Kitabı oku: «Expedition Antarctica», sayfa 4

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Über Feinde

Mit Feinden pflege ich meinen eigenen Umgang. Ob es der Berg ist, ein Tier oder ein Mensch. ich bin überzeugt: Feinde sind unvermeidbar – und unverzichtbar, als Gegner, Rivalen und Spiegel der eigenen Schwächen. Es ist eine gute Fähigkeit, dem Feind Gehör zu schenken. Er ist ja in den gleichen Strukturen verfangen, von den gleichen Emotionen getrieben. In seinem Gesicht sehe ich meine eigene Fratze. Unwissentlich und unwillentlich gibt er manches preis, das sich nutzen lässt.

Deshalb liegt mir daran, meinen Feind am Leben zu halten. Ich brauche ihn für den Wettkampf. Ohne ihn und die Zuwendung, die er mir schenkt, kann ich nicht gewinnen. Als Zeichen für diese Wertschätzung darf ich ihm sogar Ehre antun. Wie jeder Schweizer Schwinger im Ring, der seinem unterlegenen Rivalen das Sägemehl vom Rücken klopft, und wie jeder Sportler, der seinem Bezwinger für seinen Sieg die Hand reicht, zolle ich meinen Feinden Respekt. Ich sehe sie eher als Gegner, die mich nicht vernichten, sondern mir zu meiner wahren Größe verhelfen. Je stärker der Feind, umso würdiger fordert er mich heraus, aus meinen Fehlern und seiner Stärke zu lernen. So gesehen ist der christliche Anspruch »Liebe deine Feinde« gar nicht so selbstlos. Wenn die Bibel empfiehlt, die andere Wange auch noch hinzuhalten, steckt dahinter die Erfahrung, dass der Schmerz und die Demütigung die Energie erzeugen, um über den Gegner und sich selbst hinauszuwachsen.

Bilanz: In den gut anderthalb Monaten war ich gemäß Karte bis Porto 2406 Kilometer und weit über 25 600 Höhenmeter geradelt. Auf dem 41. Grad nördlicher Breite war meine europäische Reise zu Ende gegangen. Auf dem gleichen 41. Grad sollte sie im amerikanischen Salt Lake City ihre Fortsetzung finden.

AUF NACH SÜDEN

Von Salt Lake City nach Peru

7. November 2006 bis 24. Mai 2007

14 500 Kilometer

Sporty Spice im Wilden Westen

Warum von Utah aus und nicht der atlantischen Küste entlang durch die USA Richtung Süden, wurde ich oft gefragt. Gewiss, dann hätte ich ausschließlich Meer überflogen. Aber nach den Erfahrungen von Europa wollte ich den Highways durch die Ostküstenstaaten so weit wie möglich ins Landesinnere ausweichen. Ich suchte das Weite.

Salt Lake City erschien mir – nach Bern und Luzern selbstverständlich – als eine der schönsten Städte der Welt. Nicht nur wegen jenes vergoldeten Tempels, der die Mormonenmetropole überstrahlt, sondern auch wegen Olympia, das nach wie vor seinen Geist verströmt und fassbar bleibt in seinen Gebäuden.

Die USA entschädigten mich in der Tat für die europäischen Leiden. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem ich Ende der Neunzigerjahre meine Ausbildung zum Commercial Helicopter Pilot genossen hatte, fühlte ich mich noch immer zu Hause. Natur pur, so weit das Auge reicht. Auf einsamen Wegen zog ich südwärts durch die Weiten des Zion National Park, die National Parks von Moab und die rostroten Einöden in den Tafelbergen von Sedona. Hier, auf Staubstraßen, auf schmalen Trails lernte ich die stillen, der Welt abgekehrten Seiten der USA kennen. Ich flitzte in Schluchten hinunter und wieder hoch auf Kreten, über denen in jedem Augenblick Lucky Luke oder der Marlboro-Mann auftauchen konnte.

