Kitabı oku: «Im Takt des Geldes», sayfa 3
Und natürlich Natur
Nun sprechen hier auch Philosophen allerdings als Laien; wissen es die Fachleute besser?
Nein, die unternehmen es gar zu beweisen, dass es so sein müsse, wie es schon die Philosophen glauben; dass nämlich, »was unsre Vorfahren die Weise, die Römer Numerus und die Griechen Rhythmus nannten«, »auf eignen, in der Natur gegründeten Principien beruhe«.12 So schreibt zur gleichen Zeit etwa, als Hegel seine Vorlesungen zur Ästhetik hält, Johann August Apel in seinen zwei großen Bänden »Metrik«. Auch Apel weiß zwar, dass griechische Verse nach Längen und Kürzen gebaut sind – das ist immerhin ausführlich und unmissverständlich überliefert –, und er bemerkt sehr wohl auch den eigenartigen Ausschluss, der sich dadurch ergibt, dass wir Rhythmus inzwischen anders wahrnehmen als etwa die Griechen. Zu Apels Zeiten nämlich erging es einem Leser antiker Verse schon genauso wie uns heute – ich erinnere an unser kleines Experiment mit den Trimetern –:
Denn er bemüht sich vergebens mit dem Gehör dieses Schema singbar zu finden, und gleichwohl kann er sich nicht abläugnen, dass jene Stelle des Sophokles ein Vers sey, und das metrische Schema den Rhythmus jenes Verses bezeichne.
Leider also: Der moderne und Apels Zeitgenosse »bemüht sich vergebens«, das als Rhythmus zu empfinden, was ein antiker Sophokles aber, ebenso sicher wie Horaz, als den Rhythmus seiner Verse gedichtet hat. Was kann man daraus nur schließen? Dass Rhythmus hier und dort nicht dasselbe sind; dass sich, was Rhythmus hier ist und dort war, historisch gewandelt hat. Folglich kann Rhythmus auch nicht auf einem Naturgesetz gründen, und man dürfte also auf keinen Fall ansetzen, »dass der Bau des Verses auf eigenthümlichen, in seiner Natur gegründeten Gesetzen beruhe«.
Doch genau diese ewig eine Natur »des« Verses unternimmt Apel trotzdem zu beweisen und scheut sich nicht, dafür die notwendige Schlußfolgerung zu verkehren und gegen den Zeitenlauf zu wenden: Wenn wir an den Versen so, wie Sophokles sie gedichtet hat, nicht Rhythmus empfinden, kann Sophokles seine Verse folglich nicht so gedichtet haben, wie er sie gedichtet hat, sondern so, wie wir sie als rhythmisch empfinden! Wenn die Rhythmusempfindung von Sophokles und die Rhythmusempfindung von uns Heutigen aufeinanderprallen und nicht zueinander passen wollen, was ist daraus zu lernen? Dass unsere Rhythmusempfindung die einzig-ewig richtige ist! Und schon erstrahlt für Apel Glanz und Gloria »unserer Theorie, dass sie beweiset, in allen Rhythmen sey Takt, Rhythmus ohne Takt lasse sich dem Wesen des Rhythmus nach nicht denken«.
Und zwar nicht denken, weil nicht anders empfinden. So groß ist die Kraft unserer, der jeweils eigenen Rhythmuswahrnehmung, dass sie den Gedanken an eine andere nicht bloß ausschließt oder gar nicht erst aufkommen lässt, sondern ihn selbst dort, wo er einmal explizit und wissenschaftlich aufkommt, gewaltsam von seinem Ziel ablenkt und absurd verdreht. Derselbe Apel, der sich bei Rhythmus nichts als den Takt denken kann, weiß ja zur selben Zeit, dass Sophokles seine Verse anders, nicht so gedichtet hat, wie es jenem hochverehrten einen »Wesen des Rhythmus« entspricht. Und trotzdem, gegen dieses bessere Wissen, unternimmt Apel unbeirrt den haltlosen Beweis, die Verse des Sophokles müssten genau demjenigen »Wesen von Rhythmus«, dem sie zuverlässig nicht entsprachen, entsprechen.
