Kitabı oku: «Expedition Antarctica», sayfa 3
EUROPÄISCHER PROLOG
Von Innertkirchen nach Porto
1. September bis 17. Oktober 2006
2400 Kilometer
Start auf der Grimsel
Was ich zum Gelingen von Antarctica tun konnte, hatte ich mit bestem Wissen und Gewissen getan. Vor mir lag die Ungewissheit. 484 Tage Ungewissheit. 25 000 Kilometer Ungewissheit. Evelyne gegen den Rest der Welt. Nicht ganz, aber es fühlte sich so an im Augenblick, als ich mich aufs Rad schwang.
Der Starttag war nicht mein Tag. Das zeigte sich bereits morgens um sechs vor meinem Chalet auf dem geliebten Hubel ob Innertkirchen im Berner Oberland. Mein Lebenspartner Sandro war eigens aus Kanada gekommen. Umarmungen, Abschiedsküsse, beste Wünsche. Seine Anwesenheit zerriss mir ein bisschen das Herz. Gedankenverloren stand er in der Eingangstür.
Ich schwang mich auf den Sattel, zupfte mir nochmals die Hosen zurecht, schlüpfte in die Handschuhe, riegelte an den Kettenblättern, fädelte mich mit den Füßen in die Klickpedale ein, schwankte etwas hin und schwankte etwas her, fragte mich, will ich das wirklich, mache ich mir etwas vor, und wie wird das enden? Ich winkte und winkte noch mal, und bevor mein Hexenhäuschen hinter der Kurve verschwand, die mich in die weite Welt hinaustragen sollte, drehte ich mich noch einmal um, verlor das Gleichgewicht, blieb in diesen Klickpedalen hängen – und, zack, fiel ich bereits auf den ersten dreißig Metern auf den Asphalt. Evelyne, willst hoch hinaus – und fällst so tief, noch bevor es losgeht.
Es tat mir ziemlich alles weh. Die Hüfte links tut mir heute noch weh, wenn ich daran denke. Man ist ja so dünnhäutig in solchen Augenblicken. Ob das ein gutes Vorzeichen war? Hätte ich mich mit dem Fahrrad und seinen Tücken besser anfreunden sollen? Nicht fragen jetzt, sei tapfer, Evelyne, wenn dir nichts Schlimmeres passiert auf den nächsten vielen Tausend Kilometern während der anderthalb Jahre, hast du Glück gehabt. Also weiterfahren, als sei nichts gewesen. Ich hatte mir ja bloß die Knochenhaut an der Hüfte verletzt. Das sollte ich bis Südamerika spüren – und spürte es noch viel mehr, gleich drei Stunden später, beim offiziellen Start oben auf der Grimselpasshöhe.
Meine erste Pressekonferenz. Das war ich den Sponsoren schuldig. Radio, Fernsehen und Print. Alle sollten berichten, und alle erschienen auch, um zuzuschauen, wie eine Frau aus Innertkirchen Richtung Südpol in die Pedale trat. Als ob das sehenswert wäre. Die früheren Unternehmungen wie die Expedition zum Dhaulagiri oder den Begehungsversuch der Mount- Everest-Südseite hatte ich ganz allein und ohne Medienrummel gemacht. Doch jetzt, wo die Kosten für mein Abenteuer wieder einzuspielen waren, musste die Öffentlichkeit zuschauen können. Selten aber hatte ich mich so fremd gefühlt in meinen Kleidern. Mir schien das Ganze ein Desaster, die Emotionen schwirrten in alle Richtungen. Gleichzeitig reden und wegen des Hüftschmerzs auf die Zähne beißen, das konnte nicht gut gehen.
Da saßen wir an einem Tisch im Restaurant Grimselblick, mein Doktor Milan Cermak, Jérôme Strijbis, der Vertreter von SOS-Kinderdorf, der Mann vom Backoffice zu Hause und dazwischen ich, alle mit Namenstäfelchen und Mikrofonen vor uns. Es sollte schließlich professionell aussehen. Im Grunde war mir schon damals klar, was Journalisten wissen möchten, doch fiel ich schon bei der ersten Frage auf die Nase. Also, zum Ersten: »Warum machen Sie das?« Gute Frage. Hmm. Ja. Warum machte ich das? Ich lächelte etwas hilflos durch meinen Schmerz und meinte: »Wenn ich es wüsste, müsste ich es nicht machen. Fragen Sie mich wieder nach meiner Rückkehr.« Und da bin ich jetzt wieder, anderthalb Jahre später, um Erfahrung und Erkenntnis reicher.
