Kitabı oku: «Oder sind es Sterne», sayfa 2

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HASIR ZAMAN
PARIS

DU STELLST DICH MIT DEINEM französischen Namen vor, Henri.

»Inès?«, sagt die Kellnerin, als sei sie sich nicht ganz sicher. Ihre großen Augen schwimmen unter schweren Lidern, die Wimpern werfen Schatten auf die hohen Wangenknochen, ein leichter Überbiss ragt zwischen den vollen Lippen hervor. Die Haut schimmert oliv. Das eigensinnige Haar ist mit einem dieser roten Haushaltsgummis halbherzig zum Chignon gezähmt. Die Nase war offenbar einmal gebrochen. Jeder Chirurg könnte das wahrscheinlich ambulant wieder in Ordnung bringen. Ihrer Stimme gibt es immerhin ein charmantes Timbre, als sei sie erkältet. Die dünnen Arme scheinen achtlos am mageren Körper angebracht. Als klassische Schönheit kann man sie nicht bezeichnen.

Aber sobald sie sich bewegt, fügt sich alles zu einer eigenwilligen, betörenden Choreografie. Es ist, als würde man durch die Schlitze eines Zoetrops blinzeln und das Pferd zum ersten Mal im Flackern des Lichts galoppieren sehen. Etwas Unheimliches und zugleich Vertrautes geht von ihr aus. Du hast auf einmal Sehnsucht. Heimweh. Ein körperliches Verlangen, das du seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt hast.

Sie muss ziemlich verzweifelt sein, wenn sie im Chez Farida arbeitet, dem marokkanischen Restaurant, welches dein Freund Ziad geerbt hat. Ziad ist ein Ausbeuter und nicht gerade dafür bekannt, sein Personal fair zu behandeln. Du kennst ihn seit Studienzeiten, ein Playboy, der mit Baseballkappe und zerrissenen Jeans versucht, von Haarausfall und Midlife-Crisis abzulenken.

Das Restaurant ist wie immer voll, aber heute nimmst du die bobos und Touristen, die sich vom Marais hierher verlaufen haben, kaum wahr. Deine Aufmerksamkeit gilt nur ihr. Als sie wieder an deinen Tisch kommt, hinten am Fenster, fragst du, ob sie den Bordeaux oder den Wein aus dem Rhone-Tal empfehlen würde.

»Möchten Sie probieren?«, fragt sie angespannt, sie muss spüren, dass Ziad sie beobachtet.

Ziad sehe nicht her, behauptest du. Gelogen.

»Bouf! Bei dem weiß man nie. Ich bin neu hier. Haben Sie schon ein Gericht gewählt?« Auf ihrer Bluse zittern Fettspritzer, knapp über der Brust, ein krummes Ausrufezeichen, wie von einem Kind gezeichnet.

Die Speisekarte, geografisch unverbindlich, kennst du auswendig: Soupe à l’Oignon, Couscous Marocain, Boeuf Bourguignon. Die Tajine Farida ist nach Ziads Mutter benannt, die dafür Kalbfleisch statt Lamm verwendet hat. Angeblich soll die Matriarchin die Kälber eigenhändig geschlachtet haben. Du nimmst die Tajine, und Inès verschwindet in der Küche.

Ziad schlendert an deinem Tisch vorbei. »Eine manouche, keine Papiere, Zigeunerpack. Legasthenikerin, ein Wunder, dass sie überhaupt eine Bestellung aufnehmen kann. Unzuverlässig, kein Zeitgefühl. Sei bloß vorsichtig. Die kommen und gehen, können nicht anders. Sie hat es auf dein Geld abgesehen.« Trotz seiner abfälligen Worte scheint auch er fasziniert. Aber ihre Blicke gelten dir.

Später räumt sie den schweren Tontopf ab, die Tajine hast du kaum angerührt. »Nicht hungrig?«

Nicht besonders. Du fragst Inès, ob sie hungrig sei. Du willst, dass sie stehen bleibt, willst ihre heisere Stimme hören. Sie überlegt einen Moment.

