Kitabı oku: «Mühlviertler Kreuz», sayfa 2
2. KAPITEL
»Ich kann nicht mehr«, japste Chefinspektor Oskar Stern und schnappte nach Luft. Die paar Kilo zu viel um Bauch und Hüfte machten sich gehörig bemerkbar. Er blieb stehen und tat, als schaute er sich die Umgebung an. Derweilen brauchte er die Pause, um mal durchzuschnaufen.
Das Mühlviertel breitete sich sanft hügelig vor ihnen aus. Die saftigen Wiesen waren mit einem sonnengelben Schimmer überzogen, da unzählige Löwenzähne ihre Köpfe gen Himmel reckten. Die Wälder waren frisch und dunkelgrün, und das Summen von Millionen Insekten umrahmte die Natur wie ein Orchester. Stimmt schon, der Ausblick war berauschend, und seit sie in Pierbach losgegangen waren, hatten sie schon mehrere davon genießen dürfen.
Aber musste Weber dermaßen rennen?
Stern fühlte sich dadurch gehetzt, gedrängt, als gäbe es kein Morgen. Wenn sie weiterhin so liefen, konnte es gut sein, dass er bei dieser Schinderei einen Herzinfarkt erlitt, und zwar mitten auf dem Weg.
»Wir sind doch erst fünf Kilometer gegangen«, warf Dominik Weber ein, und Stern fragte sich, woher der Gerichtsmediziner das überhaupt wissen wollte. Sterns Beine und Fußsohlen schmerzten nämlich, als wären sie schon das Dreifache der Strecke gewandert, ganz zu schweigen von seinen kneifenden Zehen, die sich bei jedem seiner Schritte wie ausgepresste Zitronen anfühlten.
In Webers Rucksack – und an seinem Körper – war mehr technisches Equipment angebracht, als es im ganzen LKA gab, was gleichzeitig Sterns Frage beantwortete. Irgendetwas von GPS und ähnlichem Kram hatte Weber zu Beginn ihrer Wanderung gefaselt. Da hatte Stern aber nicht zugehört, sondern tatsächlich die Landschaft genossen. Dazu brauchte er kein GPS – und ebenfalls keine Kamera wie manche Leute, die vor lauter Fotoschießen die reale Welt nur noch über das Display ihres Handys oder durch den Sucher eines Fotoapparates kannten.
»Mir kommt es vor, als wären wir seit Stunden unterwegs«, sagte er.
»Sind wir auch, aber nur, weil du so dahinschneckst«, stichelte Weber und machte gleichzeitig Fotos von der Umgebung.
»Wenn ich dir zu langsam bin, brechen wir halt ab. Ich muss den Johannesweg nicht gehen«, witterte Stern seine Chance, den verlorenen Wetteinsatz vielleicht doch nicht einlösen zu müssen. Beim letzten Mordfall hatte Dominik Weber bei einer Leiche den Alkoholgehalt im Blut über zwei Promille geschätzt, ohne technische Hilfsmittel, nur durch die Ausdünstungen des Toten, und er hatte recht behalten. Stern hatte nicht weiter darüber nachgedacht und in die Wette eingewilligt, die ihm Weber vorgeschlagen hatte. Hätte er damals gewusst, dass der Johannesweg, der quer durchs hügelige Mühlviertel führte, ganze 84 Kilometer lang war, hätte er natürlich nicht derart leichtfertig zugestimmt.
»Aber geh, das passt schon. Hab ich halt ein bisschen mehr Zeit zum Fotografieren und Erholen«, machte Weber einen Strich durch Sterns Rechnung.
»Wie weit ist es denn noch?«, fragte der Chefinspektor.
»Du meinst die heutige Etappe?«
»Bis zur ersten Pause.«
»Die machen wir doch gerade.« Weber nahm einen Schluck Wasser aus seiner Trinkflasche.
»Und wie viele Kilometer müssen wir heute noch zurücklegen?«
»Ich würde sagen: neun. Mit deiner Kondition schaffen wir eh nicht mehr. Und dann sind wir in Schönau im Mühlkreis und suchen uns eine nette Bleibe.«
»Und etwas zum Essen wäre gut«, ergänzte Stern, denn das Frühstück lag bereits eine Weile zurück. Weber hatte ihn heute Morgen schon früh von zu Hause abgeholt. Der Gerichtsmediziner war voller Tatendrang gewesen und hatte nicht bis nach dem Mittagessen warten wollen. Außerdem hatte der Wetterbericht für die kommenden Tage durchgehend Sonnenschein und angenehme 22 Grad angekündigt – das perfekte Wanderwetter!
