Kitabı oku: «Inferno Ostpreußen», sayfa 6
2.2.3. „In weltanschaulicher Hinsicht für den Einsatz durchaus geeignet“
Gille sollte ab Oktober 1941 als Kriegsverwaltungsrat beim Befehlshaber des Rückwärtigen Heeresgebietes Süd tätig werden. Er baute ab November 1941 die deutsche Militärverwaltung der bedeutenden Industriestadt Saporoshje in der Ukraine auf.
Die Stadt am Dnjepr hatte nach der Oktoberrevolution in Russland einen starken wirtschaftlichen Aufschwung genommen. Das im II. Weltkrieg zerstörte Dnjepr-Kraftwerk hatte Elektrizität für gewaltige metallverarbeitende Betriebe geliefert, unter ihnen die Metallurgischen Werke „Saporoshstahl“ und „Dnjepr-Spezialstahl“. Außerdem gab es Eisengießereien, die Produktion von Mähdreschern, Transformatoren und Lebensmitteln. Die Stadt war 1939 auf 289 000 Einwohner angewachsen. Sie fungierte als Hauptstadt des gleichnamigen Gebiets, besaß zwei Hochschulen, eine Pädagogische und eine für Landmaschinenbau.170
Als dort eine deutsche Zivilverwaltung eingeführt werden sollte, bat Koch darum, ihm den Mann als Gebietskommissar für das Kreisgebiet Saporoshje-Stadt zu erhalten. Im März 1942 wurde er vom Reichsminister für die besetzten Ostgebiete für die Verwaltung in den besetzten sowjetischen Gebieten vorgeschlagen. In einer Beurteilung heißt es, nach „seiner Haltung in weltanschaulicher Hinsicht ist er für den Einsatz durchaus geeignet“. Der Landrat bestätigte im Mai, Gille biete die Gewähr, „jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einzutreten“. Im September 1942 erfolgte durch Entscheid des Oberkommandos des Heeres die Entlassung aus dem Militärbeamtenverhältnis. Gille wurde zum Dienst beim Reichskommissar für die Ukraine, also seinem Gauleiter Koch, dessen Dienststelle zu der Zeit in Rowno sitzt, freigestellt. Die Zuweisung erfolgte im November 1942.171
Während dieser beiden Jahre (1941/42) spielt sich in Ostpreußen ein heißer Papierkrieg um den Lötzener ab. Sein Landrat, der Regierungspräsident in Allenstein und der (stellvertretende) Oberpräsident in Königsberg kämpfen um Gilles Freistellung vom Einsatz im Osten. Der heimische Ersatzmann des Bürgermeisters soll zu den Streitkräften eingezogen werden, ein Nachfolger ist vor Ort nicht zu finden. In einem Briefwechsel mit dem Ministerium für die besetzten Ostgebiete und dem Reichsinnenministerium wird versucht die Freistellung zu erreichen. Man findet im April 1943 einen Ausweg durch Einsatz des Bürgermeisters Eichholz aus Soldin.172 So bedeutsam ist den Beteiligten der Verwaltungsfachmann. Lange kann sich Gille aber nicht seiner Funktion erfreuen. Am 14. Oktober 1943 erobert die Rote Armee „seine“ Stadt.173 Gille begibt sich Richtung Heimat. Irgendwo erreicht ihn eine Art Trostbrief seines Chefs, des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete. Der schreibt dem Mann am 19.10.: „Im Hinblick auf die veränderten Verhältnisse in den besetzten Ostgebieten besteht für Sie z. Zt. keine Verwendungsmöglichkeit mehr.“ (sic!) Der Minister hält es zugleich für notwendig den Satz hinzuzusetzen: „Auf die Verpflichtung zur Wahrung des Amtsgeheimnisses auch nach Beendigung Ihres Osteinsatzes weise ich besonders hin.“174
2.2.4. Amtsgeheimnisse