»Immer, nur nicht nach Essen.« Melancholie schwingt in ihrer Antwort mit.

Ob sie Lust hätte, nach der Arbeit auszugehen, ihr könntet gemeinsam hungrig sein.

Sie schnalzt mit der Zunge und wendet sich ab.

Vor dem Restaurant zündest du dir eine Filterlose an und wartest trotzdem. Der Nieselregen verschleiert die Straßenbeleuchtung. Als Inès endlich herauskommt, zerrt sie den Gummi aus den Haaren, und ihre wilden Locken springen in der Feuchtigkeit auf. Sie nimmt einen Zug von deiner Zigarette, pflückt Tabakkrümel von ihren Lippen und bläst perfekt geformte Rauchringe in die Herbstluft.

»Wo willst du hin?«

In eine Bar?

Sie zuckt mit den Schultern, enttäuscht.

Les Bains?

»Ich sehe verboten aus.«

Sie könnte sich umziehen. Wo sie wohne?

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich jemals in diese Gegend verläufst.«

Du bietest an, sie zur Metro zu begleiten.

»Wie, das war’s jetzt? Wo wohnst du denn?«

In der Nähe. Drüben im 11. Arrondissement.

»Warum gehen wir nicht zu dir? Das Wetter ist grässlich.«

Das vorzuschlagen hättest du nicht gewagt, zu dieser Uhrzeit.

»Du bist zu höflich, um mich anzuspringen.« Sie zittert in der Kälte.

Dass es Unvermögen, nicht Höflichkeit sei, verkneifst du dir zu sagen.

Auf dem Weg hältst du den Schirm über ihren zerschlissenen Trenchcoat. Dein Maßanzug wird nass.

»Ist Ziad ein Freund von dir?«

Ihr habt beide an der Sorbonne studiert. Film, lange her.

Sie schweigt, und du überlegst, was eure Freundschaft wirklich ausmacht.

Im Aufzug schlägst du vor, ein paar Platten aufzulegen, obwohl dein Musikgeschmack dein Alter verraten wird. Wie alt Inès wohl ist?

»Ja! Tanzen.« Ein Lächeln erhellt ihre Züge. Es erstirbt, als sie aus dem Aufzug ins Penthouse tritt. Selbst höhere Töchter, die du früher oft in Clubs aufgegabelt hast, waren eingeschüchtert, wenn sie in die Wohnung kamen, obwohl sie weder besonders groß noch teuer eingerichtet ist. Keine Kunst an den Wänden. Manche loben die Aussicht über Paris, den offenen Kamin, andere das Zusammenspiel verschiedener Design epochen oder die ungewöhnliche Farbgebung. Letztes Jahr hast du die Sessel eines obskuren italienischen Möbelmachers in staubigem Lila neu beziehen und die Wände in der Farbe des Vergessens streichen lassen. Die Beleuchtung ist dir gelungen, sie verleiht den Räumen eine gelassene Eleganz. Das Filmstudium war nicht völlig umsonst.

Inès reagiert auf etwas anderes. »Was ist das für ein Geruch?«

Oud, erklärst du und zündest ein brüchiges Stück Agarholz an, das du einem Gauner aus den Emiraten für eine obszöne Summe abgekauft hast.

Sie atmet den Rauch ein und schließt die Augen. »Es riecht magisch!«

Du streifst die Schuhe ab und hängst ihren nassen Mantel auf, das Ausrufezeichen auf der billigen Bluse ist nun verlaufen, der Nagellack an ihren Zehen abgeblättert. Vor dem Bücherregal legt sie den Kopf zur Seite und zieht das kommentierte Drehbuch von Antonionis Il deserto rosso heraus.

Du fragst sie, ob sie gerne lese.

»Ich mag Geschichten, die mich an andere Orte transportieren, zu fremden Kulturen und Menschen. Ich bin aber eher ein langsamer Leser.« Es klingt, als würde sie sich eines Verbrechens bekennen.