Anfang Mai blühten die Frühlingsblumen mit den Obstbäumen um die Wette, überall summte es, Bienen sammelten eifrig Nektar von den Blüten, die einen süßlichen Duft verströmten. Eine wunderbare Kulisse, um die Seele baumeln zu lassen und Abstand zu gewinnen zu einem Alltag, der manchmal ziemlich nervtötend und belastend war, das musste Stern zugeben. Er setzte sich auf eine Bank, die am Wegrand für Wanderer aufgestellt war und zum Rasten einlud, und streckte die Beine aus.
Mitten in diese Idylle hinein läutete sein Handy.
»Bitte nicht«, seufzte Weber, der Böses ahnte. »Warum hast du es nicht ausgeschaltet?«
»Weil ich erreichbar sein will, wenn etwas ist.« Stern kramte in dem Rucksack nach dem Smartphone.
»Wenn etwas ist? Es ist immer etwas, Oskar«, maulte Weber.
»Ich meine, mit Barbara oder den Kindern«, antwortete Stern, immer noch nach dem Handy suchend. Mittlerweile lag schon der halbe Rucksackinhalt auf der Bank. Unvermittelt verstummte das nervige Klingelgeräusch.
»Ah, es hat aufgehört.« Weber zeigte sich erleichtert. »Wird schon nicht so wichtig gewesen sein, und wenn doch, versucht der Anrufer es bestimmt später wieder. Komm, räum das Zeug ein und lass uns weitergehen.« Weber klopfte sich energiegeladen auf die Oberschenkel. Das Wandern bereitete ihm Freude. Er war schlank und drahtig und seine Waden waren stramm und muskulös. Seine ganze Erscheinung deutete darauf hin, dass er öfter zu Fuß unterwegs war.
Sterns Handy klingelte erneut.
»Dann ist es wohl wirklich wichtig«, brummte der Chefinspektor und holte das lärmende Gerät von weit unten aus dem Rucksack heraus. Ein Blick auf das Display verriet ihm, dass ihn der Dienststellenleiter erreichen wollte. Da musste er rangehen, ob es Weber passte oder nicht.
»Stern«, meldete er sich.
»Stern, Sie haben einen neuen Fall!«, teilte Bormann ihm ohne Umschweife mit.
»Einen neuen Fall?«, wiederholte Stern laut, damit Weber es mitbekam. Der ließ auch gleich enttäuscht die Schultern hängen.
»In Reichenstein, und zwar auf der Burgruine. Die örtlichen Kollegen haben uns verständigt, dass sie nicht sicher sind, ob es sich um einen Unfall oder einen Mord handelt, deshalb fahren Sie dorthin. Und bringen Sie Weber mit, Stern. Der ist doch bei Ihnen, oder? Ich hab gehört, dass Sie beide zusammen im Mühlviertel wandern sind.«
»Ich richte es ihm aus«, antwortete Stern diensteifrig. Etwas Besseres als ein neuer Fall konnte ihm im Augenblick nicht passieren. Denn jetzt durfte er die drückenden Wanderschuhe gegen seine weichen Kalbslederschuhe eintauschen. Seine Füße würden es ihm danken, und sein geschundener Körper erst recht.
»Ach, eine Sache noch«, sagte Bormann. »Die Kollegen von der örtlichen Polizei haben etwas von einem Kreuz, das wie ein Engel aussieht, gesagt …«
»Bitte was?« Stern war sich nicht sicher, ob er den Dienstellenleiter richtig verstanden hatte. Die Verbindung war nicht die beste und in der Leitung knackte und rauschte es.
»Die Leiche soll wie ein Kreuz im Engelsgewand aussehen, Stern. Es verbreitet sich schon in den sozialen Netzwerken. Irgend so ein Scherzkeks hat die Tote fotografiert und das Foto ins Internet gestellt.«
»Und wie bitte kommt man von einer Leiche auf ein Kreuz, das wie ein Engel aussieht? Was soll das überhaupt sein?«, fragte Stern konsterniert.
»Am besten, Sie schauen sich das an. Sie brauchen nur ›Mühlviertler Kreuz‹ oder ›Kreuz und Engel in Reichenstein‹ bei Facebook eingeben und das Foto wird Ihnen angezeigt.«
»Äh …«
»Noch viel besser allerdings ist, Sie und Weber fahren sofort hin. Dann können Sie es sich vor Ort ansehen. Die Kollegen warten bereits auf Sie!« Damit verabschiedete sich Bormann.
