Kitabı oku: «Im Takt des Geldes», sayfa 2
Rhythmus (gr.-lat.)
Eine solche Feststellung, die ich bitte belegen möge, hat sehr weit reichende Folgen – und recht verwirrende außerdem.
Denn sie bedeutet: So wie wir Rhythmus empfinden, haben ihn Menschen nicht schon immer, ursprünglich und allerorten empfunden. Und sie bedeutet: Ein Geräusch, das uns rhythmisch ist, und wäre es ein ursprünglichstes wie dasjenige gehender Füße oder klopfender Herzen, ist nicht einfach von sich aus und schon immer ein rhythmisches, sondern wird es erst und nur dann, wenn es Menschen wahrnehmen, die nach dieser Art von Rhythmus wahrnehmen, Menschen, deren Rhythmuswahrnehmung wie die unsere taktrhythmisch bestimmt ist. Und das beginnt sie erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts zu sein.
Das ist eine Vorstellung, gegen die sich alles in uns sträubt. Schon dass ein bestimmter Rhythmus nicht einfach nur objektiv im Klang selbst liegen soll, dass also Klänge nicht schon von sich aus rhythmisch sein, sondern es durch uns werden sollen, widerstrebt uns zutiefst. Und umso mehr also, dass dieselben Klänge, die wir als rhythmisch hören, den Menschen früherer Zeiten nicht rhythmisch geklungen hätten. Das ist etwas, was wir uns ganz grundsätzlich nicht vorstellen können, und kein Zufall deshalb, wenn auch Canetti nicht umhin konnte, Rhythmus irrtümlich erstens dem Klang selbst und zweitens in eben der Art, wie wir ihn wahrnehmen, allen Zeiten zuzuschreiben. Dies ist ein Irrtum, der jedem unterläuft, überall wird man auf ihn treffen, nicht nur in der eigenen Überzeugung, in dem, wie man selbst darüber denkt, sondern bei jedem anderen ebenso – selbst dort, wo ausgesprochene Spezialisten über Rhythmus geschrieben haben. Dass Taktrhythmus, »unser« Rhythmus, erst etwa zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufkommt, gehört zwar inzwischen – aber auch das noch nicht sehr lange – zum musikgeschichtlichen Handbuchwissen,4 trotzdem ist es, auch unter wohlstudierten Musikwissenschaftlern, so gut wie unbekannt. Bemerkenswert genug: Es ist festgestellt, steht fest, und bleibt doch unvorstellbar.
Es wird wichtig sein, sich schon hier, vor allem Kommenden, Rechenschaft über die Irritation abzulegen, die ein solcher Gedanke auslöst: dass dieses Allernatürlichste, Rhythmus, weder in den Dingen selbst, also einfach im Klang liegen soll, noch in unserer allgemeinen menschlichen Natur – wenn nicht gar in der Natur als solcher. Wie denn soll sich unsere Wahrnehmung, dass irgendetwas, zum Beispiel etwas so Eingängiges wie das tok tok von Schritten für uns einfach und natürlich rhythmisch ist, wie soll sich diese Wahrnehmung damit vertragen, dass für Menschen früherer Zeiten dasselbe nicht, sondern dass für sie etwas grundsätzlich anderes rhythmisch war?
Das muss absurd erscheinen, ausgeschlossen, eine Unmöglichkeit, es ist uns in einem sehr ernst zu nehmenden Sinne nicht denkbar. Dennoch ist die Erkenntnis, dass es sich so verhält, zwingend und fürs erste nicht einmal schwierig zu gewinnen. Man braucht dafür gar nicht erst zurückschreiten bis zu den Jägern und Sammlern; der kleinere Zeitsprung in die Antike wird vollauf genügen.
