Kitabı oku: «Zeppelinpost», sayfa 3

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Mitte August war ich schließlich so weit. Ich musste mit Burgl in Kontakt treten. Noch vor Studienbeginn! Ich spürte, dass sich mein Zeitfenster zu schließen begann. Auch ihre fortschreitende Schwangerschaft war eine Grenze, die das Ende der Möglichkeit, sie kennenzulernen, bedeutete. In den Wochen am Fenster war ein Plan entstanden, mit dem das Vorhaben gelingen konnte: Mein Drei-Punkte-Plan sah vor, dass die erste Phase ›Carl wird Burgls bester Freund‹ bis in den späten September laufen würde und ich bis zur Geburt des Kindes die nächste Stufe ›Carl wird zum begehrten aber unerreichbaren Mann‹ abgeschlossen haben sollte. Die dritte Stufe sollte den gönnerhaften Freund zum ungestümen, aber zuverlässigen Liebhaber werden lassen. Von der Freundschaft zur Liebe in nur drei Schritten. In meinem Kopf war der Plan perfekt.

Ich glaube, dass mich Burgl in den folgenden Wochen und Monaten der ersten Wandlungsstufe tatsächlich schätzen lernte und mein Plan bis dahin perfekt funktionierte. Aber natürlich begehrte, geschweige denn liebte sie mich in dieser Zeit nicht. Noch nicht. Das war ja auch gar nicht vorgesehen. Sie erzählte mir viel von sich und ihren Sorgen und Ängsten. Ich wurde zum Sorgenonkel und Freund. Wir verbrachten den restlichen August, den ganzen September und den halben Oktober damit, an der Isar spazieren zu gehen und zu reden.

Mich hat die Tatsachte, dass Burgl, der ehemals allseits begehrte und beliebte Star des Viertels, Zeit mit mir verbringen wollte, nachhaltig beeindruckt. Vor allem weil diese Gespräche so einen großen Einfluss auf das, was später noch geschah, hatten.

Ich traf Burgl zu bestimmt mehr als zwanzig Spaziergängen, an die ich mich noch sehr detailliert erinnere. So detailliert, dass ich sie noch fast Wort für Wort im Kopf habe.

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17. August 1919 – Erster Spaziergang

Ich hatte Burgl zuvor schon vom Fenster aus gesehen und tat so, als würde ich einen Botengang erledigen müssen, um sie wie zufällig auf der Straße zu treffen. »Dem Vater die Zeitung holen«, wollte ich behaupten. Ich fühlte mich mutig genug und rannte die Stiege hinunter und mit Absicht Burgl in die Arme.

Burgl: Endlich mal einer, der zu mir läuft und nicht weg.

Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich sagen soll.

Sie: Du bist der Carl, oder?

Ich: Ja. Dürrnheimer.

Sie: Ich habe dich schon mal gesehen. Du warst mit dem Grammer in der Volksschule, oder?

Ich: Ja.

Sie: Weißt du, wer ich bin?

Ich: Die Schmaderer Burgl, glaub ich.

Sie: Glaubst du … Tu nicht so, als würdest du mich nicht kennen. Mich kennt jeder in der Au. Die Schwangere. Die den Bastard bekommt.

Ich: Ich bin nicht viel draußen und bekomme nicht so viel mit.

Sie: Das wenn ich nur glauben könnte. Dass einer nicht weiß, wer die schwangere Schmaderer ist.

Ich: Das kannst du ruhig glauben.

Sie: Ich glaube es dir einfach mal. Man soll ja die Hoffnung nie aufgeben.

Ich: Ja.

Sie: Wenn ich schon mal einen erwische, der sich noch kein Urteil über mich gebildet hat, sollte ich ihn festhalten, oder? Was hast du noch vor?

Ich: Ich hole die Zeitung für den Vater.

Sie: Beim Siebenmorgen?

Ich: Ja

Burgl lief einfach mit mir weiter.

Sie: Nimmst du mich mit? Dann musst du nicht alleine gehen, und ich kann mal mit jemand Neuem reden.

Ich: Wenn du nichts Besseres zu tun hast, kannst du schon mitkommen.

Sie: Ich habe nichts Besseres zu tun, seit alle wissen, was mit mir los ist. Das kannst du mir glauben.