Ein klassischer Irrweg
Bezwingend sind hier Wahrnehmung und Reflexion also ineinander verschränkt: die unwillkürliche Wahrnehmung von Rhythmus und das ebenso unwillkürlich täuschende Denken über ihn. Der Zwang der je eigenen Rhythmuswahrnehmung zeigt sich wirksam zum einen als Schranke: Weil wir Rhythmus zwingend nach Takten wahrnehmen, können wir uns Rhythmus nicht anders als nach Takten denken. Zugleich aber ist der Zwang wirksam als Übergriff: Wenn wir Rhythmus zwingend nach Takten denken, legen wir unser Taktwesen unwillkürlich auch auf Bereiche, die einer anderen Art von Rhythmus zugehörten; wir hören und denken auch solche Rhythmen danach, die zu ihrer Zeit nichts mit Takten zu tun hatten. Das heißt, wir täuschen uns und fälschen sie.
Das will ich nur ein wenig ausführlicher dokumentieren; denn für alles Folgende liegt sehr viel daran, die Mächtigkeit dieser Täuschung zu erkennen. Wie Canettis Ursprungsmythos ist auch Apels Lehre nur ein Beispiel unter unzähligen, und Apel nicht etwa ein einzeln verloren Irrender, sondern der ganz normale, vollgültige Vertreter einer Wissenschaft, die hier über mehrere Jahrhunderte hinweg nichts anderes hat wissen wollen.
Wie die antiken Verse zu ihrer Zeit gelesen wurden, ist genau überliefert: nach ihrem Rhythmus der zeitlichen Proportionen, nach lang und kurz. Wie aber müssten sie nach dem, was Apel und neben anderen die gesamte Wissenschaft der klassischen Philologie sich anheischig gemacht haben zu beweisen, ein für allemal gelesen werden? Wie in der Neuzeit: indem der alte Rhythmus durch den neuzeitlichen ersetzt wird. Die Abfolge von lang und kurz etwa des antiken iambischen Trimeter empfindet unser neuzeitliches Ohr nicht mehr als rhythmisch; als rhythmisch empfindet es die taktgemäße Abfolge von betont und unbetont. Wie also werden unserem neuzeitlichen Ohr die antiken Verse rhythmisch? Indem wir deren Rhythmus missachten und unseren Rhythmus hineinlegen. Das heißt: indem wir die Grundlage des originalen, des antiken Rhythmus, nämlich die Länge und Kürze der Silben für gleichgültig nehmen und stattdessen das wechselnde betont/unbetont auf die Silben schlagen. Ein Verfahren ist das, als würde sich nun wirklich Canettis bürgerlicher Urmensch aufmachen und mit dem rhythmischen Geräusch seiner Absätze über diese Verse hinwegtrampeln, gleichgültig gegen die Unebenheiten ihres geschmeidigen Bodens, mit seinen Hufen »eine Art von rhythmischer Notenschrift« hineinhämmernd, die es bei Gott nicht immer gab und die sich keineswegs »von selber« diesem »weichen Boden« einprägt, sondern die »der Mensch, der sie las«, nein, der sie neuzeitlich liest, durchaus mit einigem Nachdruck und mit einiger Gewalt erst von sich aus hineinzuzwingen hat: seinem rhythmischen Zwang gehorchend.
Die einzige Freiheit, die ihm der Taktrhythmus dabei lässt, ist die: ob eines oder ob zwei unbetonte Elemente zwischen die betonten treten; auf diese Freiheit werde ich noch zu sprechen kommen. Wenn also ein antiker Vers so lautete:
Parturient montes, nascetur ridiculus mus,
so ist sein originaler Rhythmus nach lang und kurz:
│ — ∪ ∪ │ — — │ — — │ — — │ — ∪ ∪ │ — — │
und die Wortakzente, die ja rhythmisch indifferent waren, verteilen sich so auf die Silben:
Par.tú.ri.ent món.tes, nas.cé.tur ri.dí.cu.lus mús.
Wir aber, neuzeitlich und taktrhythmisch, machen daraus:
PAR.tu.ri.ENT mon.TES, nas.CE.tur RI.di.cu.LUS mus.
So wird es uns rhythmisch, und deshalb und auf diese Weise machen wir, nämlich »wir« seit Beginn der Neuzeit, die antiken Verse zu Versen nach dem Taktwesen, nach betont und unbetont. Diejenigen Betonungen, die uns ein Geräusch zu einem rhythmischen machen, legen wir hinein, und die Akzente, welche die Sprache für sich tragen würde, unterdrücken wir – falls sie nicht zufällig, wie bei »nas.cé.tur«, mit den hineingelegten zusammenfallen. So ist die Übung seit Beginn des 17. Jahrhunderts, so lernt es, wer denn noch eine antike Sprache lernt, bis heute in Schule und Universität, und so sind im Laufe der Jahrhunderte wahrlich »Regimenter aus lauter Trommlern« über die armen Hexameter gejagt worden, und jeder hat seine Ikten darauf geschlagen – so heißen diese neuzeitlich hinzugefügten Betonungen: von ictus, der Schlag.
