Kitabı oku: «Oder sind es Sterne», sayfa 5
Nach wenigen Wochen ist Sakchin einigermaßen zufrieden. Sie würden sich endlich bewegen wie exotische Katzen, die den großen Diamanten aus dem Palast stehlen wollten. Als Krönung will er jedem ein geheimes Mantra geben. Eine Art Gebet, das sie immer dann einsetzen sollen, wenn sie unter Druck stehen, wenn das Adrenalin steigt und die Fluchtreflexe überhandnehmen. Das Mantra würde für Klarheit, Ruhe und innere Stärke sorgen. Sakchin hat es auf die persona eines jeden zugeschnitten. Warum kann der Typ nicht einfach Person sagen?
Sakchin geht vom einen zum anderen, hält Hände, schaut in Augen und atmet mit jedem eine Runde, bevor er jedem dieses Mantra zuflüstert. Morales’ scheint kurz zu sein. Warum stellt Brook bei seinem so viele Fragen? Jamie ist zuerst skeptisch, scheint dann aber amüsiert. Zulu ist so ergriffen, dass er sich Tränen unter der Brille wegwischt. Kellogg lehnt seinen rasierten Kopf zu Sakchin und jault dann mit kindischer Begeisterung. Er gibt Sakchin und Anwar ein High-Five und streift Ryder mit einem komischen Seitenblick.
Ryder wird das nicht an sich heranlassen, das Mantra nicht und keines dieser ungebetenen Gefühle. Er wird sich nicht von einem Irren aus einem Sex-Kult sein Motto vorbeten lassen. Er wird sich einfach ein neues ausdenken.
»Für dich habe ich was ganz Spezielles, Ryder«, sagt Sakchin. »Du strahlst so einen intensiven Lebenswillen aus.« Sakchin hält den Atem an, lange, lässt ihn wieder ausströmen und reinigt dabei seinen Körper von allem Übel der Welt, wie er zu sagen pflegt. Ryder macht es ihm halbherzig nach.
»Dein Mantra ist relativ komplex. Du musst es an deine Atmung koppeln. Du wirst es lieben.«
Ryder spürt die Aufmerksamkeit der anderen.
»Bereit?« Ein harziger Geruch geht von Sakchin aus, intensiv, aber nicht unangenehm. Er flüstert Ryder ins Ohr, und es ist, als würde er ihm direkt in die Seele hauchen. »Einatmen: Wieso? Luft anhalten: Weshalb? Ausatmen: Warum? Was soll’s? Versuch dir die Worte vorzustellen.«
Wieso, weshalb, warum? Was soll’s?
Wieso, weshalb, warum? Was soll’s?
Wieso, weshalb, warum? Was soll’s?
Ryder atmet mit den Worten, er atmet im Rhythmus der Silben tief ins Zwerchfell. Gelassenheit breitet sich in ihm aus. Ruhe.
Sein Mantra ist genial!
Wieso, weshalb, warum? Was soll’s?
Als Ryder später wie gewohnt das Lagerfeuer vorbereitet, kündigt der General eine spirituelle Zeremonie an. Ein peruanischer Schamane fährt in einem klapprigen Ford Mustang vor. Mit seinen ausgetretenen Flip-Flops, der chullo-Mütze und dem T-Shirt mit der Aufschrift pura vida sieht er eher wie die verwahrlosten Gangster aus Ryders alter Nachbarschaft San Ysidro aus. In einem Kessel über dem Feuer kocht der Schamane Kräuter und murmelt dabei einen Sprechgesang.
»Der Tee hier öffnet den präfrontalen Kortex«, sagt der General. »Dort sitzt einer der primitiveren Bereiche unseres Gehirns, die Psyche, das Unterbewusstsein. Es werden starke Gefühle hervorbrechen. Wir schicken Vergangenheit und Zukunft auf Kollisionskurs, und da kommen oft Erinnerungen hoch, die Sie vielleicht lieber vergessen wollen. Aber ich verspreche Ihnen, Sie werden ein tieferes Verständnis für sich und andere erlangen.« Der General bleibt mit seinem Blick an Ryder hängen. Vielleicht bildet er sich es auch nur ein. »Dieses Erlebnis wird Sie von den negativen Erfahrungen befreien, die Sie in Ihrer Entwicklung hemmen. Gute Reise!«
Nacheinander trinken die Männer von der verbeulten Blechtasse des Schamanen.