Sie hätten mir wohl kaum einen Blick gegönnt. Während der ganzen Zeit zwischen Innertkirchen und dem Südpol fand die Eitelkeit wenig Raum. Es sind viele Arbeitsgänge, mit denen eine Frau ihre Weiblichkeit pflegt. Doch unterwegs: Haare waschen, Fingernägel anmalen, Augenbrauen zupfen, Achselhaare rasieren … Wozu? In meinem Outfit wirkte ich alles andere als modisch. Leibchen und Hosen trug ich meist mehrere Tage bis zur nächsten Waschgelegenheit. Wenn ich Ersatzwäsche sparte, kam ich leichter voran.

Ich übernachtete in öffentlichen Camping-Grounds ohne fließendes Wasser und leistete mir nur hin und wieder den Eintritt ins Fitnesscenter einer größeren Siedlung, um meine Spinnenarme wieder etwas zu stärken und die Segnungen einer Dusche entgegenzunehmen. So stand ich dann gelegentlich irgendwo auf dem Fahrradweg in amerikanischen Vorstädten, wo gehätschelte Hausfrauen auf ihren Luxusrädern frisch gewaschen und parfümiert ein Workout abwickelten und manchmal mit etwas Mitleid, manchmal mit Verachtung auf mich wie auf einen Outlaw niederblickten.

Nicht dass ich stolz bin darauf. Es war einfach so, dass ich mich als Randexistenz jenseits von Geschlechterrollen bewegte, übersehen, wie vielleicht sonst eine Frau, die sich zu weit von den gängigen Schönheitsidealen entfernt. Aber ich war ja nicht als Sporty Spice unterwegs. Ich war nicht unterwegs, um Frau zu sein und mir mein Selbstwertgefühl mit Kosmetik aufzubauen, sondern um den Südpol zu erreichen. Das Einzige, an dem sich der gesellschaftlich orientierte Teil meines Egos festhalten konnte, war die goldene Kreditkarte. Merkwürdig, wie so ein Plastikteil die Augenhöhe verschiebt.

Mein Fahrrad ist keins, das mir hundertmal geklaut wird, kaum habe ich ihm den Rücken zugekehrt. Umso perfekter sind damit Kilometer zu machen. Täglich pedalte ich mich sechzig bis neunzig Kilometer weiter südwärts, unbehelligt von den Unannehmlichkeiten, die mich in Europa die neue Welt hatten ersehnen lassen.

In Arziona ließ mich der Grand Canyon auf meine Art jauchzen. Ich konnte nicht anders. So schlaff die Muskeln vom Pedalen sein mochten, ich rannte die 1400 Höhenmeter des South Kaibab Trail hinunter zum Rinnsal, das durch die Schlucht rieselt, und keuchte danach über den Bright Angel Trail wieder hinauf zum Fahrrad und meinen Habseligkeiten.

Etwas weiter südlich kreuzte ich die Route Sixty-Six bei Flagstaff, Arizona: ein Name, der mir von Bobby Troups Song wie Musik in den Ohren klang. Später im Jahr brachte der Winter kältere Tage, und zwischen Flagstaff und Yuma in Arizona wird die Landschaft so öde und leer, dass kaum Nahrung aufzutreiben war und über manche Kilometer weder Handy noch ein Internetcafé den Kontakt mit dem Rest der Welt möglich machten. Ich genoss es, den Lärm der Welt für eine Weile abgeschüttelt zu haben und in die Stille zu horchen. Vor dem Einschlafen legte ich mich auf den Rücken und blickte hinauf in die Milchstraße, die sich gleißend weiß über den Nachthimmel zog. Ich zählte die Sternschnuppen, wie ich als Kind Schäfchen gezählt hatte, bis der Schlaf mich überfiel. Noch selten habe ich so viele Sternschnuppen gesehen wie in jenem November in den Wüsten im Süden der Vereinigten Staaten.

