Kitabı oku: «Oder sind es Sterne», sayfa 4

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SAMEER
KABUL

SEIT DER ONKEL DA WAR, ist das Leben etwas erträglicher geworden. Sogar Irfahn lässt mich in Ruhe, aber ich mache mir wenig Hoffnung, dass es so bleibt. Die zerschlissene Augenklappe trage ich weiter, als Talisman gegen die Schikanen, obwohl das Auge längst verheilt ist.

Vor dem Morgengebet schleiche ich in die Küche und stehle ein paar Scheine aus der Blechdose des Kochs, gerade genug für eine Busfahrt nach Herat und etwas zu essen. Auf der verknitterten Landkarte, die ich hinter dem Markt gefunden habe, sind nur wenige Straßen eingezeichnet, die in den Iran führen. Ohne Papiere werde ich nachts über die Grenze schleichen müssen. Inshallah werde ich bis Paris kommen. Ich werde dem Onkel danken, ihn aber nicht belästigen.

Ich habe mir gerade ein Fladenbrot unters Hemd gesteckt, als der Mullah mir auf die Schulter tippt. »Behrooz kommt dich gleich abholen«, sagt er und tut so, als hätte er das Brot nicht gesehen. »Heute beginnt dein Englischunterricht mit Agha Murtaza Sabari.«

Mullah Usmeen möchte, dass ich meine neuen Kleider anziehe. Ich frage erst gar nicht, ob dieser Agha Murtaza ein Talib ist. Der Mullah merkt aber, was mir auf dem Herzen liegt. »Die Sabaris waren eine gute Familie, die früher ein Fotostudio betrieben. Murtazas Großvater war der beliebteste Muezzin Kabuls. Sie nannten ihn die Nachtigall der Pul-e-Khishti-Moschee. Murtaza hat einmal in England gelebt und spricht Englisch wie seine Muttersprache. Sameerjan, du darfst niemandem von der wahren Natur dieses Unterrichts erzählen. Wir müssen vorsichtig sein.«

Ich gebe ihm mein Wort. Das Wort eines Diebes, dessen Taschen mit fremdem Geld gefüllt sind. Ich muss verschwinden, bevor mir im Ghazi-Stadion die Hände abgehackt werden.

Der Mullah schaut mich mahnend über seine knorrige Nase an. »Fotos und besonders Filme brodeln vor Verlockungen. Die Tänze der heißblütigen Sirenen verdrehen selbst den standhaftesten Gläubigen den Kopf. Die Melodien und Gesänge wecken verbotenes Verlangen. Nimm dich in Acht.«

Ich weiß, dass Tanz und Musik die Männer verführen, ich habe aber nie ganz verstanden, warum Fotos haram sind. Die Bilder singen doch nicht.

Als Irfahn von meinen vermeintlichen privaten Koranstudien er-fährt, lacht er sich kaputt. »Koranstudien! Das glaubst du doch selbst nicht. Habibi, Habiiiibiiieee!«, singt er und tanzt weibisch her um. »Du wirst tanzen lernen, Sameer! O Habbiiieebiee!« Die anderen Jungs machen mit. »Habibi, Habbiiieebiee!«

Für einen kurzen Augenblick dachte ich wirklich, ich würde Englisch lernen. Das ist natürlich Unsinn, Irfahn hat recht. Behrooz wird mich in die Berge fahren, und dort werden die Taliban unaussprechliche Dinge mit mir anstellen. Ich muss aus dem Auto flüchten, bevor wir Kabul verlassen. Jetzt bin ich froh, dass ich Geld gestohlen habe.

Alle drängeln sich um Behrooz’ Toyota. Irfahn zieht hämische Fratzen. Behrooz fährt los, und im Rückspiegel wird das Tor der Schule immer kleiner.

»Die Sabari Studios liegen im Osten Kabuls auf der Straße nach Jalalabad«, sagt Behrooz und manövriert den Wagen durch die Esel, Karren und Motorräder. Auf dem Dach eines überfüllten Busses vor uns sitzt ein Junge in meinem Alter. Er sieht so aus, als wäre er schon lange unterwegs. Da würde ich jetzt auch gerne sitzen.

Als wir von der Hauptstraße abbiegen, deutet Behrooz auf den Rück sitz. »Meine Tochter Elham kommt heute ausnahmsweise mit uns.«

Ein kleines Mädchen, höchstens zehn, taucht unter einer Wolldecke auf. Sie lehnt sich zwischen die Vordersitze, wirft sich ihren gelben Blümchenschal über die Schulter und verschränkt die Arme. Die Augenbrauen sind vor Wut zusammengezogen, ihr Blick fegt an mir vorbei durch die Windschutzscheibe, selbst ihr Haar scheint erzürnt. »Ich hasse es, hinten zu sitzen! Wenn mir schlecht wird, ist es deine Schuld, Sameer«, schimpft sie.