Diese Übung ist historisch aufs brutalste falsch, und dennoch ist sie legitim, verständlich, hat sie ihr unvermeidliches Recht: eben weil wir Rhythmus nunmehr anders empfinden als die Menschen der Antike. Wenn wir ihre Verse also überhaupt noch rhythmisch wahrnehmen wollen, können wir gar nicht anders, als denjenigen Rhythmus daraufzuschlagen, der uns nun einmal als einziger ins Ohr geht – nach jenem Zwang, über den wir nichts vermögen und von dem wir auch nichts weiter wissen. Gerade aber, weil er uns unbewusst bleibt, schlägt er auch alles Wissen, das daran hängt, mit spezifischer Blindheit. Wissenschaft nämlich, die ehrwürdigste klassische Philologie, hat jenes Iktieren ja nicht bloß als einen bewussten Notbehelf empfohlen, um unseren Mangel an antiker Rhythmuswahrnehmung auszugleichen, – und ein solcher Notbehelf ist das Iktieren und als dieser Notbehelf hat es sein Recht –; sondern sie hat behauptet, schon die Griechen und Römer selbst hätten ihre Verse so gesprochen, hätten so iktiert wie wir. Statt nach ihren Längen und Kürzen und ihrem natürlichen Wortakzent zu sprechen:
át.qu’íl.lud pró.no práe.ceps á.gi.tur de.cúr.su,
hätten auch die antiken Dichter so auf ihren Versen herumgetrampelt:
AT.qu’il.LUD pro.NO prae.CEPS a.gi.TUR de.CUR.su.
Man mache sich für einen Moment klar, was damit behauptet ist: Die Griechen und Römer hätten also mühevoll und sorgsam ihre Verse nach Länge und Kürze der Silben gedichtet, kompliziert wie etwa in den vorgeführten Trimetern und so, wie es nun einmal aufs genaueste belegt, überliefert und an den Versen festzustellen ist; aber Rhythmus hätten dieselben Griechen und Römer gerade nicht an diesen Längen und Kürzen empfunden, sondern an irgendwelchen recht unabhängig davon auf die Silben geschlagenen Betonungen – von denen nebenbei absolut nichts überliefert ist. Das ist etwa so, als wollte man die archäologisch eindeutige Feststellung, dass die Römer zur Heizung ihrer Thermen kunstvolle Hypokausten angelegt haben, mit der Behauptung zieren, die Wärme wäre aber von einer Zentralheizung gekommen.
Natürlich ist das Unsinn und, so möchte man meinen, auf Anhieb als Unsinn zu erkennen. Trotzdem ist diese Lehre aufgekommen, und nicht nur aufgekommen, sie war über Jahrhunderte hinweg die geltende wissenschaftliche Doktrin, hartnäckig gegen vereinzelte Kritik verteidigt, blindwütig gegen die antike Überlieferung verfochten, gewaltsam in die antiken Schriften hineingelesen und von angesehenen Oxford-Gelehrten hineingefälscht, und erst vor wenigen Jahren ist es gelungen, diese Lehre mitsamt ihren Fehlschlüssen Stück für Stück so zu widerlegen, dass sie endlich offiziell abgedankt hat – was keineswegs heißt, dass sie nicht allenthalben weiter tradiert würde.13 Einzig aufgrund des Reflexes, der uns »Rhythmus ohne Takt […] nicht denken« lässt, hat sich eine gesamte Wissenschaft gegen die Überlieferung vergangen, hat eine Philologie, die alles schriftlich belegt vorfindet und sich – eben philologisch – an diese Belege zu halten hätte, gegen jedes bessere Wissen verstoßen, hat sie jahrhundertelang allen Scharfsinn aufgeboten, um die einfachste Logik zu verkehren: dass ein Sophokles, der nach dem antiken Rhythmus dichtet, nicht nach dem neuzeitlichen gedichtet haben kann.