In Yuma besuchte ich den Ort Felicity mit der Postleitzahl 1. Ich lernte die Gründer Istel und Felicia kennen, die vor den Nazis geflohen waren und hier in der Wüste in den Achtzigerjahren ein Desert-Monument errichtet hatten: eine haushohe Glaspyramide, die sie zum Mittelpunkt der Welt erklärten, obwohl doch Felicity nicht einmal Distrikt-Hauptort ist. Istel ist daran, die ganze Menschheitsgeschichte in Steinplatten zu meißeln, vom Augenblick an, da Gott Adam erschuf, bis heute. Fünf lange Reihen Steinplatten stehen schon draußen unter dem stahlblauen Himmel, aber das ist erst ein Anfang. Noch fehlen etwa die griechischen Philosophen, der Buddhismus und die Geschichte der Mathematik. Allein die Renaissance wird noch 110 Steinplatten erfordern. Aber das alte Paar hat einen langen Atem. Gerade am Tag, als ich da war, wurden die Glocken aufgezogen an einer Kirche, für deren Fundament sie einen Berg von 150 000 Tonnen Erde hinkarren ließen, als ob sie beweisen wollten, dass der Glaube Berge versetzt. Istel erzählte seine Geschichte, während Felicia strickend im Hintergrund saß. Sie hat ihren Mann immer begleitet. »Weißt du, Evelyne«, sagte er, »wenn ich zu Felicia sage, wir fliegen zum Mars, fragt sie wie selbstverständlich: ›Was soll ich einpacken?‹

Wenn es in Yuma nachts von weitem grollt und der Boden unter dem Zelt zu zittern beginnt, naht wieder einer dieser endlos langen, schweren Güterzüge, die sich etwa im Viertelstundentakt folgen … Ich hatte mein Zelt aus Achtlosigkeit nicht weit von den Gleisen aufgestellt und wurde die ganze Nacht wie von innen erschüttert. Noch selten fühlte ich mich so ausgeliefert wie am Morgen, als unversehens ein Brocken eines ziemlich verwahrlosten Mannes neben mir stand: Ein Trainman sei er, sagte er. Ich wusste gar nicht, dass es das noch gibt: ein Hobo, der nicht zum Sonntagsvergnügen, sondern aus schierer Notwendigkeit auf Güterzüge zwischen Kanada und Kalifornien auf- und abspringt, um sich kostenlos zum nächsten Wanderarbeiter-Job zu verladen. In den Vierziger- und Fünfzigerjahren hatten die Hobos die Beat-Generation entzückt. Ich hatte bloß Schiss. Aber er war ein guter Kerl, der nur kam, um mich zu warnen, wie schlecht viele andere seien …

In den USA hatte ich aus der Rückschau die wohl unbeschwerteste Zeit auf der Straße verbracht – und mir doch einiges abgefordert. Am Ende des Roadmovies, nach all den Schotterpisten, klapperte das Rad wie der Schwanz einer Rattlesnake, der man zu nahe tritt. Ich zog alle Schrauben nach, reinigte und schmierte Kette und Kettenblätter – und staunte über die Gutmütigkeit meines Caballo. 2300 Kilometer und ich weiß nicht, wie viele Höhenmeter sind wir in den USA prima zusammen gefahren. Ach, wenn ich auch bei mir einfach die Schrauben anziehen könnte, wenn es mal klappert oder klemmt.

Mal sehen, wie wir die größeren Strapazen Lateinamerikas überstehen. Um ehrlich zu sein, ich brauchte schon »guts«, wie die Amerikaner sagen, bevor ich in Mexicali den Sprung über die Grenze nach Baja California wagte. Nach allem, was man so hörte.

Im Reich der Machos

2. Dezember 2006

An der Grenze zu Mexiko stoßen zwei Welten wie Schwarz und Weiß aneinander. Englisch und Spanisch, Dollars und Pesos, die Welt der Efficiency und die Welt des Mañana. Jenseits des Stacheldrahts stürzte ich in ein Wechselbad der Gefühle, das ich nicht immer ganz leicht nehmen konnte, besonders wenn der Körper auch noch krasse Klimawechsel wegzustecken hatte.