Wir gingen recht lange schweigend nebeneinander her.

Ich: Du musst halt nur neue Freunde finden. Das kann ja nicht so schwer sein.

Sie: Das lohnt sich nicht mehr. Im Januar bin ich weg vom Fenster. Wenn das Kind da ist, heißt es Armenhaus oder Strich. Oder glaubst du, dass der Vater mich weiter durchfüttern will, jetzt wo ich alt genug zum Weggehen bin? Und dann auch noch das Kind? Außerdem finde ich ja gerade jemand Neuen. Dich, oder?

Ich: Aber dein Vater kann dich doch nicht einfach wegschicken.

Sie: Das kann er, und das macht er.

Ich: Aber deine Mutter. Das würde doch deine Mutter nicht zulassen.

Sie: Die hat noch mehr Angst vor ihm als ich.

Wir sagten eine Weile nichts.

Ich: Hast du Angst vor dem Kind und dem, was auf dich zukommt?

Sie: Und wie.

Ich: Das wird schon werden. Meistens wird alles nicht so schlimm wie gedacht.

Sie: Ich habe niemanden.

Ich: Einen Apfel oder so was kann ich schon immer irgendwo für dich auftreiben. Dann musst du schon mal nicht an Skorbut sterben.

Sie lachte.

Ich: Siehst du, alles gar nicht so hoffnungslos, oder?

Ich erinnere mich, dass das ein wichtiger Moment war. Burgl hatte mir die Tür in ihr Herz ein ganz klein wenig geöffnet, glaubte ich damals. Ich hatte mich nicht dumm in ihrer Gegenwart gefühlt, und es war mir so vorgekommen, als würde sie mich nicht nur wahr-, sondern sogar ernst nehmen. Fast ebenbürtig. Zum ersten Mal seit 1908 wieder bemerkt werden. Ich erinnere mich, dass es ein richtiggehend euphorischer Abend wurde. Das Ende der Einsamkeit, glaubte ich. Mein Plan schien zu funktionieren.

Ein paar Tagen später. Ich hatte Burgl inzwischen einige Male aufgelauert und den Eindruck, dass sie schon darauf wartete, zufällig getroffen zu werden. Unsere Spaziergänge waren zu regelmäßigen Ereignissen geworden. Aber wir taten noch immer so, als hätten wir irgendetwas zu erledigen, um eine offizielle Begründung für unsere Gänge zu haben. Sehr oft musste sie zum Milchladen, aber dem besonders guten in der Gebsattelstraße (und kaufte nichts, weil sie ihr Geld vergessen hatte oder die Butter ranzig wirkte), oder ich ging für den Vater zur Post oder zum Zeitungsstand auf der anderen Seite der Isar, wo es die speziellen Hefte gab, die der Vater wollte. ›Der Rätsler‹ oder ›Breslauer Kniffeleien‹. Meist hatte der Vater schon genau die Ausgabe, die dort auslag, und ich musste am nächsten oder übernächsten Tag noch mal nachsehen, ob die neueste Nummer schon da war.

27. August 1919 — Sechster Spaziergang

Ich traf Burgl zum ersten Mal nicht vor unserer Haustüre, sondern gegenüber auf der Isarseite der Zeppelinstraße. Weder sie noch ich hatten diesmal eine Ausrede für unseren Spaziergang vorbereitet. Wir gingen einfach nebeneinander her. Ich hatte das Gefühl, dass ihr Bauch in den letzten Tagen deutlich größer geworden war. Zum ersten Mal erkannte man überhaupt richtig, dass sie schwanger war. Aber vielleicht war es auch nur die Jacke, die sie trug, denn besonders warm war es nicht. Aber stickig. Ich hatte wieder einen Apfel für sie dabei, den ich vormittags extra gekauft hatte.

Sie: Danke, dass du mir immer einen Apfel mitbringst. Kein Skorbut für mich und das Kind.

Ich: Es ist ja nur Obst.

Sie: Obst haben wir daheim nur, wenn die Mutter alle heiligen Zeiten in die Heimat fährt und einen Korb Johannisbeeren oder Kirschen von ihrem Bruder mitbringt. Aber meistens fressen die Brüder das schon am ersten Tag alles weg.

Ich: Immer nur Obst ist ja auch fad.