Die klassische Philologie ist buchstäblich also dieser historischen Fälschung überwiesen, der falschen Pro- beziehungsweise Retrojektion des neuzeitlichen Taktrhythmus in die früheren Zeiten. Gesprochen, über die antiken Verse gelegt hat man die Ikten seit Beginn des 17. Jahrhunderts, die wissenschaftliche Lehre, dieses betont/unbetont wäre antik, wird aufgestellt, sobald sich die Philologie zu einer eigenen Wissenschaft mausert, kaum einer widerspricht der Lehre, und selbst Nietzsche, der ihren Fehler bereits erkennt, kommt nicht ab davon, trotzdem an die Ewig-Einigkeit des Taktrhythmus zu glauben. Nach jahrhundertelanger Geltung erst hat diese eine unter den Philologien kleinlaut ihre Iktustheorie nun zurückgenommen und hat freundlich anerkannt, dass Griechen und Römer ihre Verse doch wirklich und wahrhaftig so gedichtet und wahrgenommen haben, wie sie Rhythmus empfanden und nicht wie wir es tun. Welch erfreulicher Rückschritt der Wissenschaft!
Die Iktustheorie und ihre Geschichte ist also ein Beleg für die Gewalt, mit der sich unser Denken allgemein und nachhaltig selbst gegen offensichtlichen Unsinn und beschämende Kurzschlüsse immunisiert, wenn es darum geht, denjenigen Rhythmus, den es als einzigen wahrzunehmen vermag, auch als den einzig-ewigen zu behaupten. Und nicht bloß immun zeigt sich hier das Denken, es nimmt die fälschenden Konstruktionen ja nicht bloß passiv hin, sondern führt sie aktiv und gegen erheblichen sachlichen Widerstand von sich aus auf: selbst in der Form wissenschaftlicher, rationaler, zuweilen höchst anspruchsvoller – und trotzdem hinfälliger – Argumente. Der Reflex, die jeweils eigene Rhythmuswahrnehmung für die einzige und notwendig ewig-natürliche zu halten, verdrängt nicht nur mühelos alle Reflexion, die dem entgegenstehen müsste, sondern treibt aktiv noch die mühsam gesuchtesten Reflexionen hervor, damit sie den Widerstand brechen und stattdessen bestätigen: Es muss immer so gewesen sein, wie es für uns ist.
So tief reicht da ein unerkannter, unwillkürlicher Zwang.
II
Befund
Um diesen Zwang, um seine Mächtigkeit, um seine Reichweite wird es hier gehen.
Dass er sich nicht nur in der klassischen Philologie ausgetobt hat, lässt sich leicht vermuten; Canettis zwingende Überzeugung, schon die frühesten Wilden hätten nach Takten gehört, hat es ja bereits vorgeführt. Tatsächlich verfährt die Wissenschaft auch allenthalben sonst mit älteren Versen so, wie es die klassische Philologie mit den ihren getan hat, und unterstellt ihnen regelmäßig, was auch immer die alte Überlieferung dagegen sagen mag, in irgendeiner Form den Rhythmus nach betont und unbetont. Ob ägyptisch, ob hebräisch, vorarabisch oder syrisch, altisländisch und phönizisch, es muss sein: nach Takten rhythmisch! Hier und da hat man inzwischen eingesehen, wie willkürlich und falsch diese Unterstellung getroffen war, und hat sie stillschweigend eingezogen. Doch es gibt auch den umgekehrten Fall, dass ein sorgsamer Gelehrter dieselbe Unterstellung für bestimmte Verse schon einmal umständlich widerlegt hatte und dass sich seine bessere Einsicht inzwischen doch ohne jedes Argument wieder ersetzt findet durch das alte Lied vom Takt- oder Akzentrhythmus.14 Und nicht nur den Versen aller Zeiten wurden und werden Takte mit ihrem betont/unbetont unterstellt – für die älteren Zeiten jeweils zu Unrecht –, sondern dem Bereich des Rhythmischen ja durchaus allgemein. Selbst in den Darstellungen zur Musikgeschichte, wo die Widerlegung am sichersten zu treffen ist, findet sich Canettis Irrtum noch immer weitaus häufiger vertreten als das so schwer anzuerkennende Gegenteil: die strikte Neuzeitlichkeit des Taktrhythmus.