In Baja California lernte ich die Armut und die Ausgesetztheit in der Dritten Welt kennen. Diese unwegsame, fast menschenleere Halbinsel Mexikos, größer als Italien, die sich wie ein Finger von der US-Grenze aus nach Süden in den Pazifik erstreckt, lässt einen erleben, dass die Wüste lebt. Riesenspinnen in der Größe von Taranteln zuckelten über die Straße, und unter dem Zeltboden machten sich mehr als einmal Skorpione bemerkbar. Wehe, wenn sie in die Schuhe krabbeln, die ich nachts anziehe, um pinkeln zu gehen.

Aber das bekümmerte mich nicht weiter. Wer die erbarmungslose Dauersonne dieses betörend öden Landstrichs überlebt, wird auch anderswo gedeihen. Im Desierto Central dauerte es oft Tage von einem Dorf zum andern. Manche Siedlung bestand bloß aus einem Dutzend eingefallener Hütten und kaputter Wohnwagen, in denen ein paar arme Seelen und räudige Hunde wohnten. Trinkwasser und Lebensmittel waren von da kaum zu bekommen, und abends juckte die Haut von der Salzschicht, die nach heißen, durchgeschwitzten Tagen den Körper bedeckte.

Von Hunden und Menschen

Meist schlug ich mein Zelt noch vor Sonnenuntergang auf. Bei aller Freundlichkeit der Bewohner wurde die Vorsicht meine ständige Begleiterin. Nie nannte ich mein Ziel mit Namen, und nach einer Nacht in einem Dorf brach ich zuerst in die Gegenrichtung auf, und erst, wenn ich alle möglichen Verfolger abgeschüttelt glaubte, schwenkte ich auf Nebenwegen wieder auf die geplante Route ein. Mit meinem Spanisch lernte ich immerhin, dem Fluch des »Gringo« oder der »Gringa« die Spitze zu brechen.

Die Exponiertheit am Berg hast du in den eigenen Händen. Auf der Landstraße exponiert man sich ganz anderen Gefahren. Ihnen ist man blind ausgeliefert. Dritte bestimmen dein Schicksal. Im Guten wie im Schlechten. Nicht mehr mein Ich war das Problem, sondern die Umwelt um mich herum. Ich wurde Beute. Weißes, blondes Freiwild, dem Mann gnadenlos nachstellen durfte. Auf den einsamen Highways hielten die Lastwagen an. Die Fahrer pfiffen und grölten hinter mir her und ließen nicht locker, sodass mein Herz zu flattern und meine Knie zu zittern begannen, wenn wieder ein Truck, der mich soeben überholt hatte, rechts am Rand anhielt, als ob er eine Panne hätte. Anfangs glaubte ich, der Fahrer brauche eine hilfreiche Hand für die Reparatur, bis offensichtlich wurde, dass er bloß seine fünf Glieder kaum im Zaum halten konnte.

Schon nach den ersten paar Tagen in Mexiko litt ich unter dem Machismo, wie nur eine Gringa darunter leiden kann. Ich war so genervt, dass ich mich in die Berge zurückzog, bevor ich mich wieder auf den Sattel wagte. Und zwar nur noch bewaffnet. Ein Elektroschocker, der Angreifer in eine längere Bewusstlosigkeit schickt, gab mir die Selbstsicherheit, meine einsame Spur von Norden nach Süden weiterzuziehen. Ich fragte mich oft, ob ich nicht doch auf den Geschäftsmann mit seinen Bodyguards hätte hören sollen. Die Tatsache, dass ich noch am Leben bin, beweist noch nicht, dass er unrecht hatte. Bloß, dass ich noch einmal davongekommen bin.

Gewiss, kein Wesen zeigt sich so undurchschaubar wie ein Mensch in feindlicher Absicht. Aber auch die Hunde machten mir zu schaffen, kaum war ich in Mexiko. Bis hinunter nach Chile streunen sie durch Dörfer und Felder und lauern jedem auf, der in ihre Riechweite kommt. Einzeln oder in Rudeln verfolgen sie alles, was sich bewegt, um mit lautem Gebell, gesträubtem Fell und fletschenden Zähnen Beute zu machen. Eine Flucht mit vierzig Kilo Gepäck auf dem Fahrrad ist aussichtslos. Selbst auf ebener Strecke, geschweige denn bergauf. Habe ich nicht vorhin gesagt, Feinde seien Spiegel der eigenen Schwächen? Diese Hunde. Ich beobachtete, dass sie meist einen Augenblick zögern, um die Kräfteverhältnisse abzuschätzen, bevor sie zum Angriff anhetzen. Das ist der Augenblick, vom Sattel zu springen, Steine zu werfen und ihnen fest entschlossen und schreiend entgegenzuschreiten.