Ich überlege, was ich darauf sagen soll, aber Behrooz kommt mir zuvor. »Elham-joon, sei nett zu Sameer. Ich habe eine Überraschung für dich, mein Schatz. Du wirst es nicht bereuen, deinen Thron aufgegeben zu haben.« Behrooz hält vor einem Markt und steigt aus. »Ich komme gleich wieder.«

»Warum trägst du diese schwarze Klappe über dem Auge?«, fragt Elham.

»Ich bin hingefallen und habe mir wehgetan.«

»Damit siehst du irgendwie gefährlich aus«, sagt sie. »Aber die vielen Punkte in deinem Gesicht, die sind lustig. Hast du schon mal versucht, sie zu zählen?«

»Was soll ich zählen?«

»Die Punkte, Sameer-jan! Es sind so viele. Es gibt gar nicht genug Zahlen auf der Welt, um sie alle zu zählen. Leben sie unter der Augenklappe und kommen nur raus, wenn die Sonne scheint? Wie Ameisen?« Sie rückt näher und kneift die Augen zusammen.

»Sie waren schon immer da und bewegen sich nicht. Das sind Sommersprossen.«

Elham zuckt mit den Schultern. »Vielleicht verschwinden sie nachts, wenn du schläfst, ohne dass du es merkst. Kann ich sie anfassen?«

Ich weiche ihren Fingern aus.

»Bei Sternen ist es umgekehrt, die sieht man nur, wenn es dunkel wird. Sterne sind die Sommersprossen der Nacht.«

So habe ich es noch nie betrachtet.

»Siehst du, es stimmt! Mein Papa sagt, du wirst Englisch lernen.«

»Ja.«

»Warum?«

»Es ist Hasir-saybs Wille. Englisch ist die Sprache der Zukunft.«

»Warum lernst du nicht die Sprache der Franzosen?«

»Weiß nicht. Das hat der Onkel entschieden.«

»Warum wohnst du nicht bei deinem Onkel?«

»Weiß ich auch nicht.«

»Du weißt ja gar nichts, Sameer-jan. Lernt ihr nichts in der Schule?«

Elham scheinen die Fragen nie auszugehen.

Behrooz kommt zurück mit zwei kleinen Päckchen.

»Babba!« Elham strahlt.

Er gibt uns je ein Päckchen, das Papier ist überraschend kalt. Elham stupst mich an. »Das ist kulfi, das Leckerste, was es auf der ganzen Welt zu essen gibt.«

Sie faltet das Papier auseinander und bringt eine mit Pistazien verzierte Süßigkeit zum Vorschein. Sie hebt das Papier zum Mund und schleckt die Masse in die Form eines Berges.

Ich koste vorsichtig. Eiskaltes Süß zerfließt auf meiner Zunge, der Geschmack von würzigem Kardamom zieht sich durch eine milchige Creme und knusprige Pistazien knacken zwischen den Zähnen. Ich esse langsam, ich will, dass der kostbare Geschmack anhält. Vielleicht werde ich doch Englisch lernen. Vielleicht wird Allah mich doch eines Tages in der Luft halten wie ein Vogel.

»Wie ist das, wenn man keine Eltern hat, Sameer-jan?«, fragt Elham mit vollem Mund, kleine Milchblasen explodieren in ihren Mundwinkeln.

»Lass den Jungen in Ruhe sein Kulfi essen, Elham«, sagt Behrooz und wendet sich an mich. »Sie ist ein gutes Mädchen, aber sie weiß nicht, was sie redet. Keine Manieren.«

Ich habe keine Ahnung, warum sich Behrooz bei mir entschuldigt.

Für einen Moment widmet Elham sich ganz dem Genuss der gefrorenen Süßspeise. Als sie fertig ist, beugt sie sich wieder zwischen den Sitzen vor.

»Vielleicht ist Sameer froh, dass er keinen Papa hat, mit dem er die ganze Zeit streiten muss wie ich! Mama will auch wissen, wie das ist ohne Eltern. Hat sie gesagt!«

Behrooz wird Elham schelten für ihre Respektlosigkeit.

»Also, Babba, erklär mir das mal.« Elhams kulfiverschmiertes Gesicht kommt mir ganz nah.

»Sameer-jan ist traurig, weil er keinen Vater hat, der mit ihm zum Stand fährt und ihm Kulfi kauft«, sagt Behrooz.