Nach der Eroberung durch die Wehrmacht interessierten sich deutsche Firmen für die großen Betriebe der Stadt Saporoshje.175 Unter ihnen die Stahlwerke Braunschweig („Hermann-Göring-Werke“), die Vereinigten Aluminiumwerke, Junkers (Flugzeuge) und Bosch (Elektrische Instrumente).176 Braunschweig übernahm Mitte 1942 das Stahlwerk. Man versuchte, das Werk in Gang zu bringen. Das gelang nur in geringem Maße. Es lieferte zwar monatlich einige Tausend Tonnen Stahl177, doch wurde eine Steigerung durch eine andere deutsche Behörde behindert: Der thüringische Gauleiter Fritz Sauckel als Beauftragter für die Beschaffung von ausländischen Zwangsarbeitern zog Arbeitskräfte in solchem Maße aus der Stadt ab, dass die Produktion vor Ort gefährdet wurde.178 Das wurde sogar in den inneren Kreisen des Apparates missmutig registriert. So äußerte sich der Stadtkommandant von Saporoshje „vertraulich“ gegenüber einem deutschen Journalisten, dass die Produktion sich noch besser entwickeln würde, wenn Sauckel nicht so viele Arbeitskräfte abziehen würde.179
Das Aluminiumkombinat eignete sich die „Aluminiumindustrie AG Berlin“ an.180 Es konnte die Produktion gar nicht erst aufnehmen. Daraufhin wurden die entscheidenden Anlagen in großem Umfang demontiert.181
Für den Fall eines Rückzugs der Wehrmacht aus der Stadt hatten die Behörden insgesamt eine moderne Kokerei, ein Hochofenwerk, ein Stahlwerk und verschiedenen Hallen zur „Ausschlachtung“ vorgesehen.182 Beim realen Rückzug entnahmen sie rund 50 000 t Roheisen, Stahl und verschiedene Mengen Metallerz,183 aus dem Aluminiumkombinat 250 t des Metalls.184
Während der deutschen Herrschaft wurden 174 400 Zvilisten aus dem gesamten Gebiet, unter ihnen 58 000 Bürger der Stadt, nach Deutschland zur Zwangsarbeit gebracht.185 Als Zwangsmittel zur Durchsetzung der Arbeitspflicht wurden eingesetzt: Gefängnishaft, Arbeitslager, Todesstrafe, Massenmorde, Deportation nach Deutschland.186 (Die Aufzählung der Maßnahmen ist nicht ganz logisch, denn „Deportation nach Deutschland“ war im Verständnis von Sauckel keine Strafe, sondern Ziel seiner Arbeit, Fs)
Wie in allen zeitweilig von der Wehrmacht eroberten Orten wüteten hier die Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes der SS. Saporoshje gehörte zum Wirkungsfeld der Einsatzgruppe 6 (Dnjeprbogen) des Einsatzkommandos C. Die Gruppe hat am 13. 10. 1941 alleine in Dnjepropetrowsk von 30 000 Juden 10 000 erschossen, weitere 1 000 bis zum 19. 11. 1941.187
Aus einer sowjetischen Quelle ergibt sich folgende Situation: Der Generalkreis (?) im Reichskommissariat Ukraine „Taurien“ hatte als Zentrum Melitopol mit den linksufrigen südlichen Teilen der Gebiete Cherson und Saporoshje, Dnjepropetrowsk mit einem Teil des Gebiets Saporoshje.188 Die dort wirkende Einsatzgruppe D hatte das Einsatzkommando 12. Dieses war im Herbst 1941 im „Raum westlich der Linie Melitopol – Wasiljewka bis zum Dnjeprbogen südlich Saporoshje“ aktiv. Es meldete die Gegend als „judenfrei“. Bis zum 30. September 1942 hatte die Gruppe D es geschafft, 35 782 Juden und Kommunisten zu ermorden.189
Insgesamt sollen während der deutschen Herrschaft im Gebiet Saporoshje 86 700 Zivilisten durch Erschießungen als Geiseln, zur Vergeltung für Anschläge sowie bei Anti-Partisanenunternehmen umgebracht worden sein, außerdem 10 900 sowjetische Kriegsgefangene.190
Für den Raum der Stadt sind bisher folgende deutsche Aktivitäten bekannt geworden:
– 13. 10. 1941: Beginn der Registrierung der jüdischen Bevölkerung.191
