er inne, dreht sich um und ruft: Grüss dich, Ernstli, hast du gut geschlafen? – Ja, gebe ich zur Antwort, doch wissen Sie, ich bin schon lange auf. Haben Sie auch gut geschlafen, Herr Siegrist? – Wunderbar, sagt er, heute ist so recht Kinderfestwetter, da schafft einer doppelt so gern. – Aber das Kinderfest ist schon vorbei, gebe ich zur Antwort, und Mutti bittet Sie in einer halben Stunde zum Znüüni. – Oh! – Herr Siegrist schnalzt mit der Zunge –, merci, und richte deiner Mama aus, wir werden bis dahin den Giebel heruntergewaschen haben. Er wendet sich wieder der Wand, Schwamm, Bürste und Kessel zu und produziert, «Vo Lozäärn gäge Wäggis zue» oder «Im Aargöi sind zwöi Liebi» pfeifend, kratzend scharfen Gestank.
Ich stehe unschlüssig am Fuss der Leiter in der Sonne. Mir ist klar, dass ich nicht dürfte, doch ebensowenig hat es mir jemand verboten. Ich steige auf die unterste Sprosse, setze den linken, dann den rechten Fuss auf die zweitunterste; der Sprossenabstand ist riesig, doch es geht. Sobald ich mit beiden Füssen fest stehe, löse ich eine Hand, greife über den Kopf, kralle sie um die nächsthöhere Sprosse, die andre Hand folgt, dann ziehe ich die Füsse nach.
Der Gestank wird ätzend, ich möchte husten, könnte mich übergeben, doch der Stolz obsiegt, Schwindel empfinde ich keinen. Schon hänge ich auf der Höhe des ersten Obergeschosses und blicke durch ein geschlossenes Fenster in die Höhle des väterlichen Studierzimmers. Wenn die Mutter mich sehen könnte! Wenn sie mich nur nicht sieht! Ich klettere weiter.
Als ich hinter den Fenstern im zweiten Obergeschoss mein eigenes Bett unterscheiden kann, wird mir mulmig. Gut, dass die Marschschuhe des Flachmalers mich stoppen. Her Sigrischt, lueget Si! Er hört auf zu pfeifen und dreht sich um. Jesses Gott! ruft er halblaut. Chumm, mer stiiged ietz schöön süüferli abe, und hebdi fescht ade Säigel, i mues äinewääg noomische. Gemächlich, einer hinter dem andern, er seinen Kessel samt Schwamm und Bürste in der Hand, steigen wir ab. Als wir auf den Granitplatten vor der Tür zur Waschküche stehen, beugt er sich plötzlich zu mir herab und hebt mich hoch: Gäll, znööchschtemool gömmer mitenand. Er schüttelt mich leicht, halb lachend, halb eindringlich ernst, dann stellt er mich auf die Füsse.
→Fabrikgerüche →Gestank →Waschtag
Das Bärlein
Ich drücke ihn eines Abends kurz nach unsrem Einzug ins Haus über der Stadt zum ersten Mal an mich. Ich stehe im holländisch rot und grau gefliesten Korridor, das Licht brennt rötlich, vor mir dreht sich die Treppe nach links ins Obergeschoss, rechter Hand steht der in die Wand eingebaute Spielzeugschrank offen. Vor Mitleid und Freude bin ich stumm. Er ist etwa anderthalbmal so gross wie meine Handspanne und hat irgendwo, von allen vergessen, herumgelegen, schwer krank. Die vier Tatzen fransen aus und sind leck, am Kopf und an den Beinen ist der Plüsch weggescheuert, ich taste über das arme rauhe Gewebe, die Spitze der langen Nase weist nach rechts, ein Geburtsfehler, die mit schwarzem Wollfaden gestickte Schnauze ist angerissen, die Nüstern hat er verloren, die meisten der in Schwarz angedeuteten Krallen sind ihm ausgefallen. Die schwarzen Pupillen der Knopfaugen aus Glas sind rot umrändert, er muss viel geweint haben, wie gut ich das verstehe, die Ohren sind rund und klein. Ein Jammergeschöpf, es fällt mir ins Herz, wo es genau hineinpasst. Ich renne zur Mutter, ihr den Fund zu zeigen, denn ich habe von diesem Spielbären unter den Sachen meiner Geschwister nichts gewusst. In den folgenden Tagen flickt sie die gröbsten Wunden, so dass keine Spreu herausrinnt. Den Hintertatzen werden rote Ledersohlen aufgenäht, die Vordertatzen mit rotem Stopfgarn verstätet.