»Ursprünglich«, so meinte Canetti, sei Rhythmus ein Rhythmus der Füße; ursprünglich jedenfalls ist »Rhythmus« ein Wort der Griechen. Über eine indogermanische Wurzel mit dem deutschen Wort »Strom« verwandt, leitet es sich – vermutlich – von dem griechischen Verbum »rhéein« ab, »fließen«; man kennt es aus Heraklits berühmtestem Satz. Rhythmus heißt daher zunächst jede Bewegung, dann vor allem das Zeitmaß und Ebenmaß einer Bewegung; weiter aber nicht nur das Ebenmaß einer Bewegung, sondern Ebenmaß allgemein, auch räumlicher Verhältnisse, der Gestalt eines Gefäßes oder gar der seelischen Verfassung. Sicher, in ehrwürdigen alten bis hin zu allerneuesten Wörterbüchern, ebenso in jederart Übersetzungen antiker griechischer Schriften findet man für das Wort »Rhythmos« geläufig auch die Bedeutung »Takt« angegeben; doch schon diese Übersetzung gründet auf demselben Irrtum, Rhythmus müsste auf immer das gewesen sein, was er für uns ist. Will man das Wort in seiner antiken Bedeutung fassen und so, dass es nicht sogleich falsch mit unserem modernen Begriff von Rhythmus in eins gesetzt wird, so wäre es am genauesten zu übersetzen mit »Proportion«.5 Das also heißt »Rhythmus« ursprünglich; und es verweist darauf, was Rhythmus in der Antike war, was dort überhaupt als rhythmisch empfunden wurde.
Aristoxenos definiert es – im vierten vorchristlichen Jahrhundert – als »Ordnung von Zeiten« und erklärt diese Ordnung als das Verhältnis zeitlicher Größen. Und zwar so, dass es eine bestimmte kürzeste Einheit gibt, den sogenannten chronos protos, und dass Töne – oder jeweils auch die Bewegungen beim Tanz – mindestens so lange dauern wie diese »ersten Zeiten«, auch Kürzen genannt, oder aber ein Vielfaches davon. Unter Beachtung der Proportion ihrer unterschiedlichen Dauer werden die Töne dann zu größeren Folgen zusammengesetzt. Diese Folgen können ganze Verse umfassen oder aber noch einmal zusammengesetzt sein aus den sogenannten »Füßen«, von denen erst wiederum mehrere die größere Folge etwa eines Verses ergeben. Jeder Fuß umfasst jeweils zwei proportional aufeinander bezogene Teile, zu denen die Töne – bei Versen sind es die Silben – zusammenzutreten haben. Diese zwei Teile werden entweder Arsis und Basis oder geläufiger Arsis und Thesis genannt, Hebung und Senkung.
Und schon scheint sich Canetti bestätigt zu finden: Rhythmus ursprünglich ein Rhythmus der »Füße«, und diese zweiwertig geschieden nach Hebung und Senkung, stärker und schwächer. Nur dass die antiken Begriffe von Hebung und Senkung genau das nicht meinen. Sie sprechen von der puren Bewegung des Hebens und Senkens, einer Bewegung, die begleitend zu dem, was an Tönen erklang, etwa mit den Händen oder durchaus auch mit den Füßen vollzogen wurde und die allein zur Skansion, zur Bestimmung der Dauer jener Zeiteinheiten diente. Ein Geräusch, das sich bei diesem Skandieren zwar durch das Aufsetzen des Fußes oder Zusammenklatschen der Hände ergeben konnte, begleitete dabei weder die Hebung noch die Senkung von Arm oder Bein. Denn Hebung, das war nichts als die Zeit, in der sich Fuß oder Hand nach oben bewegten, und Senkung entsprechend die Zeit ihrer Bewegung nach unten. Während der Dauer dieses Hebens und Senkens also ergab sich kein Geräusch, sondern wenn sich eines ergab, so allein nach der Senkung: wenn der skandierende Fuß aufsetzte. So haben Hebung und Senkung in der Antike auch nicht den mindesten Zusammenhang mit einer möglicherweise wechselnden Lautstärke dieses Geräuschs, ihnen, den »ursprünglichen« Begriffen, ist eine Unterscheidung nach stärker und schwächer vollständig fremd, und wenn sie sich auf die Bewegung von Füßen bezogen, so allein auf deren Bewegung als die erfüllte Dauer und nicht auf das Geräusch, das allenfalls den Abschluss dieser Bewegung bezeichnen konnte.