Den ganzen Umfang dieser wohlmeinenden Geschichtsfälschung zu dokumentieren, wäre nicht unnützlich, aber endlos, und ich muss darauf verzichten. Wichtiger ist nun endlich ein Beweis dafür, dass der Taktrhythmus wirklich erst der Neuzeit angehört und keiner Zeit vorher. Doch dieser Beweis verlangt es zuvor noch, einiges andere zu klären und festzuhalten.
Zunächst diesen merkwürdigen Befund: Taktrhythmus, ein Phänomen, dessen geschichtliches Auftreten bekannt und belegt ist, wird dennoch mit großer Gewalt zugleich für ungeschichtlich, für überzeitlich konstant erklärt. Wenn es auf allen Gebieten sonst undenkbar ist, von Geschichte abzusehen, hier offenkundig ist es unmöglich, der Geschichte ins Auge zu blicken. Und das nicht bloß wegen des verständlich geringen Interesses, auf das etwa die Versgeschichte oder allgemein auch die theoretische Befassung mit Rhythmus stößt – jene ist zu entlegen und dieser ist einem zu nahe, als dass man sich darüber Gedanken machen wollte –, auch nicht auf Grund einer Jahrhunderte währenden Gedankenlosigkeit der Wissenschaft, die sich diesen Dingen nicht genug gewidmet hätte. Denn im Gegenteil, aktiv, mit großer Mühe und selbst mit klarem Bewusstsein von dieser Anstrengung setzt sich ja der Glaube an den ewig-einen Rhythmus gegen alle eindeutige Überlieferung durch. Das geschichtlich Untergegangene – hier also die älteren Arten von Rhythmus und von Rhythmuswahrnehmung – wird nicht allein getilgt und einer damnatio memoriae unterworfen, also bloß negiert, als hätte es dergleichen nie gegeben, sondern es wird etwas positiv an seine Stelle gesetzt, was neuzeitlich und was uns selbstverständlich ist. Das Neuzeitliche wird retrojiziert, wird dem Alten imputiert, als wäre dieses schon immer gleich dem Neuen gewesen. Und all dies, da wir unwillkürlich, wo wir Rhythmus erwarten, diesen unseren Rhythmus hineinlegen – unwillkürlich: also auch ohne uns darüber bewusst zu werden.
An Taktrhythmus und taktrhythmischer Wahrnehmung verbirgt sich demzufolge etwas, das sich unserem Wissen und unserem Bewusstsein nachdrücklich entzieht – etwas, das sehr bestimmend und nicht wenig tief in uns liegen muss. Denn wenn wir von irgendetwas entschieden werden sagen wollen, dass es zu unserer innersten und unwillkürlichsten Natur gehört, so sicherlich von der Empfindung des Rhythmus. Da aber sie auf diese Weise so tief in unsere Natur reicht, muss auch dasjenige tief in diese Natur hineinreichen, was sie gleichwohl geschichtlich bedingt.
Etwas, das uns innerste und unhintergehbare Natur ist, erweist sich verwirrender Weise als geschichtlich: Damit aber muss es hintergehbar werden. Es muss die Bedingungen solcher unhintergehbaren Natur aufdecken lassen, es muss dorthin geleiten, wo Geschichte am mächtigsten, wo sie nämlich blind wirkt, wo sich das geschichtlich Bedingende ausblendet, als wäre es nicht Geschichte, sondern Natur selbst.
Experimente
Um dorthin vorzudringen, kann ich dem Leser eine Reihe kleiner, vorsichtiger und mühsamer Schritte nicht ersparen, von denen er kaum den Eindruck gewinnen wird, dass sie sich auch nur um weniges auf dieses Ziel hinbewegen. Trotzdem, es sind die ersten und in dieser Hinsicht auch die wichtigsten Schritte, und der Leser mag sich von ihrer zunächst überwältigenden Belanglosigkeit nicht beirren lassen. Sie verfolgen für jetzt lediglich die Beantwortung der einfachen Frage: Was wirkt da rhythmisch in uns, was gibt sich uns am Rhythmus so zwingend unwillkürlich vor und was also ist es, was sich uns daran so nachhaltig verbirgt.
Die Verfolgung dieser Frage führt durch ein Gestrüpp stachelig trockener Einzelheiten, und so gerne ich sie wenigstens zum Teil umgehen würde, ich muss den Leser bitten, sich jetzt die Mühe zu machen, die sich bisher noch nie jemand gemacht hat, und mit mir auf diesen einfachen und doch nur schwer, Schritt für Schritt zu durchmessenden Grund hinabzusteigen, auch wenn noch nicht absehbar sein sollte, wozu es dient und was alles sich auf diesem Grund erhebt.