Das Bärlein wird das einzige Kuscheltier meiner Kindheit. Ich esse, turne, spreche, schlafe mit ihm; es geht, steht, sitzt, ist krank und gesund mit mir, es streckt mir die Ärmchen entgegen, es dreht den Kopf nach mir. An Bärlein richte ich, sobald die schlimmsten Asthmaanfälle nachgelassen haben, in Hochdeutsch die Plaidoyers für meine Unschuld. (Wüsstʼ ich noch, worin die Anschuldigung bestanden hat!) Ihm erzähle ich vom Glück, die Schule los zu sein. Bärlein hört sich alles an, nickt, gibt Antwort in einer halblauten, zu einem Zirpen gepressten Kinderstimme, altklug und ebenfalls hochdeutsch.
Als mir im Kantonsspital Olten Dr. Rodel die Mandeln schneidet (ich bin acht oder neun) und ich am nächsten Tag, unfähig zu schlucken oder den Mund zu schliessen, nach Hause gebracht werde, bereitet das Bärlein mir, im Bett wartend, eine der schmerzend-schärfsten Freuden meiner Kindheit. Die Mutter hat ihm einen roten Mantel mit verschiedenfarbigen Längsstreifen gestrickt, den vier weisse Kugelknöpfe über dem Bäuchlein schliessen. Nun kann ich es ausziehen, einkleiden, schlafenlegen. Es bleibt ununterbrochen lieb, verändert seinen sorgenvollen Knopfaugen-Blick nie, ob ichʼs verküsse oder in einem Wutanfall weinend an die Wand des Krankenzimmers schleudere. Es erträgt Launen, Verzweiflungen, Glück und Ungeduld – ein Heiliger. Ich bin längst kein Kind mehr, doch das Bärlein darf nie weiter als eine Armeslänge von mir entfernt liegen, in die Kissen oder die Daunendecke gebettet, und ich komme mir lieblos vor, wenn ich am Morgen feststelle, dass ich auf ihm geschlafen habe. Es kennt jede Einzelheit meines Lebens, es ist Zeuge alles Bösen und Guten. Ich stehe in seiner Schuld noch heute.
→Diminutivverlust →Erinnerungsschwur →Ersticken →Krankheit und Macht →Offside →Nils Holgersson →Totemtier
Der weisse Pullover
Das Kind begegnet jedem Kleidungsstück mit einem genauen unveränderlichen Gefühl: Liebe, Gleichgültigkeit, Verachtung. Es hat ein klares Bewusstsein seiner selbst, seine persönliche Ästhetik. Sinnlos, ihm weismachen zu wollen, jene vom Bruder geerbten Hosen aus braunem Wollstoff mit den engen in den Kniekehlen scheuernden Hosenbeinen seien genauso schön wie kurze dunkelblaue Manchesterhosen, vor allem aber wärmer und gesünder. Was bedeutet dem Kind Gesundheit? Es bringt sie mit aus dem Mutterleib. Was soll der Hinweis auf Blase und Nieren? Jeder Blick an seinem Körper hinunter bestätigt, dass die Hosen abscheulich aussehen.
Verlorne Liebesmüh, ihm lederne Hosenträger beliebt zu machen, weil ein eng geschnallter Gürtel auf den Magen drücke und Bauchweh verursache. Es sieht sich im Toilettenspiegel der Mutter und weiss mit sechs Jahren bereits: Ich sehe aus wie Herr Holderegger. Kaum sind die Eltern ausser Sicht, knüpft es die Hosenträger los, versteckt sie und sucht im Nachttisch des Bruders nach einem Gürtel.
Es gibt auch ästhetisch neutrale Kleidungsstücke. Ausgelatschte braune Halbschuhe: Wer im Quartier trägt schönere? Einige trampeln gar in Holzböden herum. Schuhe werden für das Kind gekauft, es hat sie abgetreten und liebgewonnen; ungern trennt es sich von ihnen. Dazu trägt es kurze Socken. Seine dunkelblaue, von der Mutter gestrickte Wollkappe empfindet es als Verschönerung seiner Person. Zwei Pompons baumeln ihm an Kordeln gleich grossen Pflaumen ums Gesicht.