Das leuchtet ein, aber ich kann mir nicht erlauben, Partei zu ergreifen.

»Sameer braucht keinen Vater. Er hat einen reichen Onkel. Hat Mama gesagt! Und jedes Mal, wenn du ihn zum Englischlehrer fährst, wirst du ihm Kulfi kaufen. Das ist Logik, hast du mir beigebracht.«

»Das ist eine Betrachtungsweise, aber bei Weitem nicht die einzige, mein Schatz.«

Elham bemerkt, dass auf dem Papier in meiner Hand nur noch eine kleine Pfütze übrig ist. »Was ist denn los, Sameer? Magst du dein Kulfi nicht? Es ist ja schon geschmolzen.«

»Ich mag es sogar sehr, aber du magst es, glaube ich, noch viel lieber, Elham-joon. Möchtest du den Rest haben?«

Nach kurzem Zögern nimmt Elham das Angebot mit gespitz-ten Lippen an, saugt das zerflossene Eis auf und leckt das Papier sauber.

Behrooz schüttelt den Kopf. »Ich glaube, du hast recht, Elham. Ich glaube, Sameer ist ganz froh, dass ich nicht sein Vater bin. Das würde nämlich heißen, dass er jemanden wie dich als Schwester hätte. Eine gierige Person, die nur an sich selbst denkt und ihrem Bruder alles wegnimmt«, sagt Behrooz und hebt den Finger. »Du hast mich schon verstanden, Elham, du bist ein freches, gieriges Mädchen!«

Elham kichert erst, ihre Augen funkeln, und dann lacht sie von ganzem Herzen. Ich hoffe, dass sie über mich lacht, nicht über Behrooz, und dass er das weiß. Das Lachen kommt tief aus dem Inneren, sie schüttelt sich, und ihre Haare tanzen. Erst als sie keuchend Luft holt, merke ich, dass ich die ganze Zeit mitgelacht habe.

Das Gerüst eines ehemaligen Firmenschildes steht wie ein Skelett auf dem Gebäude, die Schaufenster sind mit Brettern vernagelt. Das ist also das Sabari Studio. Es existiert wirklich.

Als Murtaza Sabari an der vergitterten Tür erscheint, erkenne ich ihn sofort wieder. Er ist ein vornehmer Mann, er hinkt kaum merklich, seine Prothese klickt beim Gehen unter den feinen Kleidern. Einmal hat er uns in der Schule fotografiert. Alle waren ganz aufgeregt, aber am Ende bekamen wir das Foto nie zu sehen. Als Irfahn danach fragte, tat Mullah Usmeen so, als hätte er es sich eingebildet, für einen Moment war ich mir selbst nicht mehr sicher.

»Salaam!« Murtaza lispelt. Seine Augen blitzen vor Neugierde, Falten schießen aus den Winkeln. Er bittet uns herein und tauscht mit Behrooz Höflichkeiten aus.

Drinnen prangt die Panoramaaufnahme einer Wüstenlandschaft an der Wand. Elham reckt sich zu dem Kamel hinauf, dessen Kiefer zu einem schiefen Grinsen verzogen ist. Sie streicht über das Foto. »Ich will auf einem Kamel reiten! Dein Onkel ist so reich, Sameer, er soll dir eins kaufen. Aber warum wohnst du in einem Waisenhaus wie ein Bettler?«

»Sprich nicht so, Elham-joon«, warnt Behrooz. »Wir fahren jetzt.«

»Warum kann ich nicht mit Sameer Englisch lernen? Ich will auch Englisch lernen. Babba!«

Behrooz zerrt sie nach draußen. Er verspricht, mich in ein paar Stunden abzuholen.

»Beeindruckendes Mädchen«, sagt Murtaza, als er das Tor hinter ihnen schließt. »Bald wird auch sie die Welt nur noch durch ein Gitter aus blauem Nylon sehen dürfen.« Er lässt sich auf einem Polster nieder, enthüllt eine Beinprothese aus Metall und schenkt mir Tee ein, als sei ich ein ehrenwerter Gast. »Mir hat ein trauriges Schicksal die englische Sprache geschenkt, aber es hat mein Leben verändert auf eine Weise, die ich mir nie hätte erträumen können. Sprachen lassen einen die Welt entdecken, noch tiefgreifender als Bilder. Das Beste an Sprache ist, dass sie nicht greifbar ist, sondern in den Gedanken ein abstraktes Eigenleben entwickelt.«

Was meint er wohl damit? Ich frage lieber nicht, ich möchte, dass Murtaza Sabari gut über mich denkt.