Geschichten. Orte. Menschen.

Du überlässt sie den Büchern und setzt in der Küche Tee mit Nelken und Zimt auf. Im Schlafzimmer schlüpfst du in trockene Sachen. Dein Herz rast.

Als du zurückkommst, sitzt sie auf dem Teppich und ist in das Fotoalbum deiner Kindheit vertieft. Das lose Foto von einer Schulklasse in Kabul rutscht heraus.

»Wo ist das?«

Afghanistan.

Sie fährt mit dem Finger über das Foto.

Es sei ein Waisenhaus, das du finanziell unterstützt. Das klingt viel großzügiger, als es ist, denkst du und bist froh, dass sie nicht nachhakt. Du erwähnst nicht, dass der Junge mit den roten Haaren und den Sommersprossen auf dem Bild dein Neffe ist.

Die Personen auf den eingeklebten Bildern stellst du vor. Deine Eltern neben einem Sportwagen vor der Villa in Kabul, bei den Pyramiden in Ägypten, vor der Freiheitsstatue in New York. Andere Bilder zeigen deinen Vater in seinem Arbeitszimmer neben einer Godrej-Schreibmaschine, Bekannte aus LA und Beirut, die Lkw-Flotte des Familienunternehmens, Zaman Logistics, blühende Mohnfelder. Ein größeres deiner Eltern, auf einem Sofa mit König Zahir Shah in dessen Exil in Rom. Die Augen von allen dreien rot angeblitzt.

»Sie sehen aus wie Aliens.« Inès erkennt den Monarchen nicht.

Bei den Aufnahmen eines buzkashi-Turniers hält sie inne. Reiter jagen über ein offenes Feld, die weiß gepuderten Gipfel des Hindukusch dahinter ragen in den Technicolor-Himmel. Dein Vater hatte deine Schwester und dich mitgenommen, du warst noch ein kleiner Junge.

»Was ist das? Ein Pferderennen?«

So ähnlich. Ein Sport aus Zentralasien, erklärst du.

In der Handschrift deiner Mutter steht darunter: Uzma et Hasir 1976.

»Wer sind Uzma und Asir?«

Uzma sei deine Schwester. Hasir mit H, betonst du, das H werde ausgesprochen, wie bei den Arabern. Es sei dein afghanischer Name.

»Hhhhasir mit hasch. Ich mag den Namen.« Sie runzelt nachdenklich die Stirn.

Du seist aber kein Araber.

»Dann musst du etwas Besseres als Tee im Haus haben. Cognac? Mir ist kalt.«

Du holst eine Flasche alten Armagnac aus dem Küchenschrank, schenkst ihr ein und überlegst, selbst ein Glas zu trinken. Auf das bisschen Alkohol kommt es jetzt auch nicht mehr an. Du wirst wie immer versagen.

»Wolltest du nicht Musik auflegen?«

Grace Jones’ »Walking in the Rain« scheint dem Wetter angemessen.

Das Album auf dem Schoß, bewegt sich Inès zum Rhythmus und summt eine jazzige Gegenmelodie.

»Erzähl mir von dem Sport.«

Buzkashi sei Afghanistans Antwort auf Polo, sagst du. Zwei Mannschaften sogenannter chapandaz-Reiter versuchten, sich gegenseitig einen kopflosen Schafsbock abzujagen, den sie über ein Spielfeld zerren. Ziel sei es, den Kadaver vor dem Preisrichter abzulegen. Manchmal ginge so ein Turnier tagelang. Buzkashi sei in Zentralasien einmal sehr prestigeträchtig gewesen, doch Tadschiken, Usbeken und selbst Pakistanis hätten das primitive Spiel längst für modernere Sportarten aufgegeben. Nur die Afghanen hielten noch daran fest. Aus dir unerklärlichen Gründen.