– Im Frühjahr 1942 wurden Arbeiter des Werkes „Saporoshstal“ mit Entzug der Brotkarte für einen Monat bestraft. (Das war einer Verurteilung zum Hungertod gleichzusetzen.)192
– 29. 11. 1941: Der deutsche Feldkommandant von Saporoshje erlässt einen Befehl, der der Bevölkerung verbietet, den Wohnort ohne Genehmigung der deutschen Behörden zu wechseln und Lebensmittel außerhalb der Stadt zu kaufen.193
– 08. 12. 1941: Die deutsche Zeitung „Neues Saporoshje“ enthält eine Mitteilung der Feldkommandantur über die Einführung der Todesstrafe für Saboteure und über Durchkreuzung aller Sabotageversuche.194
– 24. 03. 1942: Deutsches Militär195 erschießt am Stadtrand von Saporoshje, „am Panzergraben außerhalb der Stadt“, 3 700 jüdische Alte, Frauen und Kinder.196
– Im März 1942 wurden 50 Illegale verhaftet.197
– 22. 04. 1942: „Neues Saporoshje“ veröffentlicht den Befehl der Feldkommandantur über die Anwendung der Todesstrafe gegen Personen, die Arbeiten für die Deutschen ablehnen.198
– 26. 04. 1942: Im Kreis Ordshonikidze von Saporoshje ist eine illegale Gruppe entstanden, zu ihr gehören die wichtigsten Mitarbeiter des Betriebes „Saporoshstal“. Die Sowjetbürger stören die Maßnahmen der deutschen Behörden zur Ingangsetzung des Betriebes, sie verbreiten Flugblätter und stören die Produktion.199
– 12. 06. 1942: In dem Dorf Snamenka des Saporoger Gebietes werden 300 Menschen erschossen.200
– 05. 07. 1942: Der Militärkommandant und der Reichskommissar der Ukraine verkünden die Anwendung der Todesstrafe für Hilfe an Partisanen und Kriegsgefangene, das Verschweigen oder die nicht rechtzeitige Information über deren Aufenthaltsort.201
– 24. 10. 1942: Der Stadtkommissar von Saporoshje hat einen Befehl über die Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht erlassen. Danach muss sich die gesamte Bevölkerung zwischen 15 und 55 Jahren sofort in der „Arbeitsverwaltung“ registrieren lassen, Verstöße werden mit Konzentrationslager (?) bestraft.202
– 07. 01. 1943: In einem Dorf des Saporoger Gebietes werden 10 Mitglieder einer Jugendgruppe im Widerstand erschossen.203
– 17. 02. 1943: Gegen 22 Uhr erschossen Widerständler im Nordwestteil von Saporoshje-Altstadt einen deutschen Sonderführer. Als Sühne wurde befohlen, zehn Kommunisten zu erschießen. Die Ermordung erfolgte am 20. Februar vormittags. Jeder weitere Überfall auf deutsche Soldaten und Wehrmachtangestellte würde künftig in immer stärkerem Maße mit Blut geahndet werden, drohte der Militärkommandant der Stadt an.204
– 26. 02. 1943: Der Stadtkommissar von Saporoshje (Gille?) verlautbart, die Verweigerung der Arbeitspflicht werde mit Todesstrafe belegt.205
– 05. 03. 1943: Erich Koch erklärt in Kiew: „Wir sind die Herrenrasse und wir müssen verstehen, dass der geringste deutsche Arbeiter in rassischer und biologischer Hinsicht tausendmal wertvoller ist als die hiesige Bevölkerung.“206
– 11. 09. 1943: Der Gebietskommissar der Stadt Osipenko des Saporoger Gebietes verweist auf die Todesstrafe für Personen, die die Evakuierung ablehnen. In der Stadt werden etwa 4 000 Einwohner erschossen und verbrannt.207
– Im September 1943 hatten die Illegalen einen Aufstand zur Unterstützung der Roten Armee geplant. 300 bis 400 Leute hatten sich in einem Tunnel des Aluminiumwerkes bereitgestellt. Die deutschen Behörden hatten das bemerkt und versuchten, sie auszuräuchern. 24 Leute erschienen und wurden erschossen, darunter vier Kinder. Der Rest verblieb bis zur Ankunft der Roten Armee am Ort.208