»Abstrakt ist alles, was du nicht mit den Händen anfassen kannst, das Gegenteil von greifbar oder konkret. Diese Tasse oder mein Bein zum Beispiel sind greifbar. Furcht oder unser Glaube dagegen sind abstrakt. Trotzdem kann Abstraktes in unseren Gedanken sehr real sein, manchmal sogar realer als diese Beinprothese hier.«

Murtaza sieht mir meine abstrakten, unreinen Gedanken sicher an. Sie werden ihm preisgeben, dass ich gestohlenes Geld in den Taschen habe, dass ich weglaufen will und mehr Schande über den Onkel bringen werde.

»Sameer-jan, was ist los? Du zitterst ja.«

Meine Gedanken lassen sich nicht kontrollieren, sie galoppieren davon.

»Sieh mich an, Sameer-jan!«

»Vergeben Sie mir, Agha Murtaza. Meine Gedanken sind unrein.«

»Sameer-jan! Ich kann sie doch nicht lesen und will es auch gar nicht. Ich bin mit meinen eigenen beschäftigt. Die sind übrigens auch meistens sehr unrein«, sagt er amüsiert. »Allah hilft uns, sie zu organisieren. Er vergibt uns. Auch Allah ist abstrakt. Meine Mutter sagte immer: Allah, vergib mir, wenn ich Dich im Glück vergesse und nur an Dich denke, wenn ich traurig bin.«

Aus Murtazas Mund klingt Tugendhaftigkeit so einfach, wie ein Spiel.

»Weißt du, was das Beste an abstrakten Gedanken ist?«

Mir fällt nichts dazu ein. Ich kann ja nicht einmal die Fragen eines kleinen Mädchens beantworten.

»Das Beste daran ist, dass sie dir niemand wegnehmen kann.«

Wer würde schon die Gedanken eines Bastards wollen?

»Ich werde dir die traurige Geschichte des Sabari Studios erzählen.« Murtaza deutet auf eine Schwarz-Weiß-Aufnahme des Gebäudes an der Wand. »So sah das hier vor der Besatzung aus, bevor eine sowjetische Bombe auf das Haus fiel und den meisten von uns das Leben kostete. Ich verdanke mein Leben der Großzügigkeit der Familie deines Onkels und diesem Kamerastativ da. Es widerstand dem Gewicht des zusammenbrechenden Gebäudes. Nur mein linkes Bein wurde zerquetscht.« Murtaza massiert sein metallenes Bein, als sei es aus Fleisch und Blut. »Die Sabaris waren nie die Frommsten. Meinem Vater waren die bunten Bilder des National Geographic wichtiger als der Koran. Mein Großvater aber war immerhin ein angesehener Muezzin. In jener Nacht, als die Sowjets angriffen, rief er auf dem Minarett zum Gebet. Er erzählte mir, dass die Flugzeuge so nah vorbeiflogen, dass er den Piloten in die grünen Augen sehen konnte, die leuchteten wie Jade.«

Das ist das erste Mal, dass jemand von meiner Augenfarbe so spricht.

»Mein Großvater floh aus der Moschee und fand unser Haus in Schutt und Asche. Mit bloßen Händen grub er durch das Geröll und zog nach und nach unsere leblosen Körper heraus. Ich kann mich kaum erinnern, ich war entrückt vom Fieber. Meine Schwester erzählte Geschichten von den fernen Orten, die wir in Vaters Magazinen gesehen hatten. Die Schweiz, der Kilimandscharo, Hollywood. Als sie verstummte, verließen auch mich die Kräfte.« Murtazas Augen wandern über das Foto an der Wand. »Ich wurde nach London geflogen. Mein Großvater baute das Studio wieder auf, allein. Es gelang ihm, einige Landschaftsaufnahmen und Studioporträts zu retten. Die Negative unserer Kunden blieben unversehrt im Lager.«

Ich weiß nicht einmal, was Negative sind.

»Jahre später, als die Taliban meinen Großvater zwangen, sein Geschäft zu schließen, zündete er einen ganzen Stapel Abzüge auf der Straße an. Er behauptete, das sei alles, was von den Fotografien noch übrig war. Die Bärtigen hatten keine Ahnung von unserem Archiv, das eine ganze Gesellschaftschronik Afghanistans umfasste.«

Ich versuche, mir mein Unwissen nicht anmerken zu lassen.

»Die Ignoranz der Taliban war unser großes Glück. Mein Großvater starb kurz nach meiner Rückkehr aus London. Es schien, als habe er nur auf mich gewartet. Das Minarett blieb eine Woche lang stumm, bis sie Ersatz für ihn fanden. Viele Kabulis beschwerten sich über den neuen Muezzin. Er klang wie eine sterbende Katze.« Murtaza grinst verschlagen.