»Beeindruckend, diese Bilder!«

Du hast sie seit Jahren nicht mehr angesehen. Die Fotos wirken wie eine Reportage aus dem Life-Magazine, dabei hat sie ein Teenager, Murtaza Sabari, aufgenommen. Murtazas Teleobjektiv ist ganz nah an die angestrengten Gesichter der Chapandaz herangekommen, die Mähnen der Pferde wie stürmische Pinselstriche, das Gebirge samtig in der Ferne. Dein Vater hat das Wunderkind der Sabari Studios oft beschäftigt, nachdem dessen Clan bei einem sowjetischen Luftangriff ausgelöscht wurde. Murtaza überlebte, verlor allerdings ein Bein. Du fragst dich, was wohl unter den Taliban aus dem Studio geworden ist.

»Das bist du, oder?« Inès zeigt auf das Bild eines Jungen, der aus einem roten Skianorak hervorgrinst. Deine kleine Schwester Uzma verzieht keine Miene. Dein Vater wollte sie zuerst nicht mitnehmen, es sei ein Männersport, aber Uzma konnte sich schon als Kind immer durchsetzen. Seine Hand liegt auf ihrer Schulter. Er trägt den Siegelring mit dem eingravierten Halbmond, den du nach seinem Tod in einer Schachtel gefunden und dir an den Finger gesteckt hast. Inès blickt auf deine Hand, die an dem Ring herumspielt.

»Buzkashi klingt eher japanisch.«

Buzkashi sei ein primitiver Sport, das Gegenteil japanischen Feinsinns. Japaner würden sogar Sterben zur Kunstform stilisieren. Melancholie, Verfall und Vergänglichkeit würden dort als wesent licher Bestandteil des kreativen Schaffens und der Wahrnehmung von Kunst verstanden. Afghanistan hingegen serviere einem Leben und Tod mit der rohen Axt eines Schlachters, alles sei der Brutalität der Natur und den endlosen Kriegen unterworfen. Afghanistans Erde ist mit Blut getränkt. Sogar die Äpfel schmecken nach Fleisch.

Du spürst ein Pulsieren an der Stelle, wo sich eure Schultern berühren. Ihre Augen so nah, ihr Atem auf deiner Haut. Unerreichbar. Du wünschtest, sie würde aufhören, in deiner Vergangenheit her umzuwühlen, und fürchtest zugleich, sie würde sich mit dem Hasir der Gegenwart langweilen.

Wo sie herkäme?

»Herkunft ist nicht alles.«

Sie hat keine Ahnung von der Last eines Vaterlandes, beneidenswert.

»Warum hast du Afghanistan verlassen?«

Du hättest eine andere Kultur gesucht, um dich zu entfalten. Du hast dich mit den französischen Modegöttern befasst, mit den Künsten, der Politik, der Philosophie und dich vor allem im Dunkel der Kinos verzaubern lassen. Du genießt die Küche und bist sogar ihrer Akzent-, Zirkumflex-, und Cédille-befallenen Sprache Herr ge worden.

»Du bist lustig, Hasir.«

Zum ersten Mal in deinem Leben gibst du zu, dass du fast geweint hast, als du endlich den Pass der Grande Nation in deinen Händen gehalten hast. Die Arabesken des Stils, der Klasse und Verführung hättest du trotzdem nie ganz gemeistert. Obwohl du es lange versucht hast. Du wolltest französischer werden als die Franzosen.

Bei Gott, und wie du es versucht hast!

»Sssccchhhh! Hasir mit Hhhaasssccchhh!«

Inès’ Hände schlängeln sich durch die Oud-Schwaden, bis ein Finger auf deinen Lippen landet.

Eine einzige Geste, ein Sssccchhhh, und der Fluch des Unvermögens ist gebrochen.