Dieser Grund, der »Urgrund« nicht von Rhythmus an und für sich, sondern des unseren, des Taktrhythmus, ist seinerseits zum einen so gut wie unerschlossen, zum anderen aber ist auch er weitläufig bekannt und erforscht und hat durchaus nichts Verborgenes oder Geheimnisvolles an sich – ein Widerspruch, der nicht zufällig denjenigen wiederholt, den ich gerade bei der Geschichtlichkeit des Taktrhythmus festgestellt habe. Genauso wie dort sicher bekannt ist, dass Rhythmus nicht zu allen Zeiten nach Takten ging, und trotzdem selbst die wissenschaftlich angestrengteste Reflexion nichts davon wissen will, genauso geht es nun mit dem, was diesen Irrtum und Widerspruch bedingt. Was da rhythmisch in uns wirkt und wovon unsere, die taktrhythmische Wahrnehmung bewirkt wird, das hat man längst festgestellt, auf die anerkannt wissenschaftlichste Weise nachgewiesen und untersucht, und spätestens seit dem Jahre 1951, seit Herbert Woodrows zusammenfassendem Artikel im Handbook of Experimental Psychology, gehört es wiederum zum Handbuchwissen.15 Doch wie geläufig, wie durchaus alltäglich es auch sein mag, dort, wo es ihre ahistorischen Theorien vom Rhythmus berührt und im übrigen auch umstürzen würde, versteifen sich die Einzelwissenschaften sofort wider besseres Wissen darauf, dass es dieses so sicher Nachgewiesene nicht geben könne und nicht geben dürfe; es wäre, wie zuverlässig auch untersucht, dennoch – so schreiben sie wörtlich – eine »Chimäre«. Seltsamer Fall. Also, endlich: Was ist das für eine chimärische Alltäglichkeit, was ist das für ein allbekanntes Geheimnis?
Eine ganz einfache Tatsache: Nehmen wir das Tropfen eines Wasserhahns oder das Ticken eines Weckers. Wenn sie so schön gleichmäßig vor sich hin picken, hören wir ihr tap tap tap oder tik tik tik stets so, als würde es von schwer nach leicht hin und her schwingen, als würden die einzelnen Töne wie sanft auch immer nach betont und unbetont abwechseln. Eine harmlose Beobachtung; gleichwohl trifft sie ins Zentrum dessen, was sich in unserer Rhythmuswahrnehmung verbirgt und was dort so unwillkürlich und zwingend wirksam ist.
Schon im Jahre 1885 hat sie ein Herr Georg Dietze gemacht – nicht als erster – und in einem wahrnehmungspsychologischen Experiment eingehend beschrieben. Dietze hatte mit seinen Experimenten durchaus nicht nach rhythmischen Bestimmungen geforscht, sondern verfolgte eine andere Frage, er suchte »nach der Anzahl von Vorstellungen, welche gleichzeitig im Bewusstsein anwesend sein können«.16 Eine Frage, die Bedeutung hat für unsere Zeitwahrnehmung, genauer: für unsere Wahrnehmung von Gegenwart.
Damit uns jeder gerade gegenwärtige Augenblick nicht einfach nur zu einem ausdehnungslosen Nullpunkt zwischen zwei unendlichen Reichen schrumpft, zwischen dem jüngst Vergangenen, das nicht mehr, und dem unmittelbar Zukünftigen, das noch nicht ist, muss unsere Wahrnehmung, muss unser Gedächtnis oder unser »Bewusstsein«, wie Dietze sagt, mehr als nur diesen absolut gegenwärtigen Zeit- und Nullpunkt überspannen. Damit die Gegenwart für uns nicht bloß nichts ist, sondern überhaupt Ausdehnung und Inhalt gewinnt, muss sich unsere Wahrnehmung die aktuellen Inhalte jeweils eines gewissen Zeitraums gegenwärtig halten. Dieser Raum von gleichzeitig gegenwärtigen Denk- oder Wahrnehmungsinhalten wird heute allgemein die Aufmerksamkeitsspanne genannt, und ihre Ausdehnung festzustellen, war Dietzes Ziel mit seinen »Untersuchungen über den Umfang des Bewusstseins«.