Stern starrte sein Handy fassungslos an.
»Was ist?«, fragte Weber.
»Wir haben einen neuen Fall, und du sollst auch gleich mitkommen. Gar nicht weit von hier, auf der Burgruine Reichenstein«, sagte Stern und deutete in jene Richtung, in der er besagte Burg vermutete.
»Die liegt gute 20 Kilometer entfernt«, wusste Weber, der deutlich mehr Ortskenntnisse hatte. Er wies in die entgegengesetzte Richtung und grinste. »Und wenn wir gemeinsam hinfahren, ist keiner von uns vor dem jeweils anderen am Tatort. Ich würde sagen, damit ist es diesmal unentschieden.« Weber spielte damit auf das unausgesprochene Ritual bei jedem neuen Mordfall an, dass sowohl Stern als auch er als Erster am Tatort sein wollten, und jeder seinen Sieg dem anderen wochenlang unter die Nase rieb.
»Bormann hat gesagt, dass bereits Fotos von der Leiche in den sozialen Medien herumschwirren«, teilte Stern dem Gerichtsmediziner auch diese Information mit und ignorierte dessen Andeutung auf den lächerlichen Wettstreit zwischen zwei erwachsenen Männern.
»Wie konnte das denn passieren? Haben die Kollegen nicht aufgepasst, dass niemand Fotos macht?« Webers Grinsen wich einem empörten Ausdruck.
»Wir können es uns anschauen, hat er gemeint, auf Facebook …«
»Na, dann lass mal sehen«, forderte Weber den Chefinspektor auf und stellte sich neben ihn.
»Äh … ich hab keine Ahnung, wie das geht.« Stern wedelte mit dem Handy herum, um zu verdeutlichen, was er meinte.
Weber zog sein eigenes Smartphone aus der Tasche, wischte darauf herum und tippte etwas ein. »Es gibt für ältere Leute Kurse, in denen man den Umgang mit sozialen Netzwerken lernen kann«, sagte er wie nebenbei.
»Ältere Leute«, äffte Stern ihn nach. Er fühlte sich noch lange nicht so alt, dass er einen Kurs belegen müsste, um ein paar Tasten zu betätigen. Das würde er schon irgendwann lernen. Notfalls konnte er seinen Enkel Tobias bitten, ihm das zu zeigen. Der Zehnjährige wischte und tippte auf diesen Gerätschaften herum, was das Zeug hielt. Aber auch Erwachsene hatte dieses Virus mitunter ereilt. Manche schrieben sich lieber Nachrichten, anstatt miteinander zu reden. Die soziale Kompetenz schien jedoch mit Zunehmen der sozialen Netzwerke und dem Gebrauch von WhatsApp und Co drastisch abzunehmen. Dennoch musste Stern zugeben, dass ihm hin und wieder ein bisschen mehr Kenntnis die moderne Technik betreffend nicht schaden würde.
»Ich finde nichts«, sagte Weber.
»Gib ›Mühlviertler Kreuz‹ oder ›Kreuz und Engel in Reichenstein‹ ein«, erwiderte Stern stolz, dass er in dieser Sache doch nicht unnütz war. Dass er diese Information von Bormann hatte, verschwieg er.
»Wow!«, stieß Weber aus, als er sah, was die neue Suchabfrage für ein Ergebnis lieferte.
3. KAPITEL
Die Burgruine Reichenstein thronte im Feldaisttal auf einem Felsen, der die daneben fließende Feldaist zwang, einen Bogen zu machen. Chefinspektor Oskar Stern stand neben der Straße, die unterhalb der Burg vorbeiführte, und starrte nach oben. Hier musste ebenso die Person gestanden haben, die das Foto von der Toten gemacht hatte, das sich im Internet mit dem Hashtag »Mühlviertler Kreuz« verbreitete. Die Tote hatte die Arme seitwärts weit von sich gestreckt wie ein Priester bei der Predigt, was die Assoziation mit einem Kreuz erweckte. Und sie trug ein Brautkleid, dessen Rock weit auseinanderfiel, was sie engelsgleich wirken ließ. Sie hing in den Ästen der Bäume, die am Fuße der Ruine neben der Straße wuchsen, als würde sie schweben. Als wäre sie von den Toten bereits auferstanden. Stern fuhr bei ihrem Anblick ein Schaudern durch die Gliedmaßen. Er konnte seine Augen nicht von ihr lösen. Ihre Erscheinung war faszinierend und verstörend zugleich, ein menschliches Kreuz im Engelsgewand.