SAMEER
KABUL

MEIN AUGE IST SCHLIMMER GEWORDEN, immerhin pocht es nicht mehr so, vielleicht bin ich nur zu schwach, um noch etwas zu spüren. Ameisen klettern über mein Fladenbrot. Irfahn schnappt es sich. Es ist mir egal, ich bekomme ohnehin keinen Bissen herunter. Nachts schwitze ich fiebrig, als sei ich schon in der Hölle. Einmal kam AliAli mich besuchen, er schwebte, durchsichtig wie die abgestoßene Haut der Schlange, lächelte, dann drehte er sich weg und verschwand wieder im Dunkel.

Tagsüber fröstelt mich, obwohl dies ein besonders heißer Sommer sein soll. Ich schließe auch mein heiles Auge, die gleißende Sonne scheint mir auf die Lider und bringt die Adern, die sich darin fein wie die Triebe der Zedern verästeln, zum Glühen.

Draußen im Hof poltert plötzlich die Stimme Hasir-saybs. Ich wusste gar nicht, dass er kommt. »Wo ist der Junge? Ich will ihn sofort sehen!« Der Onkel aus Paris klingt verärgert.

»Hasir-sayb, welche Ehre! Wir sind auf Ihren Besuch nicht vorbereitet.« Mullah Usmeen versucht, den Onkel zu besänftigen. Vergeblich.

»Wo steckt er denn?«

Alle im Klassenzimmer halten den Atem an. Der Lehrer schaut mich besorgt an. So spricht man nicht mit Mullah Usmeen. Er wird dem Onkel alles erzählen. Er wird ihm sagen, dass ich den Streit mit Irfahn angefangen habe. Dass Irfahn mich als den Sohn eines sowjetischen Dreckschweins beschimpft hat, wird er verschweigen. Der Mullah wird ihm verraten, dass wir den Frauen im Nachbarhaus beim Baden zugesehen haben, durch den Spalt. Der mit dem verkrüppelten Arm und der Dicken, deren Bauch über ihren haarigen Schritt hing. Wahrscheinlich weiß der Mullah auch, dass ich mich nachts selbst anfasse, bis meine Schlange ihr weißes Gift speit.

Er wird ihm sagen, dass ich behauptet habe, der Onkel aus Paris sei wirklich mein Onkel. Obwohl jeder weiß, dass er nur ein guter Muslim ist, der die fünf Säulen des Islam beachtet und uns Waisen Almosen gibt. Der Lehrer wischt mir mit dem Ärmel übers Gesicht, rückt die Takke zurecht und zerrt mich in den Hof. Jetzt werde ich auch noch dem Onkel aus Paris Schande bringen. Gnade!

Hasir-sayb steht wie ein Kinoheld vor einem weißen Toyota. Er trägt westliche Kleidung und streicht sich selbstbewusst das Haar aus dem glatt rasierten Gesicht. Sein Begleiter Behrooz dagegen, ein Berg von einem Mann, trägt einen stolzen Bart, die Spitzen noch rot vom Henna der Hajj, und schnippt mit seiner Gebetskette.

Als der Onkel mich sieht, spricht er plötzlich ganz leise. »Was ist denn mit dem Auge passiert? Ist er verprügelt worden? Ich zahle jedes Jahr Millionen von Rupien, um den Jungen zu ernähren, einzukleiden und ihn in die Schule zu schicken, genug, um das ganze Waisenhaus zu betreiben. Da komme ich einmal unerwartet und finde den Bengel abgemagert, schmutzig und krank.«

Mullah Usmeen verbeugt sich nervös. »Wir haben Sameer zum Schlangenbeschwörer gebracht, aber das Tier war verstorben. Hier wird niemand geschlagen, das ist ein zivilisierter Ort.«

Der Onkel schnalzt verächtlich mit der Zunge. »Ich halte Schlangenbeschwören nicht für ein Zeichen von Zivilisation.«

»Hasir-sayb, die Buben sind ungestüm in diesem Alter«, sagt der Mullah. »Er muss ausgerutscht sein.«

Ich sollte diese Lüge bestätigen, behaupten, ich sei hingefallen. Sonst bekommt der Mullah nur Probleme. Es ist zwar gelogen, doch auch in der Wahrheit lauert Sünde.