Dann holt er ein abgegriffenes Schulbuch mit fremden Buchstaben und bunten Bildern hervor. Das Englischbuch. Menschen aus der ganzen Welt sind darin abgebildet, sogar ein Mädchen mit Sommersprossen und rotem Haar. Viele Gebäude, aber keine einzige Moschee. Ich lerne ein paar fremd klingende Worte, bei manchen muss man die Zunge zwischen die Zähne stecken. Schon kann ich einen Satz sagen und dann noch einen: »Mein Name ist Sameer. Ich bin dreizehn Jahre alt und komme aus Kabul.«

Die Sonne ist längst untergegangen, als Behrooz mich abholt. Diesmal ist er allein. Auf der Rückfahrt wird mir ganz schwindlig von den vielen Eindrücken, Bildern und Worten. Der Toyota schaukelt mich schläfrig, bis der grelle Schein einer Taschenlampe mich jäh weckt.

»Wem gehört der?«, bellt der Mann an der Straßensperre und deutet mit dem Gewehrlauf durchs Fenster.

»Er arbeitet im Haus«, sagt Behrooz beiläufig. »Eine Waise aus dem Norden.«

In Behrooz’ Nähe fühle ich mich einigermaßen sicher. Er ist ein Gläubiger, der bereits gepilgert ist, das sieht der Talib auch und winkt den Wagen durch.

»Primitivlinge!«, schimpft Behrooz.

LEUTNANT RYDER
NEW MEXICO

DIE HERUNTERGEKOMMENE RANCH liegt verlassen in der Prärie New Mexicos. Nichts verrät, dass sich hier das Trainingslager einer Eliteeinheit verbirgt. Ein überwucherter Mähdrescher und eine wackelige Windturbine ragen in das Brachland. Insekten surren, die Luft riecht faulig.

Als Ryder und Kellogg wortlos aus dem Wagen steigen, taucht ein schmächtiger Mann in eng anliegendem roten Samtanzug auf und begrüßt die beiden enthusiastisch. »Willkommen! Ich bin Sakchin, euer Coach, Manager, Ernährungsberater, Trainer, alles in einem.« Er spricht mit indischem Akzent, seine Augen leuchten neugierig über dem wilden Bart, das Hemd ist bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, die Haare fallen bis auf die Schultern. Auf der knochigen Brust baumelt ein Amulett mit dem Schwarz-Weiß-Porträt eines bärtigen Weihnachtsmannes. »Seht euch um, bis die anderen kommen. Haviland baut in der Scheune die Schlafplätze auf, er kann ein paar helfende Hände brauchen.«

Kellogg bedient den quietschenden Pumphebel eines altertümlichen Brunnens. »Wann ist Appell, Sir?«

Sakchin schmunzelt. »Heute Abend gibt es ein großes Lagerfeuer, da werden wir uns alle kennenlernen.«

Kellogg sieht Ryder fragend an.

In der Scheune treffen sie auf ein Muskelpaket im Unterhemd, auf dessen Schulter ein Tattoo prangt: Alle haben etwas gegeben, manche haben alles gegeben. Er stellt sich mit überraschend sanfter Stimme als Haviland vor. »Ihr seid die Joker aus San Diego«, sagt er kryptisch und gibt ihnen Matten und Baumwolllaken.

Nach und nach finden sich fast zwanzig Soldaten ein, die wie zufällig aus Army, Luftwaffe, Marines und Küstenwache zusammengewürfelt scheinen. Kellogg und Ryder sind die einzigen Marines.

Jamie, ein schlaksiger Bastler, installiert bedächtig Moskitonetze im Raum. »Soll fiese Insekten hier geben, kenn ich aus der Karibik. Ich hab vorsichtshalber Netze für alle gekauft.«

Der gut aussehende Anwar mit scharfen, dunklen Zügen strahlt Kellogg an. »Du musst Kellogg Shaikh sein«, sagt er. Selbst seine Zähne sind perfekt. »Ich bin der andere Mossie, meine Großeltern stammen aus Ägypten.«

Santiago Morales, eher klein und bullig, entdeckt beim Auspacken einen Skorpion am Boden. Das Tier hebt seinen Stachel. Morales tritt genüsslich drauf, es knirscht unter seinem Stiefel.