Warum hast du das gemacht?
Ja, damals, was wollte ich wirklich? Ich nannte es Expedition. Aber war es das? Bin ich in Neuland aufgebrochen, habe ich etwas entdeckt, der Wissenschaft einen Fortschritt gebracht? Es hat mich weitergebracht. Es wurde mein Projekt. Indem ich es entwickelte, habe ich mich entwickelt. Über fünf, sechs Jahre, bis zur Verwirklichung des Schritts zum Südpol, hatte sich meine Sicht der Dinge und meine Befindlichkeit geändert. Die Höchstleistung war aus dem Mittelpunkt des Trachtens gerückt. Sie wurde ein Mittel, um ein Ziel zu erreichen. Wie reagieren Körper, Psyche und Seele, wie reagiere ich auf meine Umwelt, wie fühle ich mich so nah zur Natur? Nicht zuletzt das. Das Erlebnis der Nähe zu einer Natur in ihrer Vielfalt, in ihrer Rauheit, ihrer Schönheit und ihrem Schrecken.
Jetzt habe ich die Gewissheit. Ich bin bereichert wieder hier. Stärker an Körper und Seele. Ich trage etwas in mir, das ich zuvor nicht in mir trug und das ich gerne nach außen vermittle. Gewiss, ich sehe mich nach wie vor als Alpinistin. Bergführerin ist mein Beruf. Aber vielleicht denke ich heute eher in Kategorien der Kunst als in denen des Sports. Die Leistung könnte das Handwerk sein, mein Körper das Werkzeug, mit dem ich an meinem Lebenskunstwerk arbeite. Das wurde mir bewusster, je weiter ich vorstieß. Und es gab auch äußere Zeichen, die mich in die Richtung trugen. Nach den ersten hundert Kilometern auf dem Fahrrad ging der Kilometerzähler kaputt. Ich habe ihn nicht ersetzt. Wozu auch. Verkürzt die Messung die Distanz? Steigern Zahlen die Intensität des Erlebens? In meiner Kindheit hatten wir einen Milchwächter. Ich merkte bald, die Milch kommt nicht früher, sie läuft auch nicht weniger über, wenn der Wächter drin ist. Auf die Achtsamkeit kommt es an. Jeder wacht über seine eigenen Messinstrumente, die sich nicht in Zahlen ausdrücken und weder klappern noch piepsen.
Das verflixte Fahrrad
Der Berg war mir vertraut. Aber das Fahrrad? Wie oft habe ich es verflucht. Um die halbe Welt bin ich damit geradelt, aber es ist keine Liebe daraus gewachsen. In Europa hoffte ich, meiner Klettersucht davonzuradeln. Aber man wird nicht in einem Tag von der Bergführerin zur Radfahrerin. Bis zum Ziel in Punta Arenas habe ich mich nie ganz als Radlerin gefühlt. Schon gar nicht als Extremradlerin. Je heftiger ich dem Berg davonradeln wollte, umso heftiger packte er mich wieder. Ich war in mein Projekt verliebt: in die Idee, aber nicht in die Ausführung.
Das Rad war bloß ein Mittel zum Ziel. Das einzig mögliche Mittel, denn aus eigener Kraft – was wäre außer Wandern sonst noch möglich gewesen? Mein einziges Ziel, das mein Tun definierte, war: aus eigener Kraft Punta Arenas erreichen, diese äußerste größere Stadt der südlichen Hemisphäre. Darüber hinaus kein Programm, kein Leistungstest. Es ging allein ums Erlebnis, und was ich erlebte, nahm ich als Geschenk. Dafür war das Bike am besten geeignet. Ich ahnte, es könnte eine große Erfahrung daraus werden, aber ich wusste nicht, welche.
Die Faszination, die ich beim Klettern empfinde, diese elektrisierende Hellwachsamkeit, bei der es tausend Dinge gleichzeitig wahrzunehmen gilt, diese geistige Vorwegnahme aller Möglichkeiten, aus denen sich die richtigen Entscheide ergeben, das alles hat mir die Radlerei selten gebracht. Am Morgen erwachen und wissen, jetzt sitzt du dann wieder auf diesem Caballo, deinem »Pferd«, und hoffst, du findest Lebensmittel und Wasser, und suchst dir wieder ein verborgenes Plätzchen zum Schlafen. Radfahren droht oft mit etwas Öde und Leere: Man ist in der Tretmühle und gleichzeitig die Tretmühle selbst, schlägt sich den Tag um die Ohren, um müde zu werden und schlafen zu können. Und dann dreht sich immer viel um diesen technischen Kram. Wer hat die schicksten Bremsen, den leichtesten Kettenwechsel, die neueste Federung? Beim Klettern zählt die sorgfältige Vernachlässigung von modischem Tand. Cool ist der Typ mit dem abgewetzten, ausgebleichten T-Shirt, der wie eine Eidechse die Wände hochgeht.