Und von all diesen Untaten will der Verwaltungschef der Stadt nichts gewusst haben? Er, der im Verlaufe von zwei Jahren der NS-Politik im Ort vorstand, hat in kein Verbrechen Einblick gehabt? Selbst die in nur geringer Zahl erhalten gebliebenen Akten des Herrn Stadtkommissars im Staatsarchiv Saporoshje bezeugen etwas anderes. Schön, er mag keinen Bürger der Stadt mit eigener Hand getötet oder geprügelt haben. Das hatte er auch nicht nötig. Bei so genannten Vergehen von einheimischen Mitarbeitern meldete er diese dem SS- und Polizeistandortführer, mit der Bitte um „Regelung“ der Angelegenheit.209
Gille wusste, was dort geschah, hatte er doch selbst mehrfach die Einwohner öffentlich gewarnt: Sämtliche Jahrgänge von 1922 – 1926, also die Siebzehn- bis Einundzwanzigjährigen, mussten sich für die Arbeit im Reich dienstverpflichten. Wer der Arbeitsdienstpflicht nicht nachkomme, habe mit schweren Strafen210 zu rechnen: Zuchthaus, Gefängnis oder Einweisung in ein Zwangsarbeitslager.211 Wer seine Arbeitsstelle verlasse, dem drohte Gille mit mehrjährigen Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen.212
Alleine in den Monaten März und April 1942 mobilisierte seine Stadtverwaltung 2 138 „Arbeitskräfte“ für die deutsche Kriegswirtschaft, unter ihnen befanden sich 607 Frauen.213 Zwangsverpflichtete führten auch Arbeiten im Auftrag der Administration aus. Das geschah unter den schwierigsten Bedingungen. So mussten Arbeiter beim Ausladen von Wagen (?) oft ohne Mittagspause und bis zu fünfzehn Stunden arbeiten.214 Für Schanzarbeiter war ein Acht-Stunden-Tag vorgesehen, sie erhielten kein Mittagessen und mussten das Brot aus eigener Tasche zahlen.215
Im September 1943 wurde es der deutschen Führung klar, dass Saporoshje bald nicht mehr zu halten sein werde. Daher wurden besonders wertvolle Maschinen und Fabriken zusammen mit Inventar und Facharbeiterschaft in den Westteil der Ukraine verlegt,216 unter anderem der Schlachthof sowie die Waggon- und die Holzfabrik.217
Die zurückbleibenden Zivilisten wurden zum Ausbau von Verteidigungsstellungen herangezogen.218 Der dauerte nicht lange. Am Monatsende verlangte Gille in einer Bekanntmachung, dass sämtliche Einwohner die Stadt bis zum 04. Oktober zu verlassen hätten. Wer den Befehl missachte, werde „als Feind betrachtet“ und entweder in ein „Kriegsgefangenenlager eingewiesen oder erschossen“.219 Der Roten Armee sollte eine Wüste gelassen werden.
Aus den vorliegenden Dokumenten ergibt sich, dass Dr. Gille mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht an der Vernichtung der Juden von Saporoshje beteiligt gewesen sein kann. Die war vor Antritt seiner Dienstzeit abgeschlossen worden. Angesichts seiner engen Zusammenarbeit mit dem SS- und Polizeistandortführer muss er aber davon unbedingt Kenntnis erlangt haben. Es erscheint unmöglich, dass er davon nichts gewusst haben soll. Zum zweiten wusste er, dass die slawische Bevölkerung nach rassistischen, menschenverachtenden Kriterien behandelt wurde (Verpflegung, Wohnung, Entlohnung). Er selbst hat diese nationalsozialistische Politik sehr aktiv gestaltet und damit sein Einverständnis mit dieser verbrecherischen Praxis bewiesen.
Am 14. Oktober 1943 befreite die Rote Armee Saporoshje. Damit beendete sie die Herrschaft dieses hitlertreuen Ostpreußen.