Man hatte sie nicht sofort entdeckt, hatte man Stern mitgeteilt, die Blätter hatten das verhindert, ebenso der Umstand, dass sie über dem normalen Sichtfeld im Geäst feststeckte.
Sterns Blick wanderte weiter hinauf bis zum Rand der Ruine. Von dort musste die Tote gefallen sein, denn fliegen konnte sie zweifelsohne nicht, auch wenn sich der Vergleich mit einem Engel nicht nur durch ihr Äußeres, sondern desgleichen durch ihre Auffindungsposition aufdrängte.
»Wissen wir, wie sie heißt?«, fragte er Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht, die neben ihm gewartet hatte, bis er mit der Begutachtung der Leiche und deren Erscheinung fertig war. Das schätzte Stern an ihr. Sie wusste immer, was er wollte, manchmal sogar bevor er selbst Kenntnis davon hatte.
»Marion Balduin«, antwortete Grünbrecht. Ihre braunen schulterlangen Locken trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre haselnussbraunen Augen blickten wie die von Stern hinauf in die Baumkrone.
»Balduin, den Namen kenne ich doch irgendwoher …«, grübelte Stern nach.
»Von den Balduin Gewürzen. Gustav Balduin ist der österreichische Gewürzkönig und kauft alle Kräuter und Gewächse auf, egal ob sie oben am Berg oder unten im Tal wachsen, und macht daraus seine berühmten Gewürzmischungen. Soviel ich weiß, exportiert er sie in die ganze Welt. Das Mühlviertler Lavendelsalz ist nicht nur bei uns sehr beliebt«, erzählte ihm Grünbrecht, was sie wusste und was bei ihr daheim offenbar im Küchenregal stand.
»Ist sie mit ihm verwandt?«
»Sie war seine Tochter.«
»Und wie es aussieht, ist sie am Tag ihrer Hochzeit gestorben.« Stern hielt nach wie vor den Blick auf die Leiche gerichtet. Es war seltsam, und er konnte nicht sagen, warum, aber ihr Anblick berührte ihn auf eine Weise, die er nicht beschreiben konnte.
»Ja, sie hat gestern geheiratet. Die Hochzeit fand hier auf der Burgruine statt«, erläuterte Grünbrecht und deutete hinauf zu den alten Gemäuern.
»Warum heißt sie dann noch immer Balduin?«
»Mensch, Chef, das ist doch ein alter Hut! Seit 1995 ist es sogar bei uns in Österreich möglich, dass die Frau nach der Heirat ihren Nachnamen behalten kann und nicht den des Mannes annehmen muss«, echauffierte sich Grünbrecht über Sterns Unwissenheit.
Stern erwiderte nichts. Natürlich wusste er über die Gesetzeslage Bescheid, dennoch war es bis heute die häufigste Form, dass die Frau den Familiennamen des Mannes übernahm.
»Sind die Gäste etwa noch da?«, fragte er.
»Nein, aber ich habe mit dem Caterer gesprochen, der seine Sachen abholen wollte. Ich hab ihm gesagt, dass das nicht geht und er warten muss, bis wir den Tatort freigeben.«
Stern nickte und sah ein letztes Mal hinauf zur Leiche in dem Brautkleid. Kein schöner Tod, auf diese Weise abzutreten. In die Tiefe zu stürzen auf der eigenen Hochzeit.
Oder war sie gar freiwillig gesprungen? Was war vorgefallen, dass sie diesen Tod möglicherweise selbst gewählt hatte?
Das galt es nun herausfinden.
Er wandte sich ab und gab den Kollegen ein Zeichen, dass sie die Tote vom Baum holen konnten.
»Du, sag mal, hätte sie den Sturz nicht eigentlich überleben müssen, wenn sie in den Ästen landet?«, fragte Stern Dominik Weber, der darauf wartete, die Tote einer ersten Beschau unterziehen zu können. In seinem Wagen führte der Gerichtsmediziner immer einen Koffer mit, in dem sich die wichtigsten Utensilien für die Untersuchung einer Leiche befanden. Deshalb war er stets einsatzbereit, und die Chancen, vor Stern einen Tatort zu erreichen, stiegen dem geschuldet ebenso.
»Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass man so einen Sturz überlebt«, schätzte der Gerichtsmediziner. »Wenn du mit dem Kopf aber auf einen massiven Ast prallst, brichst du dir genauso das Genick, wie wenn du auf der Erde landest. Andererseits hab ich schon von Fällen gelesen, da haben Menschen Abstürze aus über 100 Meter überlebt, und andere sterben, wenn sie bloß von einer zweistufigen Leiter runterfallen. Bei einem Sturz spielen so viele Faktoren eine Rolle, ob man ihn überlebt oder nicht, nicht nur die Fallhöhe ist ausschlaggebend. Sobald ich mir die Tote genauer angeschaut habe, sage ich dir, was in diesem Fall Sache ist.«
Weber folgte den Kollegen, die die Bergung des Opfers mit einer Drehleiter samt Korb von der hiesigen Feuerwehr vorbereiteten. Damit ließen sich der Gerichtsmediziner und ein Polizeifotograf Minuten später bis zu jener Stelle in den Bäumen hochheben, wo die Leiche festhing. Der Fotograf machte Fotos, wo und wie das Opfer zum Liegen gekommen beziehungsweise der Fall gebremst worden war, und Weber diktierte alle Informationen in ein Aufnahmegerät, die für die Bestimmung der Todesursache später hilfreich sein könnten.
Inzwischen erklommen Oskar Stern und Mara Grünbrecht über einen schmalen Trampelpfad, der beidseitig von kleinen kunsthandwerklichen Gegenständen gesäumt wurde, den Hügel hinauf zur Burg. Diese war vor dem 13. Jahrhundert errichtet worden und wurde seit dem Jahr 1750 nicht mehr herrschaftlich bewohnt, was ursächlich für ihren Verfall war.
Oben vor dem Eingang warteten die Gruppeninspektoren Edwin Mirscher und Hermann Kolanski auf sie. Sie hatten sich währenddessen die Burgruine angesehen und mit den Personen gesprochen, die die Überreste des vortägigen Festes aufräumen wollten.
»Grüß dich, Oskar. Jetzt wird wohl nichts aus eurer Wanderung durchs schöne Mühlviertel.« Mirscher empfing seinen Chef mit einem breiten Grinsen. Er wusste, dass Stern nicht freiwillig mit Weber den Johannesweg hatte gehen wollen.
»Ja, leider«, antwortete Stern mit demselben Lächeln.
»Das lässt sich bestimmt nachholen«, meinte Kolanski. Er trug wie immer Sonnenbrille und Lederjacke und könnte ruhig mal wieder zum Friseur gehen. Seine Haare waren für einen Ermittler der Mordgruppe am Landeskriminalamt Oberösterreich viel zu lang, fand Stern, verkniff sich aber einen Hinweis darauf. Immerhin war er nicht Kolanskis Vater, sondern sein Vorgesetzter, obwohl sich das mit dem Vatersein auch ausginge, wenn er schon ganz früh ein Kind gezeugt hätte.
»Sag das ja nicht Weber!«, drohte er ihm dennoch. »Für mich ist die Sache vorbei – aus! Finito!«
Kolanski lachte und folgte wie die anderen Kollegen seinem Chef hinauf zur Burgruine. Sie durchquerten den Eingangsbereich des Burgmuseums, wo sie an Wissenswertem rund um Reichenstein aus mehreren 100 Jahren vorbeigingen, ohne es eines Blickes zu würdigen. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Todesfall, der sich letzte Nacht zugetragen hatte, und nicht den Toten des Mittelalters. Aber ob es tatsächlich Mord war, würde sich erst noch herausstellen.
Als sie die erste Stiege hinter sich gebracht hatten, traten sie in den Burghof, wo die Bühne und die Equipments der Band und des Caterers aufgebaut waren. Hier hatte das rauschende Hochzeitsfest also stattgefunden, dachte Stern und verschaffte sich einen Überblick. Die Stühle und Tische hatte man bereits gestapelt, da zu jener Zeit noch niemand vom Tod der Braut gewusst hatte. Nun waren die Aufräumarbeiten jedoch eingestellt und die Burg menschenleer, damit keine Spuren mehr vernichtet wurden.
Stern suchte nach einer Möglichkeit, hinauf zur Hochburg zu gelangen, von wo aus die Tote gestürzt sein musste. Das wollte er sich zuerst ansehen. Er entdeckte den Aufstieg und steuerte darauf zu. Auf teils original erhaltenen Burgbeständen und teils hölzernen Begehungen, die nachträglich dazugebaut worden waren, schritten sie in den dritten Stock der Burg. Dort waren zwei Räume gut erhalten, der Rest bestand nur mehr aus Außenwänden, die wie der Boden Tag und Nacht jeglichem Wetter ausgesetzt waren, von Regen und Schneefall ganz zu schweigen, die den jahrhundertealten Gemäuern sichtlich zusetzten.