Sie: Daheim gibt es fast nur noch Brot. Von Vaters Elu können wir keine großen Sprünge machen.

Ich: Der wird ja nicht ewig von der Unterstützung abhängig bleiben. Es kommen schon wieder bessere Zeiten, sagt meine Mutter.

Sie: Ich glaube nicht, dass er jemals wieder eine Arbeit findet. So unleidig wie der immer ist. Wer will so einen? Die Brüder müssen zwar Kostgeld zahlen. Aber wie viel ist das schon?

Ich: Mein Vater bringt auch nicht gerade viel heim. Seit der Krieg aus ist, verdient er kaum noch was, sagt er.

Sie: Als hätte der vor dem Krieg mehr verdient. Oder warum wohnt ihr in der Au? Bestimmt nicht, weil es hier so lauschig ist.

Ich: Ich glaube, dass die Mutter mehr verdienen könnte als er. Neulich hat sie gesagt, dass im Krüppelheim schon wieder Laborantinnen gesucht werden. Aber das will der Vater nicht.

Sie: Wie geht es eigentlich bei dir weiter? Kann dein Vater die Studiengebühren bezahlen?

Ich: Er sagt, dass er mich nicht durch das Gymnasium geprügelt hat, um mich jetzt nicht studieren zu lassen. Ich weiß nicht, woher er das Geld für die Hörergebühr nehmen will, aber er ist fest entschlossen. Vielleicht organisiert er ja irgendwie ein Stipendium. Für das Schulgeld hatte er auch jemanden, der es gezahlt hat. Ich habe einmal eine Quittung gefunden. Das waren zwanzig Mark im Monat.

Sie: Zwanzig Mark. So viel haben wir meistens nicht zur Verfügung. Beim Bäcker in der Lilienstraße kostet eine Semmel inzwischen neun Pfennig!

Ich: Und ein Nusshörnchen ein Zehnerl! Vor dem Krieg konnte ich für ein Zehnerl zwei kaufen.

Sie: Vielleicht tut dir das ganz gut, mal weniger von dem süßen Zeug zu essen.

Ich: Das Nusshörnchen ist der Höhepunkt meines Tages.

Sie: Das Nusshörnchen also und nicht ich.

Das war der Tag, an dem ich Burgl gegenüber mutiger und auch koketter wurde. Fast schon souverän.

Ich: Das wird sich noch zeigen. Außerdem, schau dir deinen Ranzen mal an. Da ist meiner nichts dagegen.

Sie lachte: Vielleicht wäre ich heute nicht so rund, wenn ich vor vier Monaten auch dicker gewesen wäre. Ich habe das Gefühl, dass das Kind in der letzten Woche ganz schön zugelegt hat. Das liegt an deinen Äpfeln. Voller Zucker.

Ich: Fettäpfel für ein fülliges Kind.

Sie: Wenn ich mir vorstelle, dass das Kind ja auch rauskommen muss wird mir ganz anders. Dann lieber ein Mageres. Bring mir weniger Äpfel mit.

Ich: Hör bloß auf. Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken.

So selbstbewusst, wie nach diesem Spaziergang hatte ich mich noch nie zuvor gefühlt. Viellicht als Kleinkind im Garten in Neustadt. Aber daran erinnere ich mich natürlich nicht wirklich.

5. September 1919 – Zehnter Spaziergang

Ich war an diesem Tag sehr zuversichtlich, ihr näherzukommen. Ich hatte mich sogar extra darauf vorbereitet. Mit dem Mundwasser des Vaters gegurgelt und den Anzug ausführlicher und gründlicher gebürstet als sonst. Ich hatte mir einen neuen Kragen aus dem Schrank des Vaters gestohlen und wollte sehr darauf achtgeben, damit ich ihn später heimlich wieder zurücklegen konnte. Selbstverständlich wartete Burgl auf mich vor dem Haus, und wir gingen gleich los in Richtung Rosengarten. Wie immer.

Sie: Carl, du wirst nicht glauben, wer heute Vormittag bei uns war und den Leo abgeholt hat.

Ich: Die Polizei, wie ich deinen Bruder kenne. Die mögen die Kommunisten gerade nicht mehr so gerne wie unter dem Eisner und dem Toller.

Sie: Nein, der Grammer. Mein alter Verehrer.

