Kitabı oku: «Zeppelinpost», sayfa 4

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Der 12. Oktober brachte die Veränderung. Der letzte Spaziergang. Ein kalter Tag. Mal sonnig, mal wolkig. Sehr windig, aber kein Regen. Burgl hatte schon ihren Wintermantel an, aber ich musste ihr zusätzlich noch meinen Schal geben, weil sie so fror. Ihr Bauch wirkte schon so groß, als würde sie Zwillinge erwarten. Heute ist mir klar, dass sie einfach nur sehr mager war und deshalb so wirkte, als sei sie schon hochschwanger. Ich ging mit ihr in eine Konditorei in der Humboldtstraße. Normalerweise vermied sie es, mit mir in Lokale zu gehen. Ich glaube, dass es ihr peinlich war, eingeladen zu werden. Ich war nicht gerade unglücklich darüber, denn Geld hatte ich selbst kaum. Ich bestellte mir einen Kaffee und ihr eine Schokolade. Ich aß ein Ausgezogenes, Burgl zwei Stück Torte. Zwei Mark. Mein Budget für eine ganze Woche. Sie wirkte so hungrig, als habe sie seit Tagen nichts gegessen. Ich schob es auf die Schwangerschaft. Nach dem zweiten Stück bedankte sie sich so überschwänglich, dass es mir peinlich war.

Wir saßen über zwei Stunden in der Konditorei. Es wollte aber nicht so recht ein Gespräch entstehen. Wahrscheinlich lag es am öffentlichen Ort. Als uns die Bedienung drängte, noch etwas zu bestellen, gingen wir nach draußen. Ich fragte, ob sie gerne nach Hause wolle, weil ihr so kalt sei. Sie aber sagte, dass sie lieber noch spazieren gehen würde. Wir liefen wieder in den Rosengarten und setzten uns in die windgeschützte Ecke am Haus. Langsam wirkte Burgl wieder etwas aufgewärmter. Die Torte, die Schokolade und der Spaziergang hatten ihren Kreislauf in Schwung gebracht.

Ich: Gehts?

Sie: Es geht wieder.

Ich: Ich könnte sonst noch meinen Arm um dich legen. Aber wenn es jetzt wieder geht …

Sie: Wenn ich so darüber nachdenke, ist mir doch wieder recht kalt. Schau, wie ich zittere.

Ich: Dann rutsch her.

Sie: Stört es dich, wenn ich meine Finger in deiner Hand aufwärme?

Burgl erschien mir künstlich zutraulich und gar nicht so kokett, wie sie in den letzten Wochen so oft gewesen war. Nicht so, als würde sie sich zu etwas zwingen, aber so, als wüsste sie, dass dies die einzige oder letzte Gelegenheit für etwas ist.

Sie hielt meine Hand, ich saß wie erstarrt daneben. Dann begann sie, meine Finger zu streicheln. Ich blieb weiter starr. Sie drehte sich so weit zu mir, dass ich ihren Atem riechen konnte. Ich schaute starr nach vorne. Sie legte ihre Hand auf meine Wange, drehte mein Gesicht zu sich und küsste mich fest und trocken auf den Mund. Dann ließ sie mich wieder aus und streichelte meine Wange. Wieder zog sie mich zu sich, und diesmal wurde der Kuss zärtlicher und schöner.

Aber was gerate ich in verklärte Schwärmereien? Darum soll es hier ja nicht gehen. Es kam jedenfalls zu Küssen und Zärtlichkeiten, und irgendwann nahm Burgl sogar meine Hand und legte sie auf ihren Busen. Ich glaube, dass sie an dem Nachmittag schon wusste, dass sie am nächsten Tag verschwunden sein würde. Ich jedoch merkte von all ihrer Sentimentalität und Melancholie nichts. Ich brachte sie um sieben in die Lilienstraße und war glücklich.

Später am Abend, wieder alleine bei meinen Studienvorbereitungen, bereitete ich mich auf Burgls und meine gemeinsame Zukunft vor. Ich plante und rechnete. Ich würde das Kind annehmen und wie mein eigenes behandeln. Burgl und ich würden heiraten und ich, statt zu studieren, arbeiten. Ich war ja nicht dumm, irgendetwas würde ich schon finden. Verkäufer oder im Büro. Mit so und so viel Mark pro Woche konnten wir so