In guten Phasen strömen die Gedanken, die Zeit geht vergessen, und aus dem Stumpfsinn des Strampelns fallen Ideen vom Himmel, für die ich mich beim lieben Gott, der sie mir schenkt, für den Rest meines Lebens bedanke. Ich kam auf Dinge, die mir im Traum nicht eingefallen wären. Schließlich hat mir mein Fahrrad vieles näher gebracht. Ich fand die Nähe zur großen, weiten Welt um mich herum fast mehr, als ich sie suchte: einen Einblick in die Häuser im Dorf, den Duft nach Brot und Kaffee am Morgen, den Duft von Heu an den langen Chausseen, in den Wüsten den Geschmack von Sand auf den Zähnen. »Hi« oder »Hola«, je nachdem, wo ich gerade war. Auf dem Fahrrad fährst du mitten durchs tägliche Leben hindurch, du erlebst einen Querschnitt durch eine Landschaft, eine Stadt, eine Kultur. Je länger ich fuhr, desto deutlicher wurde mir das.
Ach, Europa
Die Strecke von der Grimsel bis Portugal verdränge ich gerne. Sie schenkte mir nur wenige Sternstunden. Zweieinhalbtausend Kilometer. Bis Südfrankreich blieb ohnehin nicht viel hängen. Ich hatte mir da etwas vorgemacht. Das war mehr als ein harmloser Prolog.
Das Fahrrad zeigte mir seine Tücken. Hätte ich üben sollen? Fahrradfahren kann jeder, nicht wahr? Wie im Flug war ich jeweilen von meinem Hubel hinunter nach Innertkirchen gesaust, und leichtfüßig strampelte ich danach die umliegenden Alpenpässe hoch. Reichte das nicht? Wenn nicht, dachte ich, ist der Weg bis zum Südpol lang genug, da würde ich genug zum Üben kommen. Irrtum. Kaum hatte ich den Sturz zu Beginn in den Klickpedalen halbwegs bewältigt, machte mir die Haltung zu schaffen. Der Buckel, der Knick im Nacken, um den Blick zum Horizont zu erheben, und dann der Druck auf die Handgelenke. Vielleicht hätte ich einen noch höheren Lenker wählen sollen. So oder so. Schon nach ein paar Kilometern krabbelten mir Ameisen die Arme hoch. Die Arme wollten sich bewegen. Ich hängte mich an Bäume, machte Klimmzüge, um wieder den Tonus der Muskeln zu spüren, und fragte mich: Warum hänge ich nicht am Berg? Die Erinnerungen hingen wie Banderillas im Fleisch.
In den Bergen wurde es bald ziemlich nass und kalt. Natürlich wusste ich, dass ich in den Herbst hineinfuhr und dass die Herbststürme von Westen her über das Land sausen. Fast täglich einmal luden sie ihre nasse Fracht über mich ab. Immer bei Gegenwind. Ich hatte mit einigem gerechnet, aber mich da drin wiederzufinden, war noch mal etwas anderes. Wenigstens abends hätte ich mich gerne ein bisschen verwöhnt. Mit dem Duft von Seife und einer warmen Dusche vielleicht. Aber die Campingplätze waren schon fast alle geschlossen, sodass ich mich manche Nacht in die Büsche schlug.
Bei dem Wetter schienen die langen, geraden Straßen durch Frankreich noch länger, als sie sowieso sind. Lastwagen, Lärm, Abgase, so weit das Auge reichte, und jenseits des Horizonts vielleicht noch mehr davon. Arme Evelyne. Wollte ich das wirklich? Und hatten vor mir nicht Tausende, wenn nicht Hunderttausende diese Strecken gefahren? Und zwar nicht nur Pilger, für die es Programm war, auf dem Zahnfleisch zu gehen. Kurz, Selbstmitleid war kein Erfolgsrezept.