Das kostet Kraft, oft mehrmals am Tag, doch reizt der Sieg umso mehr, als die Bauern der Umgebung den Wettkampf mit erbarmungsloser Gleichgültigkeit verfolgen. Sie pfeifen die Hunde nicht zurück, reagieren aber auch nicht, wenn einer, von einem Stein getroffen, winselnd das Weite sucht. In meiner Angst-Wut schrie ich dann »No me gustan los perros« – ich mag keine Hunde – und hatte wenigstens das Gelächter auf meiner Seite.

Kurz vor Loreto, der einzigen Stadt weit und breit im südlichen Baja California, traf ich Jörg und Andrea, ein deutsches Tourenbiker-Paar, die einen ähnlichen Weg wie ich in den tiefsten Süden Südamerikas vor sich hatten. Mein Ziel war Punta Arenas, das ihre Ushuaia. Es tut gut, ein bisschen zu klönen, ohne groß erklären zu müssen, warum und worüber man klönt. Doch unsere Wege sollten sich bald wieder trennen. Die beiden suchten einen Umweg rund um die beiden mexikanischen Provinzen Oaxaca und Chiapas herum. Für mich flog Sandro ein, um an meinen Erlebnissen Anteil zu nehmen. Er begleitete mich mit dem Auto durch die mexikanischen Staaten Mexico City, Puebla, Oaxaca und Chiapas bis San Cristóbal de las Casas, nahm mir in der schwersten Hitze das Gepäck ab – und gab mir Begleitschutz vor der Zudringlichkeit so mancher mexikanischer Männer.

Jörg, Andrea und ich sollten uns noch zwei-, dreimal wiedersehen, doch auch wenn wir verschiedene Wege fuhren, verband uns das Wissen um unsere ähnlichen Hoffnungen und Ängste während mancher einsamen Stunde irgendwo zwischen Himmel und Erde.

Rund 4000 Kilometer Luftlinie sind es in Mexiko von Grenze zu Grenze, und die Einsamkeit im Hochland ist ebenso hinreißend wie das Leben in den Städten. Die Kolonialstadt Guadalajara, »die Perle Mexikos«, wie die Reiseführer einander durchs Band weg abschreiben, gilt als die zweitgrößte und mexikanischste der mexikanischen Städte, geprägt von historischen Prachtbauten, Mariachi-Musik und dem Chic einer globalen Metropole: Gelegenheit, Material und Kleider zu ersetzen und mich für die nächsten paar Tausend Kilometer Provinz auszustatten.

Indios

Trotz allen Widerständen, die mir das Leben in Mexiko erschwerten, begeisterte ich mich doch für den Reichtum von Natur und Kultur. Meine Befindlichkeit schwankte wie eine Schalenwaage regelmäßig und heftig um ein labiles Gleichgewicht herum. Auf glückshormongesättigte Tage folgten schwarze und umgekehrt. Durch diese innere Gesetzmäßigkeit einer stabilen Instabilität lernte ich, die schwarzen Tage wegzustecken, bevor sie begannen, und die guten Zeiten umso rückhaltloser und bewusster zu genießen. Oft waren es Indios, die meiner Erkenntnis kleine Glanzlichter aufzustecken vermochten.