Für entsprechende Experimente empfahl sich ihm dabei die Wahrnehmung des Gehörs, da er glaubte, »wegen der sehr kurzen Nachwirkung der Eindrücke auf diesem Sinnesgebiete« werde sich hier die Anzahl gleichzeitig umfasster Inhalte besonders prägnant feststellen lassen. Dietze untersuchte den »Bewusstseinsumfang« daher »bei regelmässig auf einander folgenden Schalleindrücken« – und geriet damit unversehens auf das Gebiet unserer Rhythmuswahrnehmung. Er spielte seinen Versuchspersonen jeweils eine bestimmte Anzahl von gleichmäßig aufeinander folgenden, identischen Tönen vor und untersuchte dann, ob sie diese Anzahl korrekt wiedererkannten beziehungsweise eine Abweichung von ihr richtig vermerkten, wenn er ihnen anschließend weitere Folgen mit entweder derselben Anzahl oder mit einer leicht davon abweichenden vorspielte. Wenn die Ausgangsfolge zum Beispiel 15 Töne umfasste, bekamen die Versuchspersonen daraufhin etwa Folgen mit 14, 15 oder 16 Tönen zu hören und hatten dann anzugeben, ob diese der Ausgangsfolge entsprächen oder nicht – all das natürlich, ohne dass die Probanden mitzählen durften. Als Töne verwendete Dietze die jeweils mit gleichem Zeitabstand aufeinanderfolgenden und völlig identischen Schläge eines Metronoms.
Die einfache Versuchsanordnung verwendete also dasselbe Tonmaterial, dem sich auch Canettis Fußgänger ausgesetzt findet: ein gleichmäßig fallendes tok tok tok. Nur dass hier anders als bei Canetti, wo es hieß, die Töne ergäben sich »nie mit genau derselben Kraft«, jedes tok nun sehr wohl eines wie das andere exakt mit derselben Kraft erklingt. Dafür sorgte bei Dietze noch das Metronom, bei jüngeren Experimenten dann eine elektronische Apparatur.
Dietzes Probanden hörten also Reihen identischer, gleichmäßig fallender Töne, um zu prüfen, wieviele sie davon ohne Zählen korrekt im »Bewusstsein« halten würden. Und das zeitigte nebenbei ganz erstaunliche Einsichten: nämlich erstens dass die stets mit derselben Lautstärke erklingenden Töne »nie mit gleicher Energie appercipirt werden«.17 Sie werden vielmehr trotz ihrer Identität geradeso gehört, wie es Canetti dem Klang der Füße zuschreibt: »nie mit genau derselben Kraft«, sondern: abwechselnd nach betont und unbetont. Und das eben nicht, weil dieser Unterschied im Erklingenden selbst läge, sondern obwohl die Töne selbst ja gerade keinen Unterschied aufweisen.
Wie kann es dazu kommen? Was kann diesen Unterschied bewirken? Wer oder was macht diesen Unterschied? Es kann nicht anders sein: Der Wahrnehmende selbst macht ihn. Er muss, wenn er die Töne hört, die Unterscheidung nach betont und unbetont in die Töne hineinlegen. Eine einfache Schlussfolgerung, die bei Woodrow so lautet:
Wenn die Folge aus Stimuli besteht, die physikalisch identisch sind und in zeitlicher Gleichförmigkeit aufeinanderfolgen, muss jede wahrgenommene Gruppenbildung, wenn man von dem Einfluss der Abfolgegeschwindigkeit absieht, subjektiven Faktoren geschuldet sein. Vorausgesetzt, das Tempo, mit dem die Folge abläuft, ist weder zu langsam noch zu schnell, wird das Subjekt normalerweise eine Folge von Gruppen wahrnehmen, wobei jeweils ein Glied jeder Gruppe einen Akzent trägt. 18
Das »Subjekt« legt unwillkürlich einen Akzent auf jeweils einen von zwei benachbarten Tönen, die es damit zugleich, durch das Verhältnis von betont gegen unbetont, zu einer Gruppe verbindet, einer Zweier-Gruppe aus akzentuiertem und nicht-akzentuiertem Ton. Weder die Akzente liegen schon objektiv im Klang noch diese Verbindung der Töne. Was der Wahrnehmende so hört, als ob es im Klang läge, der Unterschied und die Verbindung der Töne nach betont und unbetont, ist etwas, das er selbst erst in seiner Wahrnehmung der Töne bildet, was er sich also – banal gesprochen – einbildet. Die Töne, von denen jeder geradeso klingt wie der andere, hört der Wahrnehmende nicht so, wie sie objektiv klingen, er hört sie nicht identisch, sondern unterschieden nach betont und unbetont. Er also unterscheidet sie danach, er bringt den Unterschied hervor: indem er ihn wahrnimmt.