»Von hier aus muss sie gefallen sein«, sagte Stern und trat näher an die mannshohen Fenster heran. Sie waren mit dicken Gitterstäben abgesichert, um zu verhindern, dass jemand hinabstürzte.
Jedoch genau das war passiert!
»Die Stäbe reichen nicht bis ganz nach oben. Wenn jemand die Absicht hegt, zu springen, klettert er einfach darüber«, resümierte Kolanski.
»Oder wenn jemand bewusstlos ist, kann man ihn auch runterwerfen«, überlegte Mirscher und fuhr sich über seine kurzen brünetten Haare. Jedes Mal, wenn der Frühling in den Sommer überging, entschied sich der Kollege für einen Beinahe-Kahlschlag. Dieser sei in den heißen Monaten besser zu pflegen, und er brauche sich ja keine Gedanken mehr über sein Aussehen zu machen, war er der Meinung. Schließlich würde er bald Grünbrecht heiraten.
»Schwierig, aber es geht«, pflichtete ihm seine Verlobte bei. Stern wartete darauf, dass wieder ein angedeuteter Kuss durch die Luft geflogen käme, so wie es die beiden seit der Bekanntgabe ihrer Verlobung hielten, doch der blieb aus. Anscheinend wirkte sich der Fall der toten Braut dämpfend auf ihre Liebesbekundungen aus.
»Die Spurensicherung soll sich das Brautkleid genau ansehen, ob Spuren darauf sind, die belegen, dass jemand nachgeholfen hat«, sprach Grünbrecht aus, was Stern gerade hatte sagen wollen.
»Ja, das soll sie machen, obwohl ich mir sicher bin, dass so ein Abend nicht ohne Spuren auf dem Kleid vorübergeht«, fügte er an und dachte dabei vor allem an das Hochzeitsessen und das Gemenge beim Tanzen.
»Ob es einen Kampf gegeben hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Hier sind unzählige Leute herumgetrampelt. Bei so einem Fest will man ja auch mal ungestört sein.« Kolanski deutete auf ein benutztes Kondom, das mehrere Meter weiter vorne neben der Burgmauer lag, und einige Zigarettenstummel. »Die Spurensicherung soll alles eintüten.«
Stern blickte durch das Gitter auf jene Stelle, wo die Braut gerade vom Baum geholt wurde. Sehr tief ging es da hinab, und er konnte sich kaum vorstellen, dass eine junge Frau am schönsten Tag ihres Lebens – wie man es ja oft zu hören bekam, dass die Hochzeit dies sein sollte – in den Freitod sprang. Was war vorgefallen, dass Selbstmord der letzte Ausweg für sie gewesen war? Oder was war geschehen, dass jemand sie dort hinuntergestoßen hatte?
»Seht mal!«, rief Mara Grünbrecht. Sie stand vor einem Fragment der Burgmauer, das zum Teil in die Hochburg ragte.
»Was ist?« Stern, Kolanski und Mirscher traten näher.
»Da ist Blut.« Grünbrecht deutete auf die Überreste der Mauer. Daran befand sich eine eingetrocknete braune Masse.
»Sie könnte sich den Kopf gestoßen haben und war daraufhin vielleicht bewusstlos. Dann wäre es für den Täter ein Leichtes gewesen, sie über das Gitter zu heben und in die Tiefe zu stoßen«, spekulierte Mirscher.
»Oder sie hat sich das Genick gebrochen und war schon tot, bevor man sie hinuntergeworfen hat«, zeigte Kolanski eine weitere Variante auf, wie es abgelaufen sein könnte.
»Oder das Blut stammt von jemand anderem, der in diese Sache verwickelt ist«, ergänzte Grünbrecht die Liste der möglichen Szenarien, was passiert sein könnte.
»Okay. Hiermit erkläre ich den Todesfall offiziell zu einem Mord oder den Versuch, einen Unfall zu vertuschen, warum auch immer. Selbstmord war es mit größter Wahrscheinlichkeit nicht«, kam Stern zu dem Schluss. »Wir müssen die Gäste befragen, die bei der Hochzeit anwesend waren. Wir fangen mit dem Bräutigam an. Mich interessiert, warum er seine Frau nicht als vermisst gemeldet hat. Oder vielleicht hat er es getan und wir wissen nur noch nichts davon. Klärt das bitte ab! Anschließend nehmen wir uns die Brauteltern, die Schwiegereltern, die Zubraut und den Zubräutigam vor. Ich hoffe, dass wir dadurch ein Bild davon erhalten, was gestern hier vorgefallen ist. Gebt der Spurensicherung Bescheid, dass sie alles gründlich absuchen soll.« Stern warf wieder einen Blick durch das vergitterte Fenster hinab auf die Baumwipfel. Die Tote war bereits aus dem Geäst geholt worden und lag auf einer Plastikplane am Boden neben der Straße, die für den Verkehr wegen des Einsatzes vorübergehend gesperrt worden war. Weber kniete neben ihr und begutachtete den Leichnam.