»War das nötig?« Haviland verzieht das Gesicht. »Das war ein Geißelskorpion, genau genommen eine ungiftige Spinne.«

»Auf die Viecher kann ich verzichten.« Morales bekreuzigt sich. »Ich gehe keine Risiken ein. Weder für mich noch für einen von euch.«

Ein nervöser Typ im Overall und mit randloser Brille räuspert sich. Er wendet sich Morales in einer seltsamen Sprache zu. Der antwortet auf Englisch. »Nicht schlecht, hast dir den Namen Zulu verdient. Den Dialekt sprechen höchstens noch ein paar Tausend von uns.« Fragt sich nur, was er damit in New Mexico anfangen soll, denkt Ryder.

Brook ist schon etwas älter, er hat ein riesiges, himbeerfarbenes Feuermal im Gesicht. Er war bei der Navy und ist später mit dem Geheimdienst auf der Welt herumgekommen. »Spezialgebiet Charakterstudien.« Er mustert Ryder. »Du bist das Ass der Aztecs.« Ryder und er stoßen die Fäuste gegeneinander.

»Respekt, Mann«, sagt der einzige Schwarze im Raum.

»Das ist Tyrone, ein legendärer Scharfschütze«, ergänzt Brook mit einem entwaffnenden Grinsen, das sein Feuermal zum Leuchten bringt. »Ich sehe schon, das wird ein Spaß mit euch.«

Als der General abends vor dem offenen Feuer aufmarschiert, wird nicht einmal salutiert. Alle sitzen entspannt auf dem Boden herum.

»Unsere Spezialeinheit hat den Codenamen Drishti. Weiß je-mand, was das Wort bedeutet, Drishti?«, fragt der General.

Ryder spielt Kopf-Bingo und lässt die einzelnen Buchstaben in Gedanken wie auf einer Anzeigetafel flattern.

Shritid. Thrisid. Ithrisd.

Ihm fällt nichts Brauchbares ein. Es muss eine Abkürzung sein.

Der General zeigt auf ihn. »Was meinen Sie, Ryder? Drishti?«

Ryder spürt, wie er rot wird.

»In Ihnen rattert es doch, Leutnant. Spucken Sie’s aus!«

Ryder steht auf. »Sir, ich glaube es ist ein Akronym.«

»Interessant. Wofür sollen die Buchstaben stehen?«

»Akronym?«, flüstert Kellogg von unten herauf und kitzelt ihn mit einem Strohhalm an der Wade. Ryder stampft auf, aber das Kitzeln wird stärker. Er wird sich mit dem Akronym lächerlich machen. »Sir, Drishti steht für Delegation radikal intelligenter Soldaten mit hervorragendem und totalem Insiderwissen.« Ryder hat es ausgesprochen. Laut. Er kann es nicht mehr zurücknehmen.

Der General nimmt ihn mit seinem stählernen Blick auseinander. »Delegation intelligenter Soldaten mit hervorragendem was, bitte?«

»Delegation radikal intelligenter Soldaten mit hervorragendem und totalem Insiderwissen, Sir.«

Der General klatscht. »Falsch, aber genial.«

Ein Raunen geht durch die Gruppe, Santiago pfeift anerkennend. Anwar grinst Ryder mit seinen perfekten Zähnen an, und Ryder erschrickt, als Zulu ihm auf die Schulter klopft. »Drishti ist kein Akronym. Es ist ein Wort aus dem Sanskrit.«

»Korrekt, Zulu.« Der General deutet zwischen seine Augen. »Es bedeutet so viel wie drittes oder allsehendes Auge. Sie werden hier lernen, Ihre Wahrnehmung zu schärfen. Drishti ist ein völlig neues Militär-Programm, ein Labor, ein Thinktank. Wir experimentieren mit neuen, innovativen Techniken psychologischer Kriegsführung. Seit dem Ende des Kalten Kriegs haben wir es mit einem neuen Feind zu tun, Terrorismus. Terrorvereinigungen wie Al-Qaida arbeiten in dezentralisierten Splittergruppen, die zu einem Netzwerk gehören. Was hält sie zusammen?«

Keiner antwortet. Brook meldet sich gelangweilt, aber der General übergeht ihn.

»Morales, was hält diese Kämpfer zusammen?«

Morales steht langsam auf und sieht sich um. »Ein starker Anführer?«

»Genauer, Morales! Wer ist dieser Anführer? Wie heißt er?«

»Es ist keine Person, keine richtige.« Morales faltet die Hände zum Gebet und blickt nach oben. »Es ist Gott. Ihr Gott, Allah.«

»Korrekt, Morales. Moderne Terrorgruppen kann man nicht an ihrer Arbeitsweise erkennen. Moderner Terror definiert sich über eine Art zu denken, über den Glauben an etwas. Wir werden hier versuchen, uns in andere hineinzudenken. Dazu müssen wir zuerst uns selbst verstehen lernen. Sakchin wird Ihnen dabei helfen.«