Sie, die einem oft grußlos begegnen und achtlos ihres Weges gehen, lassen uns gleichzeitig eine Fremdheit und eine tiefere Verwandtschaft spüren. Sie leben so nah zur Natur wie wohl auch wir in vergangenen Zeiten. Dürre, Flut und Plagen sind sie wehrlos ausgeliefert, doch eine Wirtschaftskrise, bei der wir für unser Vermögen vor der Bank Schlange stehen, kann sie kaum berühren. Jenseits von fließendem Wasser und elektrischem Strom schenken ihnen ein Esel, eine Sau und ein Acker was sie brauchen zum Leben – wenn sie sich dieses Geschenk mit genügend harter Arbeit verdienen. Manche Frauen, deren Haar offen den Hintern bedeckt, tragen Zöpfe. Sie kennen kein L’Oréal, kein Kérastase und kein Redken, und doch schimmert ihr Haar noch mit sechzig in gleißendem Schwarz.

Statt über Oaxaca de Juárez zu fahren, wählte ich einen kleinen Pass in einer öden Gegend auf 2800 Meter über Meer. Auf den Dächern der Lehmhäuser trocknete Mais. Die Landschaft erinnerte mich an die ausgestorbenen Dörfer des Nordtessins. Während ich mich keuchend und ausgedörrt vom Aufstieg an einem Brunnen im Bergdorf Benito Juárez erholte, kam ein alter Mann auf mich zu. Sein Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht, und wenn er lächelte, sah man, dass er kaum mehr Zähne hatte. Er erzählte, wie schön das hier früher mal war, als Blumen blühten und die Kartoffel mehr als genug zum Leben hergab. Dann kamen amerikanische Düngemittelvertreter und versprachen weltliche Wunder. Mit den geeigneten Pulvern würden die Kartoffeln viel größer und zahlreicher werden. So war es denn auch. So große Kartoffeln hatte der Mann zuvor und danach nicht mehr gesehen. Aber die Freude währte nur kurze Jahre. Die Äcker verwüsteten. »La patata y las flores ya no quieren darse«, sagte der Mann mit einer Geste des Staunens und der Verzweiflung, da sich das Wunder nicht mehr einstellen wollte. »Die Kartoffel und die Blumen wollen sich nicht mehr zeigen.« Der Mann meinte, seither lebten sie mehr von Mais als von Kartoffeln, aber der Boden sei dennoch verwundet. »Que pena.« Welches Leid. Für den Mann sind Kartoffeln und Blumen etwas Beseeltes, deren Willen es zu respektieren gilt, weil aus jeder Seele das Göttliche spricht.

In diesem Dorf übernachteten Sandro und ich zweimal bei einer Frau voller Energie. Von ihr und anderen Indios lernte ich viel über die Kraft des Gebetes und des Bewusstseins. Überdies erhielt ich Einsicht in einen anderen Umgang mit Zahlen und Zeit und der Kunst, die Dinge zu nehmen, so wie sie sind.

Tiefer im Süden von Chiapas machten wir halt an einem Haus, vor dem auf einem Holzkohlenfeuer ein Suppentopf stand. Wer hier vorbeikam, rastete für eine Weile und ließ sich den Teller füllen. Neben der Herdstelle stand ein Tisch so nahe am Feuer, dass die Plastikplatte anschmorte. Sandro sagte: »Die Tischplatte schmort an.« Ohne sich umzusehen, rührte die Frau weiter in ihrer Suppe. Sie sagte: »Das ist, weil der Tisch so nahe beim Feuer steht.« Sandro war drauf und dran gewesen, den Tisch beiseitezuschieben, doch nun ließ er es bleiben. Jedem Ding sein Ort, und der Ort des Feuers war nun mal nahe beim Tisch.

Die gleiche Selbstverständlichkeit ließ immer wieder Leute an Bushaltestellen warten. Sie warteten wie Katzen vor einem Mausloch, mit geduldiger Zuversicht. Egal, wie lange sie warten, irgendeinmal erscheint die Maus. Vielleicht eine große, vielleicht eine kleine. Irgendeinmal kommt der Bus. Ob das nächste Dorf einen Kilometer, zehn oder hundert Kilometer entfernt liegt? Spielt das eine Rolle? Wir warten. Einmal wird ein Bus hinfahren.

Ich nahm mir die Haltung immer wieder zum Vorbild. Aber dem Vorbild nachleben konnte ich kaum. Nur hie und da fühlte ich mich auf dem richtigen Weg. Der Kilometerzähler fehlte mir nicht mehr.

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