Am glücklichsten ist das Kind im langärmligen, aus feiner weisser Wolle gestrickten Pullover mit Umlegekragen. Dünner als der braune oder der staubblaue Winterpulli aus Kratzwolle, steht er für Sonntag und Frühling und umschliesst eng die Handgelenke; der Kragen fasst den Hals schön rund ein, die Glasknöpfe sind Diamanten. Das Kind gefällt und liebt sich dann aus tiefstem einverstandenem Herzen. An Frühlingssonntagen trägt es zudem weisse gestrickte Strümpfe, die seine Würde nicht antasten. Es hakt sie in die Ösen am Gschtältli und prüft die Knöpfe des Hosenladens. Nun schlüpft es in die dunkelblauen Manchesterhosen und tritt sich so gegenüber, wie es sich sehen will: vom Himmel gestiegen und der Mutter und dem Vater ein Wohlgefallen. Es lacht, singt, entwischt in den Garten, kommt nach einer Weile wieder ins Haus gelaufen und erzählt. Die Eltern streicheln ihm übers Haar, nehmen es an der Hand und hören ihm geduldig zu.
→Diminutivverlust →Erwachen mit drei Jahren →Freiheit des Kindes →Der Jüngste →Schuhe kaufen →Zügelmann Holderegger, Dienstkollege
Dampfdreirad
Als Jüngster trage ich mehr aus als an, übernehme mehr, als ich gekauft bekomme; die Anspruchslosigkeit in der Garderobe ist mir geblieben. Das Velööli, ein Dreirad, nehme ich in Gebrauch, als es bereits bös vernutzt ist. Ich fahre es bis auf den Schrottplatz, übe vormittagelang auf der Veranda. Die Hartgummireifen fallen aus den Felgen. Sie werden nicht ersetzt, es gibt während des Krieges kaum derartigen Luxus, auch knirschen und kratzen die Räder fortan metallisch auf dem Beton, und das tönt mir wie die Eisenbahn. Das Dreirad wird zur Lokomotive meines Zugs. Die Glocke wird umfunktioniert: Ich schraube den metallenen Deckel los, klemme trockenen Riesenporling vom kränkelnden Edelkirschbaum ins Läutwerk und drehe den Deckel erneut fest. Mit der Lupe des Vaters entfache ich das Feuer. Schwämme glimmen mit graugelblichem Rauch und beizendem Schmorgeruch und veraschen nur langsam.
Der Zug ist unter Dampf; ich lege mich bäuchlings auf den hölzernen Sitz, ergreife die Pedale mit den Händen und verkehre knirschend und gierend zwischen dem Westbahnhof vor der Küchentür und der Station am Ostende der Südveranda. Die Glocke tönt erstickt und dumpf, etwas ist ihr in der Kehle steckengeblieben – kein Wunder, wir kommen aus einer rauchbraunen Ferne. Passagiere mit Überseekoffern steigen aus, auf den Perrons wartet ungeduldig die Menge der Urlaubs- und Geschäftsreisenden. Stolze Destinationen schwirren mir im Kopf: Ohne Halt bis St. Petersburg und Paris! An andern Tagen steigen nur Bauern, Arbeiter und Handlungsreisende zu, der Zug hält in Schafhausen und Walkringen. In Oberdiessbach wird er aufs Abstellgleis geschoben. Was würden Grosseltern, Tanten und Onkel von mir denken, wenn ich an ihnen vorüberdonnerte. Ich verbeuge mich höflich.
→Eiffelturm und Laternenfisch →Eisenbahn →Fahrt in die Nacht →Kontinente →Waldbahn
Glasmurmel Achill
Der Riese unter den Murmeln heisst Ajax, eine Glaskugel von der Grösse eines Holzapfels, in ihrem Innern schlingen sich zwei gelbgrüne Bänder von Pol zu Pol um eine rote Ader herum. Ajax ist matt, plump, ich mag ihn nicht. Neben weiteren, bedeutend kleineren Glasmurmeln – Diomedes, Menelaos, Memnon – gibt es Klicker aus glasiertem Ton, anspruchslos braun, mattblau oder versilbert, Thersites und seine Gesellen.
Mein Liebling ist Achill. Er trägt Spiegelglanz und ist grösser als der Durchschnitt der andern Glaskrieger. Wolkenähnliche, regelmässig von Pol zu Pol durcheinandergeschlungene Äderungen in Preussischblau, Mehlblau, Seiden- und Pulverblau füllen sein Inneres. Immer wieder taucht der Blick in seine Tiefe. Der Bläuling schliesst Dämmerungen in sich, der Stille Ozean öffnet seine Tiefen, Quallen filtern das Licht. Achill lehrt mich das Wunder der Farbe, ihre Unergründlichkeit, ihre Schönheit ohne Zweck und Grund. Die mystische Kugel ist vielleicht das vollkommenste Ding meiner Kindheit gewesen.