Der Onkel beugt sich zu mir, ich erwarte eine Ohrfeige, aber er deutet nur auf mein Gesicht. »Das Auge ist total vereitert!« sagt er angewidert.

Mir wird schwindlig, der staubige Boden verschwimmt, als der Onkel mich an sich reißt und ganz fest in die Arme nimmt. Sein feines Hemd riecht wie frisch gehacktes Holz und die Berge nach dem Regen. »Ihr solltet euch schämen. Er ist doch noch ein Kind.«

»Hasir-sayb, ich bitte Sie. Wir tun, was wir können«, sagt der Mullah.

Ich versuche, mich so still wie möglich zu halten. Dann werden die Stimmen auf einmal leiser, und der Boden gibt nach. Fühlt sich so Sterben an?

Eine grelle Lampe blendet mich. »Da bist du ja wieder, Sameer-jan! Geht es dir besser?« Ein Doktor hilft mir beim Aufsetzen. Auf seiner Glatze sprießen nur wenige Haare. »Schau meinem Finger nach«, sagt er und bewegt diesen nach rechts. »Stillhalten.« Ein kurzes Stechen im linken Auge taucht alles in Rot. Erleichterung. Der Druck lässt nach, und es öffnet sich. Ich kann wieder mit beiden Augen sehen! Der Doktor tupft mit einem Wattebausch blutigen Eiter weg. Jemand streicht mir über den Rücken.

»Du bist sehr tapfer, Sameer-jan!«, sagt der Arzt. Wahrscheinlich will er sich nur bei Hasir-sayb einschmeicheln. »Wir werden dich wieder gesund machen. Wie alt bist du? Zehn?«

»Ich bin dreizehn«, sage ich wahrheitsgetreu.

Der Doktor seufzt. »Der Junge muss mehr essen, sein Körper braucht Kraft. Er ist noch im Wachstum.«

Hasir-sayb begutachtet Instrumente in einer Vitrine. »Sie haben keine Ahnung, wie wütend ich bin, Doktor. Primitivlinge!« Er muss die Sowjets meinen. Selbst der Doktor sieht, dass meine Mutter sich von einem hat nehmen lassen.

Der Doktor wischt den Rost von einer Tube mit Salbe und demonstriert Behrooz, wie mein Auge gesäubert werden soll. »Antibiotika«, sagt er überdeutlich und hält ihm eine Dose mit Tabletten hin. »Der Junge muss jede Einzelne davon nehmen. Morgens und abends nach dem Gebet. Er darf keine auslassen. Sehen Sie zu, dass ihm niemand diese Pillen wegnimmt.«

Behrooz lässt die Dose in seiner Weste verschwinden.

»Das sind die allerletzten Antibiotika«, lamentiert der Doktor. »Sehen Sie sich um, Hasir-sayb. Wir brauchen dringend Material, um das Hospital weiter zu führen. Medikamente, Aspirin, Spritzen, Impfstoffe, Verband. Jedes Pflaster zählt.«

»Behrooz wird sich darum kümmern«, sagt der Onkel.

»Die Route Islamabad–Kabul wird neuerdings geplündert«, sagt Behrooz. »Wir werden es über den Iran versuchen.«

»Ich kann immerhin Desinfektionsmittel herstellen hier.« Der Doktor tippt eine der Flaschen an, die im Regal aufgereiht stehen. »Heimlich natürlich, wegen des Alkohols. Die Taliban glauben nicht an die Wissenschaft. Alhamdulillah für mein Stipendium in Moskau, Hasir-sayb. Wenn es etwas gibt, wofür wir den Sowjets dankbar sein können, dann für den Fortschritt, den sie uns gebracht haben.«

Warum lässt Hasir-sayb zu, dass der Doktor so gut über die Sowjets spricht? Meinetwegen?