Plötzlich lässt sich Kellogg neben Ryder auf den Boden fallen, ist schon eine Weile her, dass sie sich unterhalten haben. Er nimmt einen großen Schluck und zieht eine Grimasse. Ryder benetzt nur die Lippen, der beißende Geruch steigt ihm in die Nase, der Geschmack ist widerlich. Für ihn ist die Vergangenheit recht gut aufgehoben, dort, wo sie ist. In der Vergangenheit.
»Stell dich nicht so an«, lacht Kellogg. »Zu Hause gibt’s wieder Margaritas.«
Die Drishtis schauen erwartungsvoll in die Runde.
Grillen zirpen. Der Schamane singt. Moskitos stechen. Feuer knistert.
Sonst nichts.
Tyrone greift nach einem brennenden Ast, schwingt ihn über dem Kopf. Dann steht der General auf und hüpft schwer atmend auf der Stelle. Das Lagerfeuer wärmt. Der Vollmond scheint herab. Kellogg nuschelt vor sich hin, die Lider auf einmal schwer, als hätte er gekifft. »Sarahs kleine Katze, überfahren. Kopf war noch intakt. Wusste gar nicht, dass es ihre Katze war. Seidiges Fell. So weich.« Er streicht sich über den kahlen Kopf. »Weiche Katze. Ich mochte Sarah. Dann ist sie weggezogen. Weg.« Eine Träne rollt Kelloggs Wange hinunter, glitzernd wie ein Diamant. Er wischt sie weg, strampelt sich aus seinen Kleidern und wirft sie ins Feuer. Ein goldenes Amulett blitzt auf seiner Brust.
Zulu faselt von seinem Papa, überglücklich, und knöpft sich den Overall auf.
Ryder will nicht an seinen Alten denken. Als die Tasse wieder an ihm vorbeikommt, nimmt er doch einen richtigen Schluck. Diesmal schleicht der Tee angenehm durch seinen Körper. Zuerst kitzelt es an Hals und Ohren, dann explodiert es scheinbar in ihm, als hätte jemand Wunderkerzen in seinem Kopf angezündet.
Ryder dreht sich vom Feuer weg, sieht hinaus in die Weite. Eine Schlange schlängelt auf ihn zu, richtet sich auf und spreizt ihren Hals. »Bist du bereit?«, zischt sie.
Ryder meint zu nicken, und schon verschwindet sie in der Wüste.
Das Gesicht des Generals, die Pupillen seiner drei Augen zu Stecknadeln verkleinert, schwebt nun vor ihm und saugt die Worte auf, die aus Ryders Mund lodern.
Erinnerungen. Ryders Alter im Badezimmer. Der Rauch seiner Zigarette im Neonlicht. Der Duschvorhang kreischt über die Stange.
Zzzwwwiiirrrschhhhh!
Wasser spritzt. Giftiger Atem. Schwielige Hände auf Kinderbeinen. Vaseline.
Ryder spürt nichts. Er sieht nur zu. Kaum anwesend.
Wut fährt in die zitternde Kinderhand, sie reckt sich nach dem Vorhang, zieht ihn vor dem Alten zu. Die Ringe kreischen.
Zzzwwwiiirrrschhhhh!
Schon ist die Fratze weg. Verschwunden. Licht.
Zurück am Lagerfeuer, richtet Ryder sich auf, wächst zu Kellogg empor. Sie wirbeln wie Funken ums Feuer. Draußen in der Wüste locken wabernde Regenbogenfarben, und die beiden werfen sich der bunten Ferne entgegen, dorthin, wo der Himmel auf die Erde trifft, bis die Ranch am Horizont abgleitet. Kelloggs Grinsen taucht in Ryders Lippen. Endlich!