Genausowenig haben die »Füße« des antiken Rhythmus etwas mit Canettis im Taktrhythmus dahingehenden Füßen zu tun – so wenig wie zum Beispiel der Versfuß des Daktylus mit dem Schnipsen von Fingern. »Daktylus« heißt zwar »Finger« und ist ein »Fuß«, aber er bezeichnet den Fuß aus einer Länge und zwei Kürzen nicht wegen irgendwelcher Geräusche, die sich mit den Fingern oder Füßen erzeugen lassen, sondern weil die drei Glieder eines Fingers, vom Handteller aus gesehen, gerade diese Proportion aufweisen: lang-kurz-kurz; man betrachte einmal den eigenen Zeigefinger, sofern er klassisch genug gewachsen ist. Griechisch ist also durchaus zu sagen, diese Abfolge der Fingerglieder sei der »Rhythmus« eines Fingers.
In der Aufteilung nach Arsis und Thesis waren verschiedene Proportionen möglich. Zunächst einmal das gleiche Verhältnis; das konnte der Daktylus ergeben, da er zusammengesetzt war aus einem langen Element, der Arsis, und zwei kurzen, der Thesis, und da eine Länge etwa als doppelt so lang empfunden wurde wie eine Kürze, ihr Zeitwert also dem von zwei Kürzen entsprach. Das Verhältnis also ist hier »gleich«, ein Verhältnis von 2:2; nicht gleich allerdings waren die Teile, die in diesem gleichen Verhältnis aufgefasst wurden: eine Länge als Hebung, zwei Kürzen als Senkung. Zweifaches Verhältnis ergibt sich, wenn sich die Zeitwerte der unter Arsis und Thesis verbundenen Klangteile wie 2:1 oder wie 1:2 verhalten, anderthalbfaches Verhältnis bei 3:2 oder 2:3; Verhältnisse wie 3:1 oder 4:3 sind unter bestimmten Bedingungen möglich. Außerdem gibt es »alogoi« genannte, nicht ganzzahlig zu fassende Verhältnisse, in denen die Arsis zwar länger als die Thesis, aber nicht ganz doppelt so lang ist wie sie. Gerade von einem der häufigsten Verse der Antike, dem epischen Hexameter, heißt es, in seinen Daktylen sei die Länge jeweils nur etwa anderthalbmal so lang wie eine Kürze, so dass der Versfuß hier also statt des »gleichen« Verhältnisses ein Verhältnis von ungefähr 1½:2 ergibt. Ein Fuß im antiken Rhythmus ist die Einheit einer solchen rein zeitlich bestimmten Proportion.
Der antike Rhythmus ist mit diesem kurzen Abriss keineswegs erschöpfend bestimmt, aber bestimmt genug, um die Frage zu beantworten: Was hat diese Art Rhythmus mit dem Taktrhythmus gemein? Die Antwort lautet: Nichts. Und was haben Griechen empfunden, wenn sie vor sich hingegangen sind und das Geräusch ihrer Sandalen hörten? Keinen Rhythmus. Der Unterschied zwischen dem, was Rhythmus für uns, und dem, was er für die Antike ist, lässt sich knapp – noch nicht vollständig – in drei Punkten fassen.
Erstens: Das Abwechseln der Elemente nach betont und unbetont, entscheidende Bestimmung des Taktrhythmus, ist dem griechischen Rhythmus fremd; der hat weder überhaupt etwas mit der Unterscheidung von betont gegen unbetont zu tun, noch würde er sich mit der grundsätzlichen Festlegung auf das Abwechseln vertragen – auch nicht auf das Abwechseln von lang und kurz.