Eifersucht. Ekel. Das Franz-Gefühl vom Flaucher. Wochenlang waren die alten Auer Verehrer verschwunden gewesen und ich der einzige Mann in Burgls Leben, und jetzt waren sie wieder da. Zumindest einer davon. Und ausgerechnet der Grammer. Derjenige, von dem ich mir sicher war, dass er der Vater des Kindes war.

Ich: Der ist doch beim Augustiner in der Lehre. Oder ist er schon fertig.

Sie: Schon fertig. Der hat schon mit sechzehn damit angefangen. Dem geht es richtig gut. Er hat eine Dienstwohnung in der Bergmannstraße. Zwei Zimmer. Neubau. Mit Bad und Abort. Das musst du dir mal vorstellen. Wenn man weiß, wo die Grammers bisher wohnen. Zu zehnt hinten am Herrgottseck. Jetzt zu neunt ohne unseren Grammer.

Ich: Will er dich zurückhaben, oder was?

Sie: Du Depp. Er ist verlobt, und sie zieht nach der Hochzeit im Oktober bei ihm ein. Eine vom Ostfriedhof. Eine der Töchter vom Steinmetz.

Ich: Ist er immer noch so gut aussehend?

Sie: Der Haustrunk in der Brauerei bekommt ihm nicht besonders gut. Ganz schön aufgeschwemmt und versoffen sieht er aus, der Grammer.

Ich: Wie lange hast du eigentlich was mit dem Grammer gehabt? Und mit dem Kellerer? Und den anderen.

Sie: Das kann ich dir nicht sagen.

Ich: Weil du es nicht mehr weißt?

Sie: Weil die Umstände anders waren, als du denkst.

Ich: Weil du ein Flietscherl warst?

Sie: Spinnst du? So was sagt man nicht zu einer Schwangeren.

Ich: Sagt man so was nicht gerade zu einer ledigen Schwangeren?

Sie: Es war anders als du denkst.

Ich: Ich kann es mir schon denken.

Sie: Nichts kannst du dir denken.

Bei den folgenden Spaziergängen war erst mal die Intimität weg. Wir sprachen zwar auch weiterhin über Persönliches. Aber mehr über die Familienverhältnisse, meine seltsamen Eltern, ihren brutalen Vater und seine immer schlimmer werdende Sauferei. Oder ihre sechs übrigen Brüder, die nicht im Krieg geblieben sind. Sie waren halb auf Seiten der Räterepublik, halb auf Seiten der Freikorps und prügelten sich seit dem Ende der Eisner-Regierung und der neuen Verfassung noch mehr. Sie erzählte, dass drei Brüder bei den Völkischen von der DAP mitmachten, die anderen drei bei den Kommunisten. Auf der Straße schlugen sie sich, daheim mussten sie an einem Tisch sitzen und dem Vater, der immer noch Monarchist war, zuhören und so tun als würden sie ihm zustimmen. Erst eine Woche oder fünf Spaziergänge später, kamen wir wieder langsam auf intimere Dinge zu sprechen.

13. September 1919 – Neunzehnter oder Zwanzigster Spaziergang

Es war noch mal ein richtiger Sommertag. Heiß und stickig. Ich überredete Burgl, mit der Trambahn ins Bad Maria Einsiedel nach Thalkirchen zu fahren. Am 20. September schloss es, und seit dem 1. September kostete es nur noch fünf Pfennige Eintritt. Weil schon fast Herbst war. Mit so warmem Wetter hatten sie nicht mehr gerechnet. Burgl sah trotz Schwangerschaft in ihrem Badeanzug sehr gut aus. Ich hatte gehofft, noch etwas mehr von ihr zu sehen zu bekommen, aber Burgl hatte keinen der neumodischen engen und kurzen Badeanzüge, sondern nur einen mindestens zwanzig Jahre alten, den sie irgendwo beim Trödler aufgetrieben hatte. Aber zumindest ihre Beine konnte man etwas mehr sehen als sonst. Ich mit meinem fetten Ranzen war froh, auch einen altmodischen, nicht zu engen Badeanzug zu haben. Wir schwammen etwas. Das Isarwasser war doch schon sehr frisch. Burgl setzte sich auf die Decke, die sie dabeihatte, und ich kaufte uns eine Russenmaß am Stehausschank.