Der Wind weht ein wundersames Lied herbei. Ein Chor nähert sich, in blaue Seide gehüllt.
Wieso, weshalb, warum? Was soll’s?
Whiskey India Echo Sierra Oscar?
Whiskey Echo Sierra Hotel Alpha Lima Beta?
Whiskey Alpha Romeo Uniform Mike?
Violinen schwellen, die Seide wogt wie die Tränen in einem gigantischen Auge. Ein kolossales Drishti, das dritte und allsehende Auge. Blau.
DRISHTI!
HASIR ZAMAN
PARIS
IN JENER ERSTEN NACHT hatte Inès sich noch vor Sonnenauf-gang aus der Wohnung geschlichen. Als du aufwachtest, war sie bereits verschwunden, und mit ihr der Ring deines Vaters. Du zähltest dein Geld, aber es fehlte nichts, und du schämtest dich, es gezählt zu haben.
Am selben Abend gingst du wieder ins Chez Farida. Sie trug eines deiner weißen Hemden, mit den Perlmuttknöpfen, aus ägyptischem Baumwoll-Twill, die Ärmel aufgeschlagen. Was für einen Unterschied dieses Hemd machte. Sie war distanziert, professionell.
»Ich musste etwas anziehen. Ich gebe es dir zurück«, flüsterte sie, sobald Ziad außer Hörweite war. »Kannst du auf mich warten, draußen?«
An diesem Abend regnete es nicht. An der Ampel zog sie wieder den roten Gummi aus der Mähne. Ihr schwiegt. Im Aufzug überlegtest du dir, ihn anzuhalten, du konntest dich kaum zurückhalten, aber behieltst schließlich deine Phantasien für dich, bis ihr in der Wohnung wart. Dort ließt du dich von ihren Bewegungen, ihrem Atem, ihrem Blick und ihrer warmen Haut überwältigen.
Am Morgen ist sie immer verschwunden, wie ein Spuk. Den Ring hast du nie wiedergesehen, nur ihren Geruch, den lässt sie da; er schwebt über dem aufgeschlagenen Fotoalbum. Sie ist besessen von diesen Bildern. Du bist besessen von ihr. Monate vergehen, und du weißt noch immer nichts über sie. Nur ihren Namen, Inès.
Bis sie ein paar Tage nicht im Restaurant erscheint. Ziad ist amüsiert. »Beruhige dich, sie hat sich freigenommen. Ganze zwei Wochen wollte sie wegbleiben«, sagt er. »Wenn sie am Wochenende nicht wiederkommt, ist sie den Job los. Kannst du ihr gerne ausrichten.«
Am Samstag fängst du sie an der Metro ab. Wo sie gewesen sei?
»Zu Hause.«
Mit wem?
»Mit niemandem. Jemandem. Was soll das? Ich muss zur Arbeit.«
Du bettelst darum, dass sie mit dir nach Hause kommt.
»Jetzt sofort?«
Jetzt. Bitte.
Kaum in der Wohnung, führt sie deine Hand unter ihren Rock.
Die Tür fällt ins Schloss. Es geht schnell, zu schnell.
»Ich muss los.« Sie schließt den Rock mit einer Sicherheitsnadel.
Nein! Du greifst zu hart nach ihrer Hand.
Langsam dreht sie ihr Handgelenk aus deinem Griff, ihr Blick ist kalt.
»Ich bin nicht einmal gekommen.«
Du entschuldigst dich.
Sie blinzelt gelangweilt, als du ihr Bein entlangstreichst. Deine Hand wandert um ihren Schenkel nach innen. Sie sieht auf deine Armbanduhr.
»Drei Minuten.«
Du gehst auf die Knie und tust, was dir eine Prostituierte in Beirut beigebracht hat. Dein Vater hatte sie dafür bezahlt, dir zu zeigen, wie man eine Frau zum Höhepunkt bringt. Du warst noch jung, ein Teenager, aufgeregt. Es war ein kleiner Triumph, aber hauptsächlich hast du dich geschämt.