Zweitens: Der Taktrhythmus setzt gleiche Zeiteinheiten, auf die sich zwar Töne von mancherlei unterschiedlicher Dauer verteilen können, die diesen Tönen aber wie ein Raster vorgegeben sind oder unterlegt werden; damit sie nach Takten gehen, müssen sich die Töne in ein Raster gleicher Zeiteinheiten einfügen. Der griechische Rhythmus dagegen geht mit Klang- oder Bewegungselementen ungleicher Dauer um, ihrer Unterscheidung nach lang und kurz. Zwar können in ihm ohne weiteres einmal mehrere lange Elemente aufeinanderfolgen oder mehrere kurze, aber erst ihre Unterscheidung nach der Dauer, und dass sie nicht wie ein Raster aneinandergereiht, sondern zu Gruppen aus lang und kurz verbunden sind, ergibt hier überhaupt erst Rhythmus. Eine Folge nur gleichlanger Töne hatte nichts Rhythmisches.
Drittens: Im Taktrhythmus müssen die Töne, die erklingen, nicht jeweils die gesamte Zeiteinheit ausfüllen, die man als Taktteil empfindet. Beim Geräusch des Gehens genügt es, dass der Absatz nur einen kurzen Schlag tut und dass die Zeit, bis der andere Fuß auftritt, jeweils geräuschlos verstreicht. Was im Taktrhythmus als Element empfunden wird, ist diese gleichsam leere Zeiteinheit: Die Pause zwischen dem einen tok und dem nächsten hören wir als Bestandteil des rhythmischen Elements so gut, als würde über die gesamte Zeiteinheit hinweg ein Ton erklingen. Für die Griechen der Antike gab es das nicht. Rhythmus ist dort nur, was wirklich erklingt, der erfüllte Klang, er ist die Bestimmung eines Klangkontinuums oder einer kontinuierlichen Bewegung; daher auch das vom Fließen abgeleitete Wort. Eine Pause ließ ihn abbrechen, eine Folge von bloßem Klopfen, womit wir es uns so schön rhythmisch machen können, hatte für ein griechisches Ohr nichts von Rhythmus. Nur der erfüllte Klang oder die verlaufende Bewegung wurde zu rhythmischen Gestalten aufgebaut.
Wie also hätten die Griechen gehen müssen, um Canettis Ursprungsmythos zu erfüllen und mit den Füßen ein Geräusch zu machen, das ihnen unwillkürlich rhythmisch gewesen wäre? Sie hätten darauf achten müssen, die Füße nicht wohlgesittet jeweils vom Boden zu heben, sondern konsequent mit ihnen über den Boden zu schlurfen, damit jeder Schritt einen anhaltenden Schleifton ergäbe und nicht bloß ein tok; außerdem darauf, ihre Schritte, gleichgültig ob stärker oder schwächer, unterschiedlich lang zu machen, und zwar nicht einfach abwechselnd einen langen Schleifschritt mit links und einen kurzen Schleifschritt mit rechts, sondern lang und kurz nach durchaus komplizierteren Mustern, zum Beispiel dem eines Galliambus: kurz kurz lang kurz lang kurz lang lang kurz kurz lang kurz kurz kurz kurz kurz. Ein solcher Gang würde im Ministerium für silly walks sicher freundliche Anerkennung finden; doch dass die Griechen in dieser Weise vor sich hin gegangen wären, sollte man deshalb nicht ernsthaft annehmen.
Eine Schranke
Trotzdem haben sie natürlich Rhythmus empfunden und, wie überliefert ist, durchaus auch sehr heftig – nur eben eine grundsätzlich andere Art von Rhythmus als wir. Daraus ist zweierlei zu schließen: nicht nur, dass sie nicht dasselbe als rhythmisch empfunden haben, was uns rhythmisch ist, sondern umgekehrt auch, dass wir nicht mehr als rhythmisch empfinden, was ihnen rhythmisch war. Und das lässt sich ja unschwer überprüfen. Auch wenn wir den antiken Hörern nichts mehr von unserer Musik vorspielen können, um sie nach ihrer Rhythmusempfindung zu fragen, so können wir doch umgekehrt uns selbst etwas vom antiken Rhythmus zu Gehör bringen.