Am nächsten Tag werden die Arbeitsaufgaben der Kommune, wie Sakchin es nennt, verteilt. Ryder wird beauftragt, abends das Lagerfeuer in Gang zu bringen. Brook zaubert im Dämmerlicht VHS-Kassetten, einen Videorekorder und einen alten Fernseher hervor. »Ich hab ein paar alte Lehrfilmchen aus dem CIA-Archiv hier«, sagt er verschmitzt. »Eher alte Schule.«

Auf der Ranch gibt es kaum Elektrizität, nur das wenige, was die alte Windmühle generiert. Jamie bringt das improvisierte Kino mit einer Autobatterie in Gang.

Der General stellt sich vor den Monitor. »Was Sie hier sehen werden, ist das genaue Gegenteil von dem, wie wir arbeiten wollen. Damals verließ man sich auf technische Geräte. Geheimagenten, die im Auftrag ihrer Regierungen die Welt unsicher machen. Aber sowas überlassen wir dem CIA. Wir suchen nach Glaubenskriegern, nach Männern, die ihren Kampf spirituell verstehen, die ihr Leben dafür lassen würden, unabhängig von ihrer Nation. Uns interessieren flexible Splittergruppen von Jakarta bis Algier. Wir haben es mit einem Vexierbild zu tun. Amüsieren Sie sich.«

In den unfreiwillig unterhaltsamen Filmen werden alte Geheimdienstmanöver nachgestellt. Männer in Hawaiihemden, das Mikrofon in der verspiegelten Pilotenbrille versteckt, flanieren durch tropische Parkanlagen und flüstern sich hinter Eiskugeln Geheimcodes zu. Verführerische Agenten-Fräuleins lassen vergiftete Maraschino-Kirschen in feindliche Cocktails plumpsen. Baupläne von Nuklearsprengköpfen werden mit Spionkameras abgelichtet, Tresortüren in die Luft gesprengt, Wolgas jagen durch einsame Schneelandschaften.

»Diese Bilder erinnern mich an etwas«, sagt der General, als die Show vorüber ist, »an etwas, an das ich mich gar nicht erinnern kann. Hollywood und die Medienberichterstattung haben so viel von dem geprägt, was wir zu wissen glauben. Unser Ziel ist es, diese Vorstellungen, dieses kollektive Bewusstsein gezielt wieder zu verlernen. Die Bilder haben riesige tote Winkel in unseren Köpfen produziert, welche die Terrororganisationen ausnutzen. Ich glaube sogar, dass die Extremisten uns etwas voraushaben mit ihrem Bilderverbot. Die Bilderflut des westlichen Kapitalismus hat uns blind gemacht. Ich sehe das gerade ganz deutlich.« Der General starrt mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. »Wir müssen anders sehen lernen, damit wir Attentate im Vorfeld stoppen können. Hellseherisch. Mit unserem dritten Auge.«

Als die Drishtis später in ihren Laken in der Scheune liegen, fragt Kellogg vorsichtig ins Dunkel: »Wie ernst meint der General das eigentlich mit dem Hellsehen?«

Jamie setzt sich auf. »Wenn der General so begeistert vom Bilderverbot ist, warum trägt dann Sakchin das Porträt von diesem indischen Sektenführer um den Hals? Das ist doch Idolatrie.«

»Ehemaliger Sektenführer. Osho hieß der, ist inzwischen tot«, sagt Haviland. »Hatte in Oregon eine Sex-Kommune aufgezogen. Rajneeshpuram. Ich bin ein paar Meilen weiter nördlich aufgewachsen.«

Ryder wird hellhörig. »Sex-Kommune? Wie bei den Mansons?«

»Auch durchgeknallt, aber anders«, sagt Haviland. »Wir sind oft mit dem Moped nach Antelope gefahren, nur um uns diese Irren in ihren roten Roben anzuschauen. Dort habe ich auch den General zum ersten Mal gesehen.«

»Im Ernst?« Auch Tyrone wird aufmerksam.

Ryder knipst seine Taschenlampe an und leuchtet Haviland damit ins Gesicht. »Du wusstest das und bist trotzdem hierhergekommen?«

»Der General weiß, dass ich es weiß. Er weiß auch, dass ich weiß, dass er weiß, dass ich von Rajneeshpuram weiß. Ich dachte, ich sehe mir das mit meinen eigenen drei Augen an.«

»Sie haben ihn deswegen beim Militär nicht rausgeschmissen?«, fragt Zulu ungläubig.