Inès kommt in kurzen, heiseren Wellen.
»Hasir mit dem Hhhhsssschhhh. Jetzt muss ich wirklich gehen.«
Sie solle bleiben, sich krankmelden.
»Ich brauche die Arbeit.«
Dieses alberne Trinkgeld, Almosen von gönnerhaften Gästen. Du ziehst ein Bündel Scheine aus der Tasche.
»Für wen hältst du mich?« Mit spitzen Fingern zählt sie die Scheine, lässt sie in ihrem Lederbeutel verschwinden und wirft die Geldklammer auf die Anrichte. Du hasst dich. Zum Abschied küsst sie dich auf den Mund.
»Du schmeckst komisch.« Ein belustigter Zug huscht über ihre Lippen.
Du legst dich in die Badewanne und weinst.
Spätabends wartest du vor dem Restaurant in einer dunklen Ecke und bittest sie um Verzeihung.
»Du bist mir immer noch so fremd.« Ihre perfekt gerauchten Ringe hängen in der Nacht. »Irgendetwas muss sich ändern.«
Du würdest alles tun.
Morgens weckt dich Geklapper aus der Küche. Ihre Kleider liegen noch auf dem Boden verstreut. Nackt hält sie dir eine Tasse Kaffee hin. »Ich habe keine Milch gefunden.«
Du würdest Milch hassen.
»Milch ist widerlich.« Ein schattiges Lächeln.
Ekelhaft.
»Ich habe Hunger.«
Du würdest etwas besorgen. Ob sie noch da sei, wenn du wiederkommst?
»Wo denn sonst?«
Du ziehst die Sachen vom Vorabend an. Du kannst dich nicht erinnern, wann du das zuletzt getan hast, vielleicht noch nie. Du musst dich beeilen, sie darf dir nicht wieder entwischen.
Als du zurückkehrst, blättert Inès in dem Album.
»Wer sind die Kinder im Waisenhaus?« Sie beißt in ein Croissant.
Während der sowjetischen Besatzung hätten viele von ihnen die Eltern verloren. Der junge Rothaarige, das sei dein Neffe.
»Dein Bruder ist gestorben? Wie schrecklich, das tut mir leid.«
Nein, der Junge sei der Sohn deiner Schwester. Sie lebe im Ausland.
»Onkel Hasir.« Sie strahlt dich an. »Was macht der Kleine dann im Waisenhaus?«
Eine berechtigte Frage, die du dir selbst nie wirklich gestellt hast.
Du erzählst Inès, dass deine Schwester von einem sowjetischen Soldaten vergewaltigt worden sei. Dass sie den Jungen weggegeben habe. Dass sie nach LA geflohen sei. Geflohen vor der schmerzlichen Erinnerung.
»Hat sie das so formuliert? Geflohen vor der schmerzlichen Erinnerung?«
Zugegebenermaßen deine Worte.
»Besucht sie ihn manchmal?«
Nein, sie wolle nichts von ihm wissen.
»Merkwürdig, sie hat ihn doch zur Welt gebracht.«
Sie habe sein Schicksal deinen Eltern überlassen.
»Wieder so leere Worte. Sie hat ihn sicher nicht leichtfertig zurückgelassen, das kann ich dir versprechen. Wie heißt er?«
Sameer.
»Er sieht so unschuldig aus, ganz zerbrechlich. Du musst die beiden zusammenbringen.«
Uzma hätte mit Afghanistan abgeschlossen.
»Das heißt nicht, dass sie mit ihm abgeschlossen hat.«
Sie sei eine schwierige Person, nicht gerade mütterlich.
»Du kannst sie also nicht ausstehen?«
Im Gegenteil, du würdest sie sehr vermissen und jedes Jahr nach LA reisen.
»Nimm den Jungen mit.«
Das würde nur Salz in offene Wunden streuen.
»Faule Ausreden. Lass sie das selbst entscheiden.«
Ob du ihr weniger fremd wärest, wenn du Sameer mit nach LA nähmst?
»Soll das ein Witz sein? Ich verstehe die Frage nicht.«
Inès solle mitkommen.