Wie er geklungen hat, das vorzuführen, mögen ein paar Verse dienen. Die folgenden zählen zu einer der geläufigsten Versart bei den Griechen, dem iambischen Trimeter, und nur der einfacheren Lesbarkeit halber zitiere ich nicht griechische, sondern solche auf Latein. Versbau und Rhythmus waren für die römische Antike – jedenfalls zu der Zeit, aus der diese Verse stammen – grundsätzlich die gleichen wie für die griechische, und was also an den folgenden Versen, aus der siebzehnten Epode des Horaz, rhythmisch war, war es für Römer ebenso wie für die Griechen. Die Frage ist nur, ob es für uns noch immer rhythmisch ist.
Unxere matres Iliae addictum feris
Alitibus atque canibus homicidam Hectorem,
Postquam relictis moenibus rex procidit
Heu pervicacis ad pedes Achillei.6
Vier makellose iambische Trimeter, gedichtet nicht nach Akzenten, wie wir es von unseren Versen gewohnt sind, sondern allein nach der Abfolge von lang und kurz. Um sie richtig zu lesen, muss man also wissen, welche Silbe lang und welche kurz ist, und dafür setze ich sie noch einmal her, durch Punkte in Silben getrennt und alle lang zu sprechenden Silben unterstrichen; jede nicht unterstrichene Silbe ist kurz, etwa halb so lang zu sprechen wie die langen. Verschliffene Silben deute ich etwas grob nur durch einen Apostroph an.
Un.xe.re ma.tres I.li.a’d.dic.tum fe.ris
A.li.ti.bus at.que ca.ni.bus ho.mi.ci.d’Hec.to.rem,
Post.quam re.lic.tis moe.ni.bus rex pro.ci.dit
Heu per.vi.ca.cis ad pe.des A.chil.le.i.
Es ergibt sich diese Abfolge langer und kurzer Elemente:
In dieser Abfolge war es für griechische und römische Ohren rhythmisch. Und für die unseren? Uns, so würde ich behaupten, ist es schon unfasslich, wie diese vier Reihen aus Längen und Kürzen auch nur viermal der gleiche Vers sein sollen, viermal ein iambischer Trimeter, hörbar viermal die gleiche rhythmische Einheit. Aber vielleicht helfen ja ein paar Erklärungen, und es wird uns schließlich doch noch fasslich – und am Ende gar rhythmisch.
Die Verse heißen Trimeter, weil sie nach drei wiederkehrenden Füßen gehört wurden. Diese Füße haben jedoch, wie es dem antiken Rhythmus entspricht, nicht einfach eine bestimmt festgelegte Abfolge von lang und kurz, sondern unterschiedliche solcher Abfolgen wurden jeweils als der gleiche eine Fuß aufgefasst. Innerhalb der zitierten Verse sind es fünf verschiedene; ich notiere sie in der Reihenfolge ihres Vorkommens und unterteile sie bereits nach Arsis und Thesis: | — — : ∪ — |, | — ∪ ∪ : ∪ — |, | ∪ ∪ ∪ : ∪ ∪ ∪ |, | ∪ — : ∪ — |; am Versschluß ergibt sich, durch die dort grundsätzlich freie Quantität des letzten Elements, zweimal auch | — — : ∪ ∪ |. Das also sind fünf der möglichen Folgen von lang und kurz, die im Trimeter einen Iambus ausmachen, sind also buchstäblich fünf Iamben – man mag daran nebenbei erkennen, wie wenig die Einheit »Fuß« in der Antike etwas mit dem zu tun hat, was wir heute an neuzeitlichen Gedichten noch immer Versfuß nennen. Das einzige Element, das in einem solchen antiken Iambus festliegt, ist die Kürze zu Beginn der Thesis. Die Proportion, die sich zwischen Arsis und Thesis ergibt, ist entweder 4:3 oder 3:3; am Versende kann die Thesis auch auf 2 tempora verkürzt werden.7 Und nun spreche man sich diese Versfüße einmal vor: lang-lang kurz-lang, lang-kurz-kurz kurz-lang, kurz-kurz-kurz kurz-kurz-kurz, kurz-lang kurz-lang, lang-lang kurz-kurz. Und frage sich, ob man sie alle fünf als die gleiche Einheit wahrnimmt, als Proportion, und vor allem: ob man sie als rhythmisch empfindet.