Feierlich befestigt der Doktor eine schwarze Klappe über meinem Auge und zieht den Gummi fest. »Du wirst dich bald besser fühlen, Sameer-jan.«

Als wir rausgehen, jagt mir mein Spiegelbild in der gebrochenen Fensterscheibe einen Schrecken ein. Ein abgemagerter Rothaariger in Lumpen. Der Onkel liest meine Gedanken. »Lass uns zum Bazaar fahren, etwas essen und ein paar Klamotten kaufen. Ärztliche Anordnung.« Er gibt mir einen freundschaftlichen Schubs.

Auf dem Pul-e-Khishti-Bazaar sorgt der Auftritt des berühmten Hasir Zaman aus Paris für Aufregung. Wildfremde Leute stürzen auf ihn zu und wünschen ihm Gesundheit, halten seine Hand. Dem Onkel scheint das alles unangenehm. Behrooz ist damit beschäftigt, ihm das Gedränge vom Leib zu halten. Ich wittere die Gelegenheit wegzulaufen, bevor sie mich wieder in die Schule zurückbringen. Als ich mich in Richtung der Teppichgasse schleiche, landet Behrooz’ schwere Hand in meinem Nacken. »Mach jetzt keinen Ärger, Sameer-jan. Dein Onkel ist ein guter Mann. Er wird für dich sorgen.«

In einem Restaurant setzen sie mir einen Berg gewürzten Reis mit einem ganzen Fleischspieß vor. Der Onkel raucht, während er mir beim Essen zusieht. Er ist ein wohlhabender Mann in feinem Tuch, zu dem die Leute aufsehen, aber in seinen Augen spiegelt sich Traurigkeit. Ich fürchte seine Wut, die ihn manchmal wie ein böser Jinn überfällt. Dabei hat er alles.

Behrooz zeigt mir, wie man den leuchtenden Saft von Orangen und Granatäpfeln durch einen Strohhalm trinkt, es schmeckt himmlisch. Inzwischen ist mir nicht mehr schwindlig. Als er zahlt, schnappe ich mir den Halm aus dem Müll und stecke ihn heimlich in den Ärmel.

Bei einem Kleiderhändler hält der Onkel Jeans hoch.

»Das erlauben die Mullahs nie«, sagt Behrooz.

Der Händler zeigt Hasir ein paar Hemden mit passenden Hosen, er faltet ein Kleidungsstück nach dem anderen auf. Der Onkel lehnt die meisten ab, nachdem er die Stoffe angefasst hat, schließlich hält er mir ein paar Sachen hin, zum Anprobieren. Mir stockt der Atem. Wir haben im Waisenhaus seit Ewigkeiten keine neue Unterwäsche mehr bekommen. Behrooz stellt sich vor mich, und ich schlüpfe verschämt in Hemden, Hosen, Westen, Jacken, sogar Pullover für den Winter. Der Onkel will die Kleider von allen Seiten sehen, er zupft an den Ärmeln und inspiziert die Nähte.

Der Händler ignoriert mich, ich bin seiner Ware unwürdig. Jedes Mal, wenn er den Mund aufmacht, schließt der Onkel die Augen, als würden ihm die Worte des Mannes Schmerzen bereiten. Wahrscheinlich ist er nur müde. Es dauert ewig, bis er zufrieden ist. Am Ende lässt er den halben Laden einpacken und fragt nach Unterwäsche. Zehn Paar würden genügen, vorerst. Meine Ohren werden heiß.

Ein Schuhverkäufer drängelt sich mit einem Turm aus Kartons herein. Er bietet Hasir-sayb Lederstiefel und Turnschuhe an.

»Welche gefallen dir besser?«, fragt der Onkel.

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

»Also beide«, sagt er.

Der Verkäufer streift einen Turnschuh über meinen linken Fuß, einen Stiefel über den rechten und drückt an den Zehen herum.