»Nach LA? Ich kann nicht. Ich muss mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.«
Du würdest alles bezahlen.
»Du hast nichts verstanden, Hasir mit dem Hhhhhsssschhhhhh.«
SAMEER
KABUL
HEUTE MUSS ICH WIEDER Verben deklinieren. Ich hatte gehofft, Murtaza würde mir weiter die Geschichten des Engländers aus dem Dschungelbuch vorlesen, aber nein. Ich mache alles falsch, trotzdem bleibt Murtaza geduldig.
»Sameer, hattest du gestern Englischunterricht?«
»Nein, gestern hatte ich keinen Unterricht gewesen.«
»Falsch! Gestern hatte ich keinen Unterricht. Wo warst du gestern?«
»Gestern begleitet ich Behrooz in die Provinzen.«
»Begleitete. Du hast Behrooz begleitet. Seid ihr zu den Bauern gefahren?«
»Nein, die Ernte ist vorüber. Der Mohnsaft wurde längst getrocknet und abtransportiert.«
»Schlafmohn«, murmelt Murtaza abwesend. »Was habt ihr unter nommen?«
»Wir waren in den Bergen. Wir fuhren so hoch wir konnten und gingen dann zu Fuß. Ein Hirte hat uns auf einen Gipfel gebracht. Ich habe die Wolken von oben gesehen!« Es war wunderschön und erhaben dort. Ich wünschte, Behrooz hätte Elham einmal mitgebracht, ich habe sie seit letztem Sommer nicht mehr gesehen.
»Was wird dort oben angebaut?«
»Dort wächst nichts mehr. Aber es gibt Höhlen und Verstecke der Schmuggler und der Mujahideen. Der Hirte hat sie uns gezeigt.«
Murtaza arrangiert seine Beinprothese auf dem Polster am Boden.
»Agha Murtaza, wie lange haben Sie gebraucht, um die Zeiten zu beherrschen?«
»Ich mache auch heute noch manchmal Fehler. Du hast große Fortschritte gemacht, Sameer-jan. Bald brauchst du mich nicht mehr.«
Murtaza will mich nicht mehr unterrichten.
»Nein! Ich muss noch sehr viel lernen, Agha Murtaza! So viel.«
»Dein Onkel hat mich heute angerufen.«
Der Tag musste kommen. Ich hatte gehofft, immer weiter Englisch lernen zu dürfen. Ich hatte gehofft, mehr von der großen weiten Welt zu erfahren, die mir Murtaza eröffnet hat. Mein Leben vor den Sabari Studios kommt mir inzwischen wie eine Dichtung aus den Büchern vor, die wir hier heimlich lesen.
»Wer ist der Onkel?« Murtaza sieht mich gelassen an. Worauf will er hinaus?
»Hasir Zaman aus Paris.«
»Wie ist er mit dir verwandt?«
»Ein Onkel.« Eine anmaßende Aussage.
»Genauer. Dein Onkel ist der Bruder deiner Mutter.«
»Das kann nicht sein«, sage ich leise.
»Sprich mir nach: Mein Onkel ist der Bruder meiner Mutter. Meine Mutter ist die Schwester von Hasir Zaman.«
»Sie kann nicht Hasir-saybs Schwester gewesen sein. Onkel Hasir ist ein respektabler Mann aus einer einflussreichen Familie. Er ist wohlhabend und besitzt Ländereien. Er hat das Lycée Esteqlal besucht, genau wie Shah Ahmad Massoud, der Löwe von Panjshir.«
»Wer ist deine Mutter?«
Murtaza weiß doch, dass sie eine Hure war. Er will, dass ich das Wort ausspreche und mich an das unreine Blut erinnere, das durch meine Adern fließt. Die Sünde hat mein Gesicht fleckig gemacht und wächst in feuerroten Schlangen aus meinem Kopf. Meine Mutter ist tot. Eine tote Hure.
»Deine Mutter ist …«, er schaut mich aufmunternd an.