Sie: Ich soll kein Bier trinken.

Ich: Das ist nur ein Russ. Gegen den Durst. Und Bier gibt dir und dem Kind Kraft. Das ist bekannt. Ich habe als Kleinkind nur mit einem Bierdiezl schlafen können. Deshalb bin ich so kräftig.

Sie: Ob mein Kind so kräftig wie du werden soll? Aber ein Schluck kann nicht schaden

Mir war bis eben nicht bewusst, dass mein Dicksein ein

ständiges Thema bei unseren Gesprächen war. Burgl kam immer wieder darauf zu sprechen. Ich hätte mich damals viel mehr darüber ärgern müssen.

Sie: Am Busen kann ich schon ruhig noch ein wenig zulegen, oder was meinst du?

Diesen Satz trage ich noch heute als Souvenir in mir herum. Verboten, schockierend und gleichzeitig erregend. Dieser Satz machte aus Burgls Busen, der kurz davor noch Franz gehört hatte, wieder meinen. So hatte noch nie jemand mit mir gesprochen. Ich wusste natürlich, wie Kinder entstehen und wie Frauen anatomisch aufgebaut sind. Besser als die Straßenbuben, die schon mit Mädchen intim gewesen waren. Meine fürsorgliche Mutter hatte mich gründlich aufgeklärt. Mithilfe von selbst gemachten Zeichnungen. Einer der unangenehmsten Momente meiner Kindheit. Aber direkt, von Angesicht zu Angesicht, von einer Frau zu hören, wie sie über einen ihrer von mir so begehrten Körperteile sprach, war etwas Neues. Furcht einflößend, aber schön. Ich weiß noch, wie trocken mein Mund war und wie sehr ich darauf achten musste, dass meine Stimme nicht brach. Das ist hier in meinen Schulheftaufzeichnungen kaum zu spüren. Wenn man nur den Dialog liest, wirkt mein damaliges Ich fast abgebrüht und souverän.

Ich: Mir gefällt er gut, so wie er ist.

Sie: Dann bin ich ja beruhigt.

Wir schwiegen beide. Ich trank den Russen aus und brachte das Glas zurück zum Kiosk. Als ich zurückkam, weinte Burgl.

Ich: Ist dir nicht gut?

Sie: Ich muss nur wieder an was denken.

Ich: Erzähl.

Sie: Ich kann es nicht.

Ich: Mir kannst du es schon sagen.

Sie: An die Sache mit dem Flietscherl von neulich.

Ich: Das habe ich nicht so gemeint.

Sie: Ich glaube schon, dass du es so gemeint hast. Weil es ja auch wahr ist.

Ich: Weil du mit allen rumgemacht hast?

Sie: Aber nicht so, wie du denkst.

Ich: Ich habe dich mit dem Franz gesehen. Wenn du schon mit so einem Gesichtsversehrten rumschiebst, was hast du dann erst mit den anderen gemacht?

Sie: Das war alles anders. Auch das mit dem Franz.

Ich: Wie soll es denn anders gewesen sein?

Sie: Weil der Vater damals noch keine Elu gekriegt hat und keiner von den Brüdern, die nicht eingezogen waren, schon gearbeitet hat. Und weil die Mutter nicht gearbeitet hat, weil der Louis gefallen ist und sie zu traurig war, um etwas zu machen.

Ich: Und deswegen hast du mit den Kerlen rumgemacht?

Sie: Nicht nur einfach so.

Ich: Jetzt rück schon raus mit der Sprache.

Sie: Busen eine Mark, unten zwei Mark bei den Buben. Bei erwachsenen Männern Busen zwei Mark, unten drei Mark.

Ich: Wirklich?

Das ›Wirklich‹ sagte ich nicht, weil ich so schockiert über Burgls Verhalten war, sondern weil ich im Kopf nachgerechnet hatte. Eigentlich meinte ich ›Wirklich? So wenig?‹. Damals hätte ich mir für den Gegenwert von nur zehn Nusshörnchen meinen Traum von Burgls Busen erfüllen können. Das andere wäre für mich damals noch nicht interessant gewesen. Das wenn ich gewusst hätte. Busen anfassen und gleichzeitig schlank werden, weil ich weniger Nusshörnchen aß. Fast hätte ich gefragt, ob der Tarif immer noch galt. Aber Burgl ging es natürlich um etwas ganz anderes.