Das Blümchen
Es war irgendwo zwischen Frankreich und Spanien, am Fuß der Pyrenäen, auf einer dieser Routes Nationales, auf denen die Fernfahrer rollen, um sich den Mautzoll auf den Autobahnen zu sparen. Wind, Kälte, Regen, einmal mehr. Jeder Truck wehte in seinem Heckwirbel den ganzen Dreck der Straße fein zerstäubt auf die Velos am Rand. Auf zwei Rädern hat man auf der Straße stets zu nehmen, was übrig bleibt. An diese Wehrlosigkeit gegenüber dem Recht des Stärkeren hatte ich mich wohl zu gewöhnen. Aber mit dieser Dreckschicht auf der Brille ließ sich beim besten Willen nicht fahren. Und ohne Brille schon gar nicht. Vielleicht hatte ich mich mit einer rosa Brille auf die Reise gemacht?
Seit ich in die Berge gehe, lasse ich mich von Schönheit, Ruhe, Raum, Harmonie und Farben berühren. Sie lassen die Saiten in mir schwingen. Doch seit ich unterwegs war, schrie die Seele auf und ließ sich nicht mehr beruhigen. Dabei braucht es so wenig, um Qualität zu erzeugen. Etwas Kontrolle: Was denke ich, was sage ich, was tue ich. Umso härter traf mich die Wirklichkeit außerhalb des geschützten Raums im Gebirge. Trostlose Industriequartiere, die Hektik, der Lärm und die schmutzige Luft auf den Straßen widersprachen meinen Vorstellungen von Harmonie und Schönheit zutiefst. Ich hatte daran zu nagen, dass die Waage, in deren Schalen die Eigenschaften der Welt verteilt sind, aus dem Gleichgewicht geraten ist. Meine Abenteuerlust verkam zu Frust und stürzte mich in eine persönliche Krise. Ich erlebte eine Art Apokalypse.
Ich hätte auf Nebenstraßen ausweichen und im Zickzack aufkreuzen können, wie einst die Segelschiffe, doch das kann die Länge mancher Strecke gut und gerne verdoppeln. Wollte ich den ganzen Winter durch strampeln? Lieber nicht. Überdies hatte ich Hunger. Nach Stunden unterwegs – Pause. Ich setzte mich an die Böschung und aß eine Banane. Als ich die Brille ablegte, fiel der Blick auf ein Blümchen. Es war vom gleichen Bananengelb, aber unscheinbar klein, und jedes Mal, wenn ein Truck vorbeidonnerte, wuschsch, drückte ein Luftstoß das wehrlose Geschöpfchen zu Boden. Dann kam es wieder hoch, rein und schön wie zuvor, immer aufs Neue. Ich bedauerte das Blümchen wegen seines Standplatzes und weil es keine Beine hatte wie ich, um von hier zu flüchten. Als Nächstes überlegte ich mir, dass es einer kostbaren Demut bedarf, sich den täglichen Demütigungen zu stellen und trotzdem derart als Blume leuchten zu können. Kaum ein Mensch vor mir hat dieses Blümchen wahrgenommen, kein Mensch ihm gesagt, wie schön es sei. Trotzdem gibt es sein Bestes und blüht, solange ihm die Zeit gegönnt ist.
»Evelyne«, sagte ich unversehens zu mir, »wenn du jetzt nicht in Sentimentalitäten versumpfen willst, nimmst du dir das Blümchen zum Vorbild.« Magst du noch so übersehen, missachtet und mit Dreck eingedeckt werden: Machs wie das Blümchen. Komm wieder hoch. Jedes Mal, wenn es dich umhaut, stehst du wieder auf. Das Blümchen lehrte mich, dass Demut nicht bedeutet, gesenkten Hauptes durch das Leben zu wandeln, sondern dass sie es ermöglicht, die Egozentrik zu regulieren und zu akzeptieren, dass große Ziele immer auch Verzicht verlangen. Das ist die Lektion des gelben Blümchens, die ich meiner Krise an der Böschung am Fuß der Pyrenäen verdanke.
Die Botschaft der Zufälle
Bald nach der Grenze in Spanien wurde ich krank. Eine Grippe oder so was. Mitten auf der Fahrt erwischte sie mich. Ich weiß nicht mehr, wo. Aber ich sehe vor mir noch das Tal. Ein langes, einsames Tal, und dort, wo es sich öffnete, verschlossen Wolken den Ausgang. Schwarz und schwefelgelb. Schon wieder Regen? Nein, das sah nach Hagel aus. Nicht auch das noch, bitte, bitte, nicht! Wie weit war es noch bis zum nächsten Dorf? Ob ich es trocken erreichte?