»Im Gegenteil«, sagt Haviland. »Sie haben ihn ins Stargate-Projekt aufgenommen und sich dort von Oshos Ideen inspirieren lassen.«

»Was ist denn Stargate?«, fragt Kellogg.

»Ein progressives Militärprojekt der Siebziger- und Achtzigerjahre«, sagt Brook und malt jetzt mit seinem Lampenschein Kreise an die Scheunendecke, »bei dem New-Age-Techniken zur psychologischen Kriegsführung eingesetzt wurden. Hypnose, Fernwahrnehmung, Hellsehen. Alles schön vom Senat bewilligt. Da muss verrücktes Zeug passiert sein. Die Stargate-Typen haben angeblich Ziegen hypnotisiert, bis sie umgekippt sind. Herzstillstand.«

Ryder beißt sich in die Wange, plötzlich unsicher, auf was er sich mit Drishti eingelassen hat.

»Ein paar Marines haben bei Stargate immerhin versucht, mit neuen Trainingsmethoden zu arbeiten und anders an die verkrusteten Feindbilder heranzugehen«, sagt Brook. »Beim CIA sind wir wirklich zu lange dem verstaubten Hollywood-Drehbuch gefolgt. Ich hab noch in Schlaghosen sowjetische Atomwissenschaftler zum Überlaufen gebracht. Plötzlich war der Kalte Krieg vorbei. Unter Clinton wurde ich nach Tansania versetzt, es sollte ein langweiliger Strafposten werden. Als in Daressalam dann die Botschaft in die Luft flog, saß ich in einer Hotelbar bei meinem zweiten Manhattan. Es war halb elf am Vormittag. Al-Qaida hat uns kalt erwischt. Wir wussten gar nicht, nach wem wir suchen sollten, weil von den meisten Leuten keine Fotos existieren.«

»An dem toten Winkel ist schon etwas dran«, sagt Anwar. »Der Islam ist kaum in Bildern kanonisiert, wir haben unseren Glauben ganz anders verinnerlicht. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke, aber bei uns entwickelt jeder seine eigene Vorstellung, ganz individuell. Deshalb sind wir, was den Glauben anbetrifft, vielleicht nicht so leicht manipulierbar. Was meinst du, Kellogg?«

»Oder genau umgekehrt«, sagt der, »leichter manipulierbar? Beides?«

»Jedenfalls verausgabt sich der Westen beim Schattenboxen.« Zulu stößt ein paar Fäuste in Ryders Lichtkegel.

»Ich glaube, der General will es noch einmal wissen, bevor er pensioniert wird«, sagt Haviland. »Er will den Leuten im Pentagon et was beweisen. Drishti ist sein letzter Versuch, Geschichte zu schreiben.«

»Wenn die uns mit Ziegen oder sonstigem Tierzeugs kommen, bin ich raus.« Morales zieht sich das Laken über den Kopf. »Und jetzt haltet endlich das Maul.«

Das Kommunenleben auf der Ranch, Sakchins sonderbares Trai-ningsprogramm und sein Hippie-Vokabular sind gewöhnungsbe-dürftig, aber im Prinzip harmlos.

Sakchin spricht viel von Bescheidenheit und Selbstlosigkeit. Das Ego sei der größte Feind einer erfolgreichen Organisation, Einsicht in die eigenen Schwächen fundamental. Menschen hätten bei Drishti einen viel höheren Stellenwert als Maschinen, geistige Stärke sei wichtiger als körperliche, unreflektiertes Gruppendenken bedeute den Tod. Er wird ihnen das Denken neu beibringen, sie von Konventionen und Vorurteilen befreien.

Atmen ist Sakchins Lieblingsthema. Schöner, besser, lauter, gleichmäßiger atmen! Atmen wie die Brandung des Ozeans. Atmen und meditieren, an nichts denken oder, besser noch, überhaupt nicht denken. Ryder machen das Nichtstun und Nichtsdenken nervös. Außerdem nörgelt Sakchin ständig an seinem Körper herum. Er behauptet, die Muskelmasse würde ihn schwerfällig machen. Es hat Ryder Jahre gekostet, seinen Panzer aufzubauen. Laut Sakchins blumiger Doktrin bräuchten Drishtis die Ausdauer eines Kamels, die Geschwindigkeit einer Gazelle und die Flexibilität einer Schlange.

Zum Abnehmen scheucht der General ihn im Morgengrauen raus, für ein paar Meilen sogenannter bewegter Meditation, während die anderen noch gemütlich in der Scheune träumen. Bei einem dieser Läufe beobachtet Ryder, wie Anwar und Kellogg gemeinsam ihre Gebetsteppiche aufrollen, lachend. Sie sehen ihn nicht.

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