»Meine Mutter war eine Hure.«
»Das stimmt nicht, Sameer-jan! Ich möchte nicht, dass du so über Menschen sprichst. Nicht in diesem Haus. Das Sabari Studio ist ein Ort, an dem Mann und Frau respektiert werden.«
»Verzeihen Sie mir, Murtaza. Meine Mutter war keine respektable Person. Sie hat die Sowjets verführt. Ich verstehe nicht, wie Sie mich hier dulden können.«
»Kannst du dich an deine Mutter erinnern?«
»Ich kann mich dunkel an eine Frau erinnern, aber das war nicht meine Mutter. Die Sowjets haben sie umgebracht.«
»Sameer, deine Mutter …«
»Die Schweine haben sie abgeschlachtet, nachdem ich geboren wurde.« Meine Stimme versagt. Zum ersten Mal tut mir meine Mutter leid.
»Nein, nein!«
»Die Taliban haben sie im Ghazi-Stadion gesteinigt.« Ich wünschte, ich hätte nie das Foto sehen müssen, das Irfahn mir einmal gezeigt hat und auf dem Männer mit spitzen Steinen auf eine Frau unter einer blutigen Burqa zielten. Danach war ich überzeugt, dass auch meine Mutter bei den Tribunalen hingerichtet wurde. Ich habe mich lange gefürchtet, jemanden zu fragen, aus Angst vor der Antwort.
»Sie lebt!«, sagt Murtaza. »Deine Mutter ist am Leben. Dein Onkel hat angerufen. Er wollte, dass ich dir das sage.«
Ein schriller Ton kreischt in meinem Kopf, alles wird taub, aber meine Füße tragen mich in die Dunkelkammer. Ich verriegle die Tür. Das rote Licht schluckt die schändliche Haarfarbe und lässt die Flecken auf meiner Haut verschwimmen. Ich sehe fast normal aus.
Murtaza klopft. »Sameer-jan, lass mich rein.«
Ich werde alles auslöschen. Mit der großen Papierschere schneide ich meine Locken so kurz wie möglich. Die sowjetischen Strähnen flattern auf den Boden. Dann nehme ich mir die Augenbrauen vor.
»Sameer-jan, lass es mich erklären. Wir haben alle versagt. Mach auf!« Murtaza rüttelt an der Tür. Die kalten Klingen schaben weiter über meine Haut.
Ein Knall, die Klinke fällt zu Boden, und die Tür schwingt auf. Murtaza lässt eine Axt zu Boden sinken, nimmt mir die Schere aus der Hand und wischt mit seinem feinen Schal das Blut aus meinem Gesicht.
Nachdem ich mich etwas beruhigt habe, holt er eine Blech-schachtel mit der Aufschrift Zaman in die Dunkelkammer. »Da ist ein Foto von deiner Mutter drin, als sie noch jung war. Ich muss es nur finden.« Er stopft den blutigen Schal in das Loch, wo zuvor die Klinke war, und der Raum ist wieder ganz in dunkles Rot getaucht. »Sie war ein unglaubliches Mädchen, sehr beliebt und intelligent. Unerreichbar. Alle sahen zu ihr auf.« Die Schachtel ist gefüllt mit Dutzenden Negativstreifen. »Ich suche ein ganz bestimmtes Foto. Es zeigt drei Frauen, die über den Schulhof des Lycées gehen. Die Bücher in den Armen. Eine von ihnen trägt eine weiße Bluse. Es ist deine Mutter. Du wirst sie sofort erkennen. Wie dein Onkel sprach sie fließend Englisch und Französisch. Im Gegensatz zu ihm war sie sehr diszipliniert.«
Ich habe keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat. Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Ich halte die Negative ins Licht. Ich suche die Vergangenheit in den umgedrehten Farben. Die Haare der Leute sind weiß, ihre Hemden schwarz. Bilder von einem Mann und einer Frau vor verschiedenen Landschaften, in fremdländischen Häusern, überall Blumen. Auf einem Bild sind Pferde. Es muss ein Buzkashi-Turnier sein. Kinder, ein Mädchen, ein Junge. Auf einem der Streifen finde ich endlich das Bild, das Murtaza gesucht hat. Drei Frauen in westlicher Kleidung, mit Büchern in den Armen.