Der Onkel starrt auf die Schuhe. »Die sind doch viel zu groß.«

Der Verkäufer knüllt Zeitungspapier zusammen und stopft es in die Spitze. »Das sollte die richtige Größe sein, Sayb. Für später.«

Alle warten auf Hasir-saybs Urteil. »Gib mir die großen Stiefel, ein Paar große Turnschuhe, und dazu je ein Paar, das ihm jetzt passt«, sagt er. »Und zwar ohne Papier. Ich kann Provisorien nicht ertragen. Das Leben findet heute statt.«

Das Leben findet heute statt. Ist das so?

Die Augen der Händler leuchten gierig, als sie Zahlen auf Karton krakeln. Noch bevor ein Preis genannt wird, beginnt Behrooz zu handeln. Das werde ich nie zurückzahlen können.

Hasir-sayb schiebt mich nach draußen in die goldenen Strahlen der Abendsonne. Er zündet sich eine Zigarette an. Den Ruf des Muezzins scheint er nicht zu hören.

Bald kommt auch Behrooz mit Taschen und Schachteln beladen heraus. »Willst du dich nicht bei Hasir-sayb bedanken, Sameer-jan? Hast du kein Benehmen?«

Mein Gesicht brennt schon wieder vor Scham. »Ich kann Ihre Großzügigkeit nicht annehmen, Hasir-sayb.«

»Keine Ursache, Junge. Das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann.«

»Ich bin Ihrer Güte nicht würdig, Sayb.«

Der Onkel bleibt stehen. »Tu mir einen Gefallen und freu dich einfach. Es sind nur Anziehsachen. Ich kann diese falsche Bescheidenheit nicht leiden, die sie euch hier eintrichtern. Ein einfaches Dankeschön genügt.«

Falsche Bescheidenheit.

»Ich danke Ihnen. Allah wird Sie belohnen«, sage ich. »Friede sei mit Ihnen!«

Der Onkel schnippt die Zigarette weg. Ein Bettler schnappt sich den glühenden Stummel.

Auf der Rückfahrt halten wir vor dem eleganten Hotel Serena. Der Onkel steigt aus. »Im Winter komme ich wieder. Bis dahin wird Behrooz ab und zu nach dir sehen.« Er reicht mir eine kleine Karte mit fremden Buchstaben und Zahlen durchs Fenster. »Hier ist meine Nummer in Paris. Wenn es wieder Probleme gibt, ruf an. Wenn du irgendwas brauchst oder krank wirst, bin ich immer für dich da.« Er sieht mir an, dass ich das nie tun werde. »Du kannst Behrooz Bescheid geben.«

Ich nicke, aber er ist nicht überzeugt.

»Sag dem Mullah, dass er Behrooz anrufen soll, und er wird sich sofort mit mir in Verbindung setzen.« Aber er weiß doch, dass ich die Karte nicht lesen kann, dass ich weder ihn noch Behrooz anrufen werde. Weil ich noch nie jemanden angerufen habe. Weil ich niemanden kenne. Weil ich ein Niemand bin.

»Inshallah, Hasir-sayb.«

»Hör auf, mich Hasir-sayb zu nennen. Ich bin dein Onkel Hasir. Ich bin dein mamoon, verstehst du?« Er zeigt seine Zähne, die wie Perlen glänzen. »Ich werde dir einen Tutor besorgen, der wird dir Englisch beibringen. Privatunterricht. Es ist die Sprache der Zukunft. Ich möchte, dass du hier eines Tages weggehst, studierst, etwas aus dir machst.« Jeder weiß, dass das nie passieren wird.

»Vielen Dank, Hasir-sayb. Ich meine, Onkel Hasir. Friede sei mit Ihnen!«

Als der Onkel im Hoteleingang verschwindet, sagt er etwas in seiner Sprache, Französisch. Es klingt sanft und wird von kleinen Explosionen im Mund begleitet. Zwei Männer in Uniform salutieren ihm. Onkel Hasir. Ich habe keinen Onkel. Meine Mutter ist tot. Ich bin kein Zaman. Ich bin allein.

Ich muss bald verschwinden. Bald.

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