Vielleicht war es zu weit bis zum Dorf, oder ich fuhr zu langsam. Es fehlten nur ein paar Hundert Meter. Bis ich die ersten Häuser erreichte, war ich nass bis auf die Knochen und gepiekst vom niederprasselnden Hagel. Vor allem die Hagelschläge empfand ich als gemeine Schikane. Ich heulte auf und rief den lieben Gott an, er möge sich meiner erbarmen. Bei einer Bushaltestelle fand ich Unterstand. Wenigstens Trockenheit. Aber die Kleider wechseln, wozu? Sie würden gleich wieder nass. Und ich hatte nur ein trockenes Set dabei. Es war Oktober und kalt, und hier konnte ich nicht übernachten. Das Dorf schien ausgestorben, das nächste unendlich weit entfernt. Nach einer Weile setzte sich ein alter Mann auf meine Bank. Er trug eine Windjacke. Die hätte ich zu gerne gehabt, um meine Gänsehaut zu bedecken. Vielleicht kannte der Mann eine Herberge. Ich fragte ihn. Er hörte schlecht und sagte lange nichts. Ob er nachdachte oder ob er nichts dachte, war ihm nicht anzusehen. Er schob bloß langsam seinen Kiefer hin und her. Ich hatte ihn schon fast aufgegeben, da mummelte er: »Da oben wohnt ein Holländer mit seiner Frau. Einer Französin. Die haben ein Hotel. Geh diese Straße rauf bis zu einem braunen Tor. Geh daran vorbei und bieg dann rechts ab. Bis zu einem weiteren Tor. Geh hindurch in den Innenhof und frag dort, ob du übernachten kannst.«
Es klang wie im Märchen, das Männchen mit seinem zahnlosen Mund, diese Tore, die wie Prüfungen auf einem Lebensweg stehen. Als ich mich hochgeschleppt hatte, klopfte ich. Die Frau war entzückt. Sie hatte ihr Haus eben erst für Gäste geöffnet. Ich war ihr erster Gast. Sie schloss mir ihr bestes Zimmer auf und verwöhnte mich wie eine Prinzessin. Es gab eine Dusche mit zwölf Düsen in einer Oase von Luxus und Wohlstand.
In dieser märchenhaften Stimmung spürte ich es wieder. Wir sind begleitet. Es gibt diese Zufälle, fast immer, die einem ganz einfach zufallen. Solche Zufälle haben meinen Glauben an eine Kraft, von welcher uns als Kind gelehrt wurde, dass sie Gott heißt, im Laufe meines Lebens vertieft. Nennen wir diese Zufälle mal einfach Giuseppe. Hinter diesen Erlebnissen steckt eine Botschaft. Giuseppe sendet solche Botschaften. Sie sprechen für sich. Man braucht sie nicht aufzuschreiben und man erinnert sich doch. Ein Leben lang.
La Peregrina
Fast unvermeidlich führte mich das Netz der Straßen in Spanien auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Ich wurde Pilgerin. Peregrina. Für andere Jakobs-Pilger bedeutet Santiago das Ziel. Für mich war es nur eine Etappe. Dort, so dachte ich, hole ich den Segen für meine weitere Reise. Nicht, dass ich fromm wäre in einem kirchlichen Sinn. Aber ich mache mich nie auf den Weg ohne die Verbindung, die sich im Glauben äußert.
Zaragoza, Logroño, Burgos, León … Durchs Weingebiet des Rioja, durch die erbarmungslos kahle Hochebene der Meseta und über den nicht enden wollenden lärmigen Highway in Galicien näherte ich mich dem Ziel, das Millionen von Pilgerinnen und Pilgern seit dem Mittelalter über diese Straßen anzieht. Es ist ein Sog, dem sich kaum jemand entzieht, der davon einmal erfasst ist.
Unwiderstehlich, von weit her sichtbar, ragten die Doppeltürme der Kathedrale auf dem Stadthügel mächtig in den atlantischen Himmel, aus dem so oft die ganze Nässe des Meeres abregnet; und jetzt, an diesem Sonntagnachmittag, als die Verheißung dieses besonderen Ortes schon fast mit Händen zu greifen war, rissen die Wolken auf. Eine kleine Offenbarung.
Müde, verschwitzt und verstaubt wie jeder Pilger hielt ich Einzug auf dem prächtigen, barocken Platz vor der Kathedrale, auf dem die Besucher wie Bühnenhelden im Mittelpunkt des Geschehens stehen, sitzen, singen, beten und den Neuankömmlingen vorspielen, wie es sich fühlt, angekommen zu sein.