Sie: Wirklich. Es war am Anfang ekelhaft. Weil die ja alle zwei Hände haben und mich aber nur mit einer angefasst haben. Wenn du verstehst, was ich meine. Dann habe ich einmal von dem ganzen Geld für die Familie Leberkäse gekauft, und alle waren so froh wie nie. Da war mir zum ersten Mal richtig klar, wofür ich das mache.

Ich: Und der Franz, hat der mehr gezahlt? Weil er so ekelhaft war?

Sie: Der Franz sieht schlimm aus. Aber er ist der Netteste von allen. Der hat nie von selber hingelangt. Ohne zu fragen, wie die anderen.

Ich: Ich hab es doch gesehen, wie er dich gepackt hat am Flaucher. Gefragt hat er nicht.

Sie: Weil er es durfte. Ich habe es ihm erlaubt.

Ich: Mit dem Franz? Freiwillig? Kann der was, was die anderen nicht können?

Sie: Nein. Die anderen haben zusammengelegt und ihm eine Runde Burglbusen spendiert. Und das Untenrum hab ich freiwillig gemacht. Weil er so zaghaft war und er mir auch leid getan hat. Und weil er ein Kriegsheld ist.

Aus Mitleid und Patriotismus. Wie ich es mir schon gedacht hatte. War ich ihr denn nie bemitleidenswert genug erschienen? Ich hätte sogar eine Mark pro Brust bezahlt.

Ich: Hat nie einer daheim gefragt, woher das Geld kommt?

Sie: Nein. Die haben das aber bestimmt alle gewusst. Sogar die Mutter. Einmal hat sie gesagt, dass ich ihr bloß kein Kind heimbringen soll. Denn das ist das ganze Geld nicht wert. Und jetzt schau mich an. Obwohl es diesmal anders war.

Dieses Gespräch brachte uns noch näher zusammen. Burgl schien so dankbar dafür zu sein, dass ich sie nicht verurteilte und ihr einfach nur zuhörte, dass sie mir unbedingt etwas Gutes tun wollte. Nicht körperlich. Sie überhäufte mich geradezu mit Komplimenten und sprach andauernd in ›Was-wäre-wenn‹-Sätzen: »Wenn wir nur könnten, würden wir nach Amerika durchbrennen« und »Ach, Carl, wenn ich dich nur lieben könnte …« oder »Wenn du doch nicht so für mich wärst wie ein guter Bruder«. Sie wollte sich mit dem Traum vom Mit-ihr-Zusammensein bei mir bedanken. Eigentlich hätte ich merken müssen, dass Burgl das alles nur vorgab. Ich hätte mich gleich von ihr abwenden und den Kontakt zu ihr abbrechen müssen. Um mich selbst zu schützen. Einfach ein paar Wochen nicht mehr auf die Straße gehen. Die Demütigung vermeiden. Aber das konnte der siebzehnjährige, verliebte Carl noch nicht.

Unsere Spaziergänge gingen weiter, aber änderten sich ein wenig. Burgl wurde nun auch körperlich etwas zutraulicher. Sie legte mir zum Beispiel die Hand auf den Arm, wenn sie lachen musste. Oder sie trank ganz bewusst, mir dabei in die Augen schauend, von der Stelle am Glas, von der ich zuvor getrunken hatte. Ohne mit der Hand darüberzuwischen. In meinem Überschwang fiel mir nicht auf, dass Burgl nie über ihre Andeutungen hinausging. Ich wartete optimistisch wie nie zuvor auf den Moment, an dem sich alles ändern würde. Steter Tropfen höhlt den Stein, dachte ich. Ich gewöhnte mir eine ähnliche ›Was-wäre-wenn‹-Andeutungssprache wie Burgl an und hatte bald das Gefühl, dass sie genau wie ich wusste, worüber ich sprach und wir beide eigentlich nur noch auf den einen Moment warteten, an dem wir uns klar darüber wurden, dass wir ab jetzt weiter als Paar durch die Au laufen würden. »Lass dir alle Zeit der Welt. Ich bin da und warte, bis du so weit bist. Ich habe keine Eile.« Was für eine dumme Verblendung.

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