Gleichwohl gilt, dass er die Töne damit tatsächlich als betont und unbetont hört. Für ihn also sind sie es – auch wenn sie es objektiv nicht sind. Der Wahrnehmende hört den Unterschied von betont und unbetont in den Tönen, als wären sie danach unterschieden, als wären sie objektiv und für sich genommen unterschiedlich. Und weil er sie so hört, muss er glauben, sie würden auch objektiv so erklingen, muss er glauben, die Betonung und Unterscheidung der Töne wären Bestimmungen, die in deren Klang lägen und die er ihrem Klang lediglich entnähme. Er vermerkt nichts davon, dass, was er hört, nicht gleich dem ist, was objektiv erklingt, – zumindest vermerkt er nichts davon, solange er das Gehörte nicht auf irgendeine Weise objektiv überprüft. Die Unterscheidung, die seine Wahrnehmung in dem Gehörten bewirkt, macht zugleich vollständig den Inhalt seiner Wahrnehmung aus.
Wir treffen hier also auf eine Art akustischer Täuschung, vergleichbar in etwa dem Vorgang bei optischen Täuschungen. In einem der bekanntesten Beispiele, einem Stern aus Linien, durch den rechts und links vom Mittelpunkt zwei Parallelen gezogen sind, sehen wir diese Parallelen beispielsweise gekrümmt, obwohl sie objektiv aufs vollkommenste gerade gezogen sind.
Entsprechend verhält es sich mit dem betont/unbetont in den identisch erklingenden Tönen: Wir nehmen etwas Anderes wahr, als was objektiv vorliegt, unsere Wahrnehmung gibt uns das objektiv Gegebene in einer fest bestimmten Weise verändert wieder. Und zwar eben unwillkürlich verändert: Wer die identisch aufeinanderfolgenden Töne nach betont/unbetont abwechseln hört, der hört sie in dieser Weise genauso zwingend unwillkürlich, wie er die geraden Parallelen gekrümmt sieht: »ob er es beabsichtigt oder nicht«. Und eben weil er sie ohne Absicht und unbewusst so hört, wird er sich sagen müssen, es wären die Töne selbst, die »nie mit genau derselben Kraft« erklingen. Er muss überzeugt sein, er spräche nur von dem, was objektiv erklingt, und muss nicht ahnen, dass er außerdem von etwas spricht, das erst seine Wahrnehmung dabei leistet.
Wie verbindlich sich dieses betont/unbetont einstellt, hat schon Dietze vermerken müssen. Es gelingt seinen Probanden gar nicht, die identischen Töne anders als in den betont/unbetont-Gruppen wahrzunehmen,
selbst dann nicht, wenn absichtlich eine Verbindung der gegebenen Vorstellungen in Gruppen zu vermeiden gesucht wird. Die bei unseren Versuchen erhaltenen Resultate weisen deutlich darauf hin, dass auch in diesem Fall eine Gruppirung der Vorstellungen zu je zweien nicht umgangen werden kann.
So zwingend also ist die Täuschung – und das heißt: diese Leistung unserer Wahrnehmung. Denn unsere Wahrnehmung wird dabei nicht getäuscht. Die Veränderung, die sie an den ununterschieden gleichen und getrennten Tönen vollzieht, ist ja etwas, das sie selbst und aktiv leistet. Die »Gruppirung der Vorstellungen zu je zweien« macht sich nicht von allein, liegt nicht schon in den Tönen vor, sondern muss durch den Wahrnehmenden erst aktiv geleistet werden. Nur dass er von dieser Tätigkeit seiner Wahrnehmung nichts bemerkt, zumindest eben nicht, dass da seine Wahrnehmung aktiv eingreift. Er bemerkt lediglich die Wirkung dieses Eingreifens, nämlich dass für ihn die Töne zu Gruppen verbunden und nach betont/unbetont unterschieden sind. Und diese Wirkung ergibt sich ihm unvermeidlich, unumgänglich, zwingend unwillkürlich. Sie ergibt sich ihm in einer Art Reflex.