2.2.5. Er schwieg, „Treu bis in den Tod“
Am 03. Oktober 1948 treffen sich in Hamburg Vertreter jedes ostpreußischen Heimatkreises. Alfred Gille nimmt daran teil und wird in den „Ostpreußischen Arbeitsausschuss“ gewählt.220 Bald danach wird die Landsmannschaft Ostpreußen und der Bund der Vertriebenen (Bd V) gegründet, Gille wird zum Landesvorsitzenden des Bd V Schleswig-Holstein gewählt. Er tritt in dieser Zeit der neonazistischen „Gesamtdeutschen Partei“ bei und wird dort stellvertretender Vorsitzender.221 Von Februar 1952 bis zum März 1966 ist er dann als Sprecher (Präsident) der Landsmannschaft Ostpreußen tätig.222 Die Bundesrepublik zeichnete ihn im September 1968 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse aus.223
In der offiziellen Beschreibung seines Lebens durch die Landsmannschaft Ostpreußen wird für die NS-Zeit nur auf seinen Militärdienst gegen Ende des Krieges verwiesen, der Einsatz in Saporoshje wird unterschlagen.224
Welchen Geist er in der Landsmannschaft verbreitete, wird aus einer Rede ausgerechnet am 08. Mai 1965 ersichtlich. Da bezeichnet er den 08. Mai 1945, den Tag der Befreiung, wie ihn der Bundespräsident Richard von Weizsäcker später nannte, „den schwärzesten Tag der deutschen Geschichte“, er warnt vor den „drohenden Gefahren der bevorstehenden bolschewistischen Deutschlandhetze“.225 Er wirbt für die Rückwanderung der Vertriebenen und verspricht: Die deutschen Ostpreußen würden „die Menschenrechte, die Menschenwürde der heute dort lebenden Menschen achten“.226
Gewiss hat er sich an die Weisung des Ministers gehalten und seinen Mitgliedern verschwiegen, was alleine in seinem Herrschaftsbereich getan worden ist, das Hass- und Rachegefühle bei den groß- und weißrussischen wie auch den ukrainischen Bauern im Rotarmistenkittel entfachen musste.227 Eine Distanzierung gar gegenüber den NS-Verbrechen ist nicht bekannt geworden. Jedenfalls findet sich z. B. in den Jahrgängen 1962 bis 1965 von „Das Ostpreußenblatt“, dem Organ der Landsmannschaft Ostpreußen, kein Wort über die von ihm und seinesgleichen geschaffenen Ursachen des Verhaltens der Rotarmisten, bzw. der Vertreibung, nichts auch über eine Entschuldigung oder ein Bußbekenntnis.
In all seinen öffentlichen Auftritten zeigt er sich immerhin als vollständig der Sprache der Bundesrepublik angepasst. Nur selten entschlüpfen ihm Ausdrücke, die aus seiner braunen Vergangenheit stammen. So beschimpfte er Menschen, die in den sechziger Jahren in Westdeutschland unter dem Eindruck der deutschen Verbrechen für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze eintraten, im typischen NS-Jargon als „Verzichtspolitiker“228 oder auch als „Schädlinge“229, die ihr „verräterisches Treiben“ einstellen sollten.230 Wütend wandte er sich gegen alle „Verzichtstendenzen“.231 Und die Landsmannschaft bezeichnete er gar im Goebbels-Stil als einen „politischen Kampfverband“.232 Gegenüber allen Organen der Bundesrepublik forderte Gille konsequent „die absolut klare und unmissverständliche Vertretung unserer Rechtsansprüche“.233 Darunter verstand er die Rückführung seiner Landsleute in ihre alte Heimat und die Wiedereingliederung der Provinz in die Bundesrepublik Deutschland.
Allerdings ist festzuhalten, dass Gilles politische Forderungen bis hinein in die sechziger Jahre vollen Rückhalt sowohl bei Vertretern der CDU-geführten Bundesregierung unter Konrad Adenauer fanden als auch bei der SPD-Opposition. So nannte Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (CDU) in einer Rede auf einem Treffen der Landsmannschaft die Vertriebenenverbände ein „prägendes Element unseres jungen Staates“. Er beendete seinen Auftritt mit dem Ausruf „Ostpreußen – deutsch und frei!“.234 Und der stellvertretende SPD-Vorsitzende Herbert Wehner, Mitglied des Bundestages, bekannte in einem Brief an das gleiche Treffen, den Gille dort vortrug: „Ich stelle mich an die Seite der Heimatvertriebenen“. Der Oberste aller Ostpreußen lobte ihn dafür, er habe „den seltenen Mut … auszusprechen, was sie (die Sozialdemokraten, Fs) selbstkritisch eingesehen haben.“235
Es war aber ein ebensolcher Sozialdemokrat, der Bundeskanzler Willy Brandt, der 1970 in Warschau die Oder-Neiße-Grenze anerkannte und damit den Weg betrat, der 1990 zur endgültigen Anerkennung der Linie durch beide deutsche Parlamente führen sollte. Das war der Anfang vom Ende des Einflusses der Unbelehrbaren á la Gille in den Landsmannschaften und auf die Entwicklung der jungen Demokratie.