Aber vielleicht kann ja das Experiment nur an den vollständigen Versen gelingen. Also stehen sie hier noch einmal, in einem Fluss, nicht in Versfüße zerschnitten, und damit auch die Sprache nichts an der rhythmischen Auffassung behindern kann, lediglich auf die Silben »lang« und »kurz« gebracht, rein als diejenige zeitliche Folge, die doch nach antiker Wahrnehmung die rhythmische war:
lang lang kurz lang lang lang kurz lang lang lang kurz lang
lang kurz kurz kurz lang kurz kurz kurz kurz kurz kurz lang lang kurz kurz
lang lang kurz lang lang lang kurz lang lang lang kurz kurz
lang lang kurz lang kurz lang kurz lang kurz lang kurz lang
Hören wir darin Rhythmus? Nein. Gelingt es uns auch nur irgendwie, daran die Empfindung von Rhythmus zu gewinnen? Sicher nicht. Oder muss man doch noch die Sprachakzente der Originalverse hinzuhören, damit es uns ins Ohr geht? Ein letzter Versuch:
Un.xé.re má.tres I.li.a’d.díc.tum fé.ris
A.lí.ti.bus át.que cá.ni.bus ho.mi.cí.d’Héc.to.rem,
Póst.quam re.líc.tis móe.ni.bus rex pró.ci.dit
Héu per.vi.cá.cis ad pé.des A.chíl.le.i.
lang láng kurz láng lang láng kurz lang láng lang kúrz lang
lang kúrz kurz kurz láng kurz kúrz kurz kurz kurz kurz láng láng kurz kurz
láng lang kurz láng lang láng kurz lang lang láng kurz kurz
láng lang kurz láng kurz lang kúrz lang kurz láng kurz lang
Nein, es wird nur heillos – aber nicht rhythmisch.
Nichts will helfen: Wir mögen uns mit den antiken Versen noch so viele Mühe geben, wir mögen mit dem besten Willen anerkennen, dass sie Rhythmus gewesen sind, wir mögen unser Gehör darin schulen, jene Zeitproportionen überhaupt einmal genau wahrzunehmen, schließlich mögen wir uns gar irgendwie hineinhören und ihren Klang goutieren; jene spezifische Rhythmusempfindung aber, die wir doch sonst so natürlich und selbstverständlich in uns verspüren, wenn wir Takte hören, stellt sich nicht ein. Und das liegt nicht daran, dass wir zu wenig vom antiken Rhythmus wüssten oder dass uns bloß die Übung abginge; es liegt auch nicht an der Sprache, am Lateinischen oder Griechischen – denn in der Fassung mit dem einfachen »lang« und »kurz« verwehrt sich uns der Rhythmus genauso wie im lateinischen Wortlaut. Was für die Menschen der Antike rhythmisch war, können wir der Überlieferung entsprechend rekonstruieren, können wir im Klang der überlieferten Verse konstatieren, aber wir können es selbst nicht mehr als rhythmisch empfinden: weil uns diese Rhythmuswahrnehmung fehlt – weil uns eine andere Rhythmuswahrnehmung bestimmt.
Dionysisches und Weltgeist
Was »ursprünglich« einmal Rhythmus war, ist es also für uns nicht mehr. Und umgekehrt: Was für uns Rhythmus ist, war es nicht schon immer. Das ist eine so einfache Erkenntnis, dass mit den antiken Versen fast schon zu viel Aufwand für sie getrieben scheint. Denn selbst die kursorische Erinnerung etwa an traditionelle fernöstliche Musik würde für den Nachweis genügen, dass Rhythmus nicht immer, überall und für alle Menschen Taktrhythmus war. Aber je einfacher und trivialer die Erkenntnis, umso bemerkenswerter, dass sie Canetti entgangen ist – und nicht nur ihm.