»Wer nimmt sich wen vor?«, wollte Grünbrecht wissen.
»Du und ich, wir beide befragen den Bräutigam«, antwortete Stern.
»Damit bleiben für uns entweder die Brauteltern oder die Eltern des Bräutigams«, sagte Kolanski. »Die Zubraut und den Zubräutigam erledigen wir später.«
»Wir übernehmen die Schwiegereltern der Toten«, entschied Mirscher. »Eltern zu sagen, dass ihr Kind tot ist, ist eindeutig Chefsache.«
Stern seufzte. Todesnachrichten zu überbringen war etwas, an das sich kein Ermittler gewöhnen konnte, auch er nicht. Dennoch musste es erledigt werden.
»Haben wir schon eine Adresse?«, wandte er sich Grünbrecht zu.
»In fünf Minuten«, antwortete die Gruppeninspektorin, die ihr Handy zückte, um die gewünschte Information in Erfahrung zu bringen.
»Ich rede einstweilen noch mal mit Weber, vielleicht weiß er inzwischen ein wenig mehr über den Todeszeitpunkt oder die Todesursache.« Stern drehte dem vergitterten Fenster den Rücken zu und verließ die Hochburg.
Auf dem Weg nach unten musste er das Burgmuseum passieren. Dort stand ein Herr neben einer Schautafel, der jedoch nicht diese, sondern den herbeieilenden Chefinspektor auffallend musterte. Stern beschloss herauszufinden, ob ihm der Mann etwas sagen wollte, und blieb stehen.
»Chefinspektor Oskar Stern vom Landeskriminalamt Oberösterreich«, stellte er sich vor.
»Nikolaus Brandtner.« Der Mann streckte Stern die Hand zum Gruß entgegen, was wegen der Corona-Pandemie zu einer seltenen Geste geworden war. Dann fügte er erklärend hinzu: »Ich bin der Museumsführer.«
»Waren Sie gestern auch bei der Hochzeit?«, wollte Stern von ihm wissen.
Der Mann um die 50 schüttelte den Kopf. »Nein, war ich net. Da war’n nur die Familie und die Verwandten eing’laden. Ich gehör ja quasi zum Burgpersonal.«
»Wie läuft das eigentlich ab? Wenn jemand auf der Burg heiraten will, was muss er da tun?«
»Sie meld’n sich bei mir und wir such’n einen freien Termin. Wenn der für Sie passt, können S’ hier heiraten«, erwiderte Nikolaus Brandtner. »So einfach geht das.«
»Ist in diesem Offert die ganze Burg inbegriffen?«, hakte Stern nach.
»Wir haben verschiedene Angebote. Die reichen von der kirchlichen Trauung in der Burgkapelle mit anschließender Agape im Burghof bis hin zur kompletten Hochzeitsfeier in der Burg. Da dürfen S’ natürlich sämtliche Räume benutzen. Wie es das Geldbörserl halt zulässt oder die Wünsche der Brautleute es verlangen.« Nikolaus Brandtner verschränkte zufrieden die Arme von der Brust. Er war sichtlich stolz auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, die er den Heiratswilligen bieten konnte. Trüge er statt des legeren Anzuges eine Ritterrüstung, käme sich Stern in die Zeit des Mittelalters zurückversetzt vor. Der Mann war unrasiert und seine Haare waren zu lang, ähnlich wie die von Kolanski. Vielleicht war das aber auch die heutige Mode für Männer mittleren Alters, was wusste Stern schon.
»Und die Hochzeit gestern? Welches Arrangement war dafür gebucht?«
»Äh … Sie wiss’n, Datenschutz und so …«, stammelte der Mann herum, weil es ihm sichtlich schwerfiel, dem Chefinspektor diese Frage nicht zu beantworten.
»Wir haben eine Tote, Herr Brandtner. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es kein Selbstmord. Also, wenn Sie mir die Auskunft nicht geben, kehre ich mit einem Gerichtsbeschluss zurück und nehme Ihre Burg auseinander«, stellte Stern klar.