→Eiffelturm und Laternenfisch →Mutter und Mythen →Ozeanerforschung
Schüsse
Sommer im Garten, wir spielen, ich stürme mit einem langen wippenden Grasschwanz, den ich hinten in die kurzen Hosen gestopft habe, über eine Trockenmauer, wiehernd, ein Streitross. Da explodiert der Frieden; nicht weit vom Haus knattern mehrere Schüsse. Der Schreck wirft mich beinahe um: Der Krieg ist ausgebrochen! Schreiend renne ich zur Mutter und stecke den Kopf in ihren Schoss.
Es braucht etliche Erklärungen und Ääli, bis ich glaube, dass dies nicht Krieg, sondern die Schiessanlage hinter der Reithalle ist, von der ich noch nichts gewusst habe. Mit Mühe lerne ich in den folgenden Monaten, den Fluchtimpuls zu unterdrücken, wenn samstags die Schiesserei wieder losgeht. Seither lässt mich jedes Schrillen und Knallen zusammenzucken, und die Leidenschaft vieler Männer für die Kugel kann ich nicht teilen. Ich habe nie Schiesszeug für Grosse besessen.
→Alarmsirene und Schlachthaus →Tödlein
Krieg
Vater, Mutter, Besucher, Tante Rosa, Tante Sängerin, die Nachbarn, die Waschfrau, der Metzger, die Ladeninhaberin, alle reden vom Krieg. Seit ich mich erinnern kann, ist Krieg, offenbar der Normalzustand der Welt, obwohl jedermann darob unglücklich ist, denn dieser Krieg ist der scheusslichste und grausamste aller Kriege. Kein Tag ohne Hiobsbotschaften und Alarmsirenen, obwohl der Krieg einen Bogen um uns herum macht. Und zuweilen versteckte Zufriedenheit: Wer Wind sät, wird Sturm ernten.
Die Stuttgarter Innenstadt ausgebrannt, Ulm in Flammen, die Krupp-Werke eine Mondlandschaft, Köln gibt es nicht mehr, der Dom steht noch aufrecht, Feuersturm in Hamburg. Zahlen werden genannt, Hunderttausende, Millionen, vielleicht Tote oder Ermordete oder Kriegsgefangene. Wo ist das Bombardement heut früh um zwei niedergegangen? Die Basler fahren ins Berner Oberland. Wie, unser Schaffhausen ist angegriffen worden? Wir sind doch neutral! Schweres Bombardement über Mailand, die Eltern sehen einander an, offenbar bedeutet ihnen Mailand viel. Le Havre und Caen ein Trümmerhaufen. Die Deutschen sind zum Siegen zurückgekehrt. Ardennenoffensive. Doch die Amerikaner werden dafür sorgen … Zauberwort «Amerikaner». In Warschau steht kein Stein mehr auf dem andern, Würzburg, das Grab am Main, Berlin eine Geisterstadt, die Russen in Schlesien und Ostpreussen, Schweinfurt ausradiert, Frankfurt Schutt und Asche, Nürnberg eine riesige Fackel, Friedrichshafen voll getroffen, Bombenhölle Dresden, Menschenfackeln, Werwolf wütet. Später wieder: Friedrichshafen; der Name lädt sich auf mit den Vorstellungen von Finsternis und Feuerringen des Kriegs. Für immer.
Es ist Vormittag, die Mutter im Haus oder Garten beschäftigt, Geschwister und Vater in der Schule. Ich schütte den Inhalt meines Tecto-Holzbaukastens auf den Esstisch und spiele Krieg. Ich bin die Deutschen und rüste auf, niedrige Hallen, Hochkamine, Bahnhöfe. Die Stadt heisst Essen. Unter einer Glocke von süsslichem Duft, Laugengestank, Kohlenrauch, ätzenden Stickstoffdünsten dehnen sich Fabriken, Häuser, Kamine bis zum Horizont. Gegen die Tischmitte sind die chemischen Werke angesiedelt, gleich daneben werden in riesigen finstern Hallen Bomben produziert, weiter Panzer, Flugzeuge, Kanonen. Die Deutschen sind bereit loszuschlagen.