Jeder, wie gesagt, setzt ja unwillkürlich voraus – »ob er es beabsichtigt oder nicht« –, dass, was ihm rhythmisch ist, schon als solches Rhythmus wäre – zeitlos, natürlich, ewig. Der Grund, weshalb wir dies glauben, ist zunächst bis zur Tautologie trivial: Jeder kann nur das als rhythmisch empfinden, was er als rhythmisch empfindet, was also seiner Rhythmuswahrnehmung entspricht. Selbst wenn er weiß, dass Rhythmus auch etwas grundsätzlich Anderes sein kann als für ihn, entzieht es sich noch immer seiner Vorstellung, nämlich seinen Möglichkeiten der Rhythmuswahrnehmung. Irgendeine andere Art von Rhythmus als die »unsere« zu empfinden gelingt uns so wenig, wie wir es eben an den antiken Versen bemerken mussten; insofern aber gibt es für uns auch keine andere. Unsere Rhythmuswahrnehmung schließt die Wahrnehmung einer anderen Art von Rhythmus aus; und nicht nur die Wahrnehmung, sondern unwillkürlich und mit großem Nachdruck auch den Gedanken.
Der Gedanke, dass Menschen etwas grundsätzlich Anderes als Rhythmus könnten empfunden haben, als wir es tun, verwehrt sich uns, so einfach die Feststellung auch zu treffen wäre. Die Frage, ob wir unsere Rhythmuswahrnehmung zu Recht allen Zeiten vor uns unterstellen, stellen wir uns gar nicht erst, so selbstverständlich und unwillkürlich unterstellen wir unseren Rhythmus als den einzig möglichen. Und das heißt: So weit reicht der Zwang, den die Rhythmusempfindung über uns ausübt. Dieser Zwang hat Macht auch über die Reflexion.
Nietzsche zum Beispiel erkennt ihn – und zeigt sich ihm sogleich unterworfen:
Der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, – wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! 8
Und schon hat Nietzsche zwingend auch geschlossen, Rhythmus ginge immer »dem Tacte nach«. Anders als Canetti will er nicht den Ursprung von Rhythmus, sondern umgekehrt Rhythmus zu einem Ursprung erklären, und zwar zum »Ursprunge der Poesie«: Alle Poesie und alle Verse entsprängen dem Rhythmus und seinem Zwang. Da es aber nur den einen, nur Rhythmus »dem Tacte nach« geben soll, müssten nach Nietzsches blinder Überzeugung auch die Verse und die Musik der Antike, von der er hier spricht, nach »dem Tacte« gegangen sein – was sie nicht taten.
Und so schreibt immerhin Nietzsche, Professor der klassischen Philologie und zudem einer der wenigen seiner Zeit, die irgendwann einmal doch etwas von der tiefen Kluft zwischen antikem Rhythmus und moderner Taktrhythmik erkennen.9 Dem Zwang, den Nietzsche beschreibt, vermag er sich zuweilen als Philologe, nicht jedoch in seiner philosophischen Erkenntnis zu entziehen. Seine Annahme mag ja durchaus zutreffen, Versdichtung habe ihren Ursprung in »jener elementaren Ueberwältigung […], welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt« und die es sicher nicht erst seit Neuzeit und Taktrhythmus gibt. Aber fehl geht er in dem unbedachten Glauben, die Überwältigung müsse immer an dieser Art Rhythmus erfahren worden sein, es müsse »der« Rhythmus, es müsse immer dieselbe Art von Rhythmus gewesen sein, so elementar wie jene Überwältigung selbst. »Narren des Rhythmus« seien wir »noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit«, gar nichts habe sich da geändert seit den Zeiten des Ursprungs. Diesen Ursprung aber finden wir nicht etwa geschichtlich vor, wir glauben ihn allein an unserer, an der uns gegenwärtigen Überwältigung zu empfinden; an ihr empfinden wir dies zwingend Unwillkürliche, das wir ebenso zwingend deshalb als ursprünglich mißverstehen und als »Ursprung« in die Zeiten zurückverlegen.