3. … wird den Sturm ernten
3.1. Stalin und die Oder-Neiße-Grenze 236
Die Oder-Neiße-Linie bildet heute die Staatsgrenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen. Bisher wird die Rolle Stalins bei der Entstehung dieser Linie kaum reflektiert. Ich stelle mir hier nicht die Aufgabe, eine umfassende Geschichte der Entstehung der Oder-Neiße-Grenze abzufassen.237 Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Aufdeckung der Rolle des Generalsekretärs der KPdSU im Prozess der Schaffung dieser Grenzlinie. Vorweg gesagt: Der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Josef Wissarionowitsch Stalin war Hauptinitiator und unentwegter Einpeitscher bei der Festlegung der neuen Grenze. Ich stütze mich dabei bevorzugt auf sowjetische, russische und polnische Quellen.
3.1.1. Das große Komplott
3.1.1.1. Die deutsch-sowjetischen Verträge vom Herbst 1939
Am 23. August 1939 unterschrieben Wjatscheslaw Molotow, Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR und Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, sowie Joachim Ribbentropp, deutscher Reichsminister des Auswärtigen, einen „Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion“ sowie ein „Geheimes Zusatzprotokoll“. Darin definierten beide Mächte ihre „Einflusssphären in Osteuropa“. Deutschland sicherte der Sowjetunion das Gebiet von Wilna zu, wenn es im Baltikum zu „territorialen und politischen Veränderungen kommen“ sollte. Für den Fall von „Veränderungen in Polen“ würden die Einflusssphären beider Staaten „ungefähr durch die Narew-, Weichsel- und Buglinie begrenzt“. Die Unabhängigkeit und die Grenzen des polnischen Staates würden „durch den Gang der zukünftigen politischen Ereignisse bestimmt“.238
Mit dem August-Vertrag ebnete die Sowjetunion Hitler den Weg nach Warschau. Die darin anvisierten „zukünftigen politischen Ereignisse“ kamen nur eine Woche danach in Gang. Am 1. September löste Hitler sie aus. Die deutsche Wehrmacht überfiel die Polnische Republik. Die Sowjetunion ihrerseits fiel am 17. der kämpfenden polnischen Armee in den Rücken und besetzte Ostpolen. Diese Territorien wurden als West-Weißrussland und West-Ukraine in die Sowjetunion eingegliedert.239
Einen guten Monat nach dem ersten Vertrag, am 28. September 1939, Polen lag am Boden, war der erste Schritt auf diesem Weg gemacht, besaßen Hitlers und Stalins Herrschaftsbereiche eine gemeinsame Grenze. Es konnte der zweite Schritt folgen, der „Deutsch-Sowjetische Freundschafts- und Grenzvertrag“. Wie in seinem Text ausdrücklich festgehalten, sei er „nach dem Zerfall des Polnischen Staates“ abgeschlossen worden. In dem Dokument wurde die zwischen beiden Staaten in dem eroberten Polen festgelegte Linie als „die Grenze ihrer beiderseitigen staatlichen Interessen“ bestimmt. Diese unterliege „keinerlei Einmischung seitens anderer Mächte“. Beide Vertragspartner sicherten sich gegenseitig die volle Freiheit zu jeglichem „staatlichem Umbau“ im jeweiligen Okkupationsgebiet zu.240
Mit dem Abkommen versetzte Stalin, der mit seiner Partei verbundenen internationalen Arbeiterbewegung einen schweren Schlag. Es bedeutete faktisch eine Reinwaschung der nationalsozialistischen Politik.241 Von nun an, bis zum NS-Überfall auf die Sowjetunion, wurde die kommunistische Bewegung zu einem ganz offenen Ausführungsorgan der sowjetischen Diplomatie.242 Das war nicht die einzige Auswirkung der Verträge. Mit ihnen schufen die Beteiligten faktisch die Voraussetzungen zum Entstehen der heutigen Ostgrenze Deutschlands. Weil Stalin die polnischen Ostgebiete an die Sowjetunion angegliedert hatte, war er gezwungen, in allen diplomatischen Verhandlungen während des II. Weltkrieges diese Besitznahme zu verteidigen, zugleich aber auch über eine territoriale Kompensation zugunsten Polens nachzudenken. Er fand sie in der Westverlagerung der deutschen Ostgrenze. Diese Chance erhielt er durch den deutschen Angriff auf die UdSSR am 22. Juni 1941.
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