Ich atme tief durch. Unter diesigem Spätherbsthimmel stehen kahl die Wälder herein. Und jetzt bin ich die Amerikaner und komme den Deutschen zuvor. Ich höre meine Bomber im Anflug; das Geräusch geht mir durch die Kehle, nicht anders als in der Nacht, wenn die Geschwader von Süden her die verdunkelte Stadt überfliegen, ein tiefes Dröhnen und Schüttern, dass die Scheiben am Geschirrschrank klirren. Zielgebiet erreicht. Bomben ausklinken! Von allen Seiten schlagen Volltreffer in die Stadt Essen, das Haus zittert schwach. Nach jedem Abwurf begutachte ich die Zerstörung. Noch steht die Giftgasküche. Auch in der Panzerfabrik wird weitergearbeitet. Mir sind die Bomben ausgegangen. Ich suche nach Blindgängern unter den Trümmern und bestücke die Fliegenden Festungen neu. Wjuuuwumm! Quamm! Buurrumm! Alles kaputt. Ein wirres, von Bombenkratern aufgepflügtes Ruinenfeld. Ich höre die Bomber nicht mehr. Die Luft ist seltsam rein, still, hell, als ob die Sonne durchbrechen müsste.
Wann immer ich heute ein chemisches Werk sehe – Stahlkamine, Gasbehälter, Druckzylinder, Nitrieranlagen, Rohrorgeln, Tanklager und puffende Ventile –, bombardiere ich es in meiner Vorstellung, bis die Flammen tausend Meter in die Nacht emporlodern.
→Alarmsirene und Schlachthaus →Ameisen – Todesspiel →Ersticken →Hochkamine und Sirenen
Zofinger Tagblatt, 6. März 1943
Luftangriffe auf Essen
Die deutschen Rüstungszentren im Ruhrgebiet wurden in der Nacht zum Samstag bombardiert. Hauptziel war Essen. Aus London wird darüber bekannt: Die britischen Flugzeuge führten unter ihrer schweren Last von Hochexplosiv- und Brandbomben 150 2000-Kilo-Bomben mit sich. Der Angriff dauerte 40 Minuten. Nach 20 Minuten erfolgte eine ausserordentlich heftige Explosion, die riesige Flammen in die Luft warf und die Strassen der Stadt hell erleuchtete. Ein zweites Flammenmeer breitete sich im Zentrum der Stadt aus. Grössere und kleinere Brände wurden in allen Teilen von Essen und seiner näheren Umgebung beobachtet. (…) An diesem Angriff waren u. a. auch polnische Staffeln beteiligt.
Schlagen
Sind die Männer im Aktivdienst, ist die Geburtenrate hoch. Durch alle Strassen der Stadt schieben Mütter ihre Kinderwagen, lassen diese vor den Läden stehen, und bald beginnen die Babies zu schreien. Mir zerrt das Gewimmer an den Nerven. Nicht dass ich die Kleinen beruhigen möchte, o nein: Plötzlich zerreisst etwas in mir, ich kann das Geschrei keine Sekunde länger aushalten, und wie ein Schauder überläuft mich die Lust, auf die Säuglinge einzuschlagen, bis sie still sind. Dann erwache ich, und ein Grauen, die Angst vor dem Mörder in mir, packt mich.
Jahre später stosse ich auf den Leibspruch des Schlächters von Mauthausen: «Der ist kein Mann,/der nicht schlagen kann./Drum folg dem Gebot (?):/Schlag tot, schlag tot!» In uns wartet ein Ungeheuer auf seine Stunde. Sie schlägt, wenn körperliches Leiden andrer uns ausgeliefert ist.
→Aas →Ameisen – Todesspiel →Erste Heimlichkeit
Zofinger Tagblatt, 26. Januar 1946
[Zeugenaussage am Nürnberger Prozess]
Das Schreckenslager von Mauthausen
Der Zeuge Maurice Lampe, der gegenwärtige Generalsekretär der Föderation politischer Gefangener, schilderte (…), wie 47 amerikanische und englische Offiziere im August 1944 ermordet wurden: Die gefangenen Offiziere wurden gezwungen, in einem Steinbruch mit schweren Steinblöcken auf den Schultern eine grob aus dem Fels gehauene Treppe von 180 hohen, unebenen Stufen emporzusteigen. Man befahl ihnen, den Todesmarsch barfuss anzutreten und zu «laufen», nicht zu «gehen». Oben angelangt, mussten sie ihre Last abwerfen, um so rasch wie möglich die Stufen wieder hinabzurennen. Am oberen Ende der Treppe standen Gestapobeamte und wälzten die schweren Steine auf die treppabwärts laufenden Gefangenen. Die Überlebenden wurden unten aufs neue beladen, und zwar mit noch schwereren Steinen, worauf sich das «Spiel» wiederholte, bis es keine Überlebenden mehr gab. Wer mit zerquetschten Armen oder Beinen zusammenbrach, blieb liegen, und die Steinblöcke rollten weiter auf ihn herab, bis auch der letzte kein Lebenszeichen mehr von sich gab.