Lebensabschnitte soll man feiern. Wie alle Pilger suchte ich Schutz und Zuspruch unter den schweren, kerzenrauchgeschwärzten Gewölben der Kathedrale. So wie es sich von alters her gehört, schritt ich um den heiligen Jakobus herum, um ihn von hinten zu umarmen. Und abends besuchte ich die Messe. Der Prediger forderte uns auf, nach Dingen zu streben, die man nicht kaufen kann, und im Vertrauen auf Gott furchtlos weiterzupilgern. Wünschte ich mir etwas anderes?
Down
Nach gebührender Rast flitzte ich die Kurven zur Küste nach Finisterre hinunter. Diese lange, sanfte Halbinsel südlich von La Coruna, wo die alte Welt zu Ende ist, zeigt wie ein Finger hinaus ins Meer, hinüber in die neue Welt, in der ich als Pilgerin gleichsam erlöst von den Plagen des alten Europas mit neuem Mut einen zweiten Anfang beschloss.
Schließlich erreichte ich Porto, diese wunderbare Stadt im Norden Portugals, an einem tief eingeschnittenen Fjord, über den sich in weitem Bogen Eiffels berühmte, wohlgewölbte Eisenbrücke spannt. Ich hatte wenig Sinn für die Reize der blau gekachelten Häuser, die an den steilen Hängen kleben, und wenig Sinn für die Felsenkeller unten am Wasser, wo der Portwein in Eichenfässern für die Verschiffung in alle Welt heranreift. Im Grunde wollte ich bloß weg von Porto, weg von Europa, Richtung Westen, Richtung neue Welt. Aber die europäischen Plagen wollten noch nicht von mir lassen.
Tief liegende, schwere Wolken und Regengüsse raubten mir den Sinn für die Lebendigkeit dieser Stadt, die mit dem Charme ihres Zerfalls spielt. Nach einer Nacht in einem heruntergekommenen Hotel erkundigte ich mich bei Meteotest telefonisch über das Wetter in Portugal. Ralph Rickli war das Mitgefühl anzuhören. Für die nächsten fünf Tage saß ich in der Waschmaschine eines Tiefs, das mich bis Lissabon mit Niederschlägen und Stürmen eindecken würde. Mist. Missmutig schob ich mein Fahrrad über die holprigen Straßen von Porto Richtung Bahnhof. Zwei Jugendliche mussten wohl meine schlechten Schwingungen gespürt haben. Jedenfalls rief mir der eine hinterher: »I want to fuck you.«
Ihr schmutziges Gelächter gab mir den Rest. So eine Niedertracht. Nein, jetzt bloß nicht schon wieder Selbstmitleid. Wäre ich etwas besser drauf gewesen, hätte ich vielleicht gesagt: »So spricht man nicht mit einer Dame.« Aber so, wie es mir ging, forderte ich die Welt heraus, mich zum Opfer zu machen. Am nächsten Tag folgte ein dritter Tiefschlag. Diesmal aus dem Kreis meiner Freunde.
Stefan Pfander, mit dem ich nach der Everest-Besteigung mit unserer Dia-Show durch die Schweiz tourte, sollte auch für Antarctica zuständig sein. Unsere Zusammenarbeit hatten wir wie immer zuvor per Handschlag besiegelt. Wir waren einander durch Vertrauen verbunden. Wegen Missverständnissen war das Vertrauen unversehens weg. Ich kehrte sofort nach Hause zurück, um das Backoffice zur Verwaltung sowie zur Betreuung der Sponsoren und der Medien neu aufzubauen. Das war nicht vorgesehen.
Da meine Administration kein öffentliches Interesse erweckt, wollte ich meinen Abstecher in die Schweiz nicht unnötig bekannt machen. Aber bedrängt von den Medien, stellte ich mich den Interviews, obwohl es nichts zu berichten gab. Und böse Zungen meinten: Die Everest-Besteigerin hat schlappgemacht bei Wind und Wetter in Europa. Was hat die am Südpol verloren? Mit mildem Lächeln redete man mir zu: »Liebe Evelyne, überschätze dich nicht. Bleib lieber zu Hause, das ist besser für dich.« Aber ich dachte nicht daran, aufzugeben. Jeder Zweifel an meiner Entschlossenheit spornte mich erst recht zum Weitermachen an.