Murtaza legt das Negativ in die Bildbühne. »Du weißt ja, wie man scharf stellt.« Im Lichtstrahl des Vergrößerers erscheinen die Frauen, modern wie die in den Filmen, die wir manchmal heimlich auf Murtazas Fernseher ansehen, den er unter den Holzdielen versteckt hält. Wie die Frauen aus fremden Ländern, wo die Menschen ein buntes Leben führen und gemeinsam lachen, singen und tanzen. Wo Frauen Ärztinnen und Forscherinnen werden, die furchtlos mit wilden Tieren in Afrika leben.
Murtaza legt ein großes Papier in den Rahmen darunter. »Wie viele Sekunden?«
Seit ich denken kann, ist meine Mutter tot. Wie lange kann es dauern, eine Tote zum Leben zu erwecken? Das Bild meiner Geistermutter brennt sich auf das Fotopapier. Sie wirkt stolz, wissend und gelassen. Ich kann kaum glauben, dass diese Frau die Dinge getan hat, deren Zeugnis ich bin.
»Sieht sie nicht umwerfend aus? Deine Mutter heißt Uzma.«
Uzma.
Langsam erweckt das Fixierbad meine Mutter zum Leben. Das Foto muss lange bevor es mich gab aufgenommen worden sein, vor der Schande. Deshalb wirkt sie so fröhlich. Eine Brosche steckt an ihrer weißen Bluse, ihr Haar ist in der Mitte gescheitelt und fällt in Wellen um ihr Gesicht. Alle drei Frauen sehen glücklich aus, aber meine Mutter strahlt ganz besonders. Sie muss die Anführerin sein. Das Bild passt nicht zu dem, was später geschah, zu dem sowjetischen Soldaten.
Murtaza klemmt das Bild an die Leine. Seine Prothese knirscht und erinnert mich daran, dass das hier kein Traum ist. Es ist die Wirklichkeit. Meine Mutter ist fast greifbar geworden. Sie lebt. Wer ist sie?
»Deine Mutter wurde von den Besatzern verschleppt, sie war kaum älter als du jetzt. Frauen leiden in Kriegen oft am meisten. Wir Afghanen haben versagt, wir konnten sie nicht beschützen. Wir sind alle schuldig.« Murtazas Worte klingen stumpf, aber frei von Scham. »Ich wusste, dass sie am Leben war. Als mir klar wurde, was aus dir einmal werden würde, in dieser Welt, wusste ich, dass wir es dir sagen müssen. Ich hoffe, dass du uns das eines Tages verzeihen kannst, Sameer-jan. Dein Onkel will, dass du sie kennenlernst. Sie lebt in Amerika, in Los Angeles.« Murtazas Hände hängen in der Luft, als hätte er meine Mutter mit seinen Worten herbeigezaubert. »Deshalb wollte dein Onkel, dass du Englisch lernst. Er wollte, dass du mit ihr Englisch sprichst, wenn du sie dort besuchst.«
Alles scheint plötzlich verkehrt. Die Welt steht kopf.
»Ich bin so stolz auf dich, Sameer-jan.«
Die Neuigkeiten sind zu groß für diese kleine rote Kammer, in der Menschen auf Papier erscheinen wie Geister.
»Ich habe Uzma sehr bewundert, ich war wie verzaubert von ihr. Sie forderte jeden heraus, sogar die Lehrer, die sie mit wenigen Worten besiegte. Dein Onkel wollte sie immer beschützen.«
Hasir-sayb konnte meine Mutter nicht vor mir schützen. Er wünscht sich sicher, dass es mich nicht gäbe.
Ich bin überglücklich, dass sie nicht sterben musste wegen mir. Aber dem Glück ist nicht zu trauen, es scheint wie gestohlen. Die unergründlichen Augen meiner Mutter, Uzma, beobachten mich von der Leine aus. Ein Tropfen bebt am unteren Rand des Fotos.
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