»Natürlich.« Brandtner räusperte sich. »Die Gesellschaft gestern hat die Burg im Gesamten g’mietet. Das sind keine einfachen Leut’, wenn S’ versteh’n, was ich mein.«
»Nein, das tue ich nicht. Also könnten Sie das …«
»Die hab’n Geld wie Heu, Geschäftsleute mit Beziehungen bis ganz nach oben«, erläuterte Nikolaus Brandtner, noch bevor Stern zu Ende geredet hatte. »Und er, der alte Hallsteiner, der das alles bezahlt hat, ist ein ziemlich schwieriger Mann, mit dem man sich besser net anlegt.«
»Und wenn er der Kaiser von China wäre, ist mir das egal. Für mich ist er wie jeder andere, dessen Hintergrund ich durchleuchten muss. Wir untersuchen hier einen Mordfall«, erwiderte Stern energisch. Diese Obrigkeitshörigkeit ging ihm auf die Nerven. Gerade er mit seinem Job wusste, dass Reichtum und Ansehen niemanden davon abhielt, ein Verbrechen zu begehen.
»Ja, das ist schlimm. Wirklich schlimm.« Brandtner schüttelte den Kopf. »Hoffentlich wirft das kein schlechtes Licht auf unsere Burg und das Museum. Kommen S’! Ich zeig Ihnen was.« Brandtner steuerte auf eine alte Mauer zu, die in den Ausstellungsraum hereinragte. »Sehen S’ das? Das sind die Reste einer für diese Gegend ungewöhnlich großen Renaissanceanlage, die man bei archäologischen Ausgrabungen g’funden hat. Außerdem hat man diese Badegrotte entdeckt.« Brandtner führte Stern zu einer weiteren Anhäufung von Steinen. »Man weiß es net genau, aber man vermutet, dass diese Badegrotte in der Barockzeit dazugebaut worden ist. Aber eines weiß man …« Brandtner beugte sich ein wenig nach vorne und machte eine Pause, die der folgenden Information genügend Raum zum Wirken verschaffen sollte. »So, wie sie jetzt von uns präsentiert wird, ist die Badegrotte einzigartig in Österreich. Ein richtiges Unikat!« Der Museumsführer strahlte Stern an. Anscheinend hatte er längst vergessen, weswegen der Chefinspektor bei ihm war und dass auf seiner geliebten Burg womöglich ein Mord passiert war, deshalb wollte Stern ihn daran erinnern.
»Danke, Herr Brandtner, für diese Informationen, allerdings …«
»Und noch was ist ganz wichtig«, unterbrach Brandtner den Chefinspektor.
»Ja?« Stern horchte auf. Wenn etwas wichtig war, wollte er es natürlich schon erfahren.
»Das Museum steht quasi auf den Überresten der alten Burg, und wir hab’n die Mauerreste und die Badegrotte voll schön ins Museum integriert, damit alle was davon hab’n. Wie finden S’ das?« Erwartungsvoll blickte Brandtner den Chefinspektor an.
»Ist eigentlich eh ganz toll geworden«, druckste Stern herum, da er einerseits nicht unhöflich sein wollte, andererseits diese Information als nicht so wichtig erachtete. Zumindest nicht für die Aufklärung des Falls. Das enttäuschte Gesicht des Mannes ließ ihn aber hinzufügen: »Wenn ich mal etwas mehr Zeit hab, schau ich mir das Museum an, versprochen!«
Der Mann lächelte wieder. »Sie dürf’n kostenlos rein, das versprech ich Ihnen.«
»Dann … auf Wiedersehen«, verabschiedete sich Stern von dem diensteifrigen Museumsführer.
»Auf Wiederseh’n!«, rief Nikolaus Brandtner ihm hinterher.
Draußen vor dem Museum und den Weg hinab zur Straße dachte Stern über das eben geführte Gespräch nach. Der Museumsführer war ein komischer Kauz, doch er hatte eine große Leidenschaft für die Überreste der Burg an den Tag gelegt, die Stern beeindruckend fand. Der Chefinspektor war sich sicher, dass es nichts über die Burgruine Reichenstein gab, was Nikolaus Brandtner ihm nicht hätte beantworten können. Menschen mit einer derartigen Begeisterung für eine Sache trugen dazu bei, dass Kulturschätze wie die Burgruine erhalten blieben. Sollte er diesbezüglich noch Fragen haben, würde er sich direkt an ihn wenden.