Längst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu die Affekte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern – und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren gegangen war, musste man tanzen, in dem Tacte des Sängers, – das war das Rezept dieser Heilkunst
– aber kein Rezept hilft gegen die blinde Annahme, »das Rhythmische« ginge stets »in dem Tacte«, wäre immer schon »das rhythmische Tiktak« gewesen, wie Nietzsche dann noch ausdrücklich schreibt: also Taktrhythmus. Dass in der Antike nichts nach Takten, nichts nach dem Tiktak von betont und unbetont ging, als Philologe weiß es Nietzsche; dem Philosophen jedoch will das gar nichts helfen.
Nein, alles geschichtliche Wissen verliert seine Kraft, wenn man aus diesem Zwang der Gegenwart konstruiert. Hegel bestimmt in seinen »Vorlesungen über die Ästhetik«, wie es sich mit dem Rhythmus grundsätzlich verhalten müsse.
Dritter Teil, Dritter Abschnitt, Zweites Kapitel: Die Musik
2. Besondere Bestimmtheit der musikalischen Ausdrucksmittel
a. Zeitmaß, Takt, Rhythmus
Was nun zunächst die rein zeitliche Seite des musikalischen Hörens betrifft, so haben wir erstens von der Notwendigkeit zu sprechen, dass in der Musik die Zeit überhaupt das Herrschende sei; zweitens vom Takt als dem bloß verständig geregelten Zeitmaß; drittens vom Rhythmus, welcher diese abstrakte Regel zu beleben anfängt, indem er bestimmte Taktteile hervorhebt, andere dagegen zurücktreten lässt.10
Zeit, Takt, Rhythmus, das geht in einem dahin, als könne es gar nicht anders sein, als ergäben sich Takt und Rhythmus allein schon daraus, dass Musik in der Zeit verläuft. Takte, das sind hier fürs erste die gleichen und leeren Zeiteinheiten, Rhythmus heißt dann deren Ordnung nach betont/unbetont, nach hervorgehoben gegen nicht-hervorgehoben, und das macht insgesamt: den Taktrhythmus. Er, der so strikt der Neuzeit angehört und keiner Zeit vorher, wird von Hegel mit derselben Notwendigkeit als der ewig-eine Rhythmus vorausgesetzt, mit der sich etwa der Weltgeist ausgerechnet im preußischen Staat verwirklicht haben soll.
Selbst der große Philosoph der Geschichte und des absoluten Wissens will in diesem Punkt also von Geschichte absolut nichts wissen, so wenig wie der philosophierende DJ heutiger Tage, der von den Bum-Bum-Taktschlägen des Techno – »Techno wird über das Bum-Bum zusammengehalten« – gleich einmal weiß, dass »die Neandertaler« es schon vor Urzeiten »auf hohle Bäume geklopft« hätten und der ganze Unterschied zu heute darin bestünde: »Technomusik macht das elektronisch.«11
Und wem wollte das nicht einleuchten? Wer kann es sich heute denn anders vorstellen, als dass Trommeln, die geschlagen werden, notwendig im Takt schlügen? Als dass ein urwüchsiger Mensch, indem er irgendwelches Bum Bum macht, damit unweigerlich den Taktschlag eingehalten hätte? Als dass die Weltmusik, wie sie heute heißt und heute fast ausschließlich nach Takten erklingt, deshalb schon zu ethnotümlichen Urzeiten nach Takten hätte gehen müssen? Der zwingende Irrtum einer Gleichung Rhythmus = Taktrhythmus findet sich ganz allgemein – bis hinauf oder bis hinab zu den Philosophen, die da, ganz Empfindung, nur glauben in sich hineinhorchen zu müssen, um das, worauf sie dort so unhintergehbar treffen, sogleich für das Ewig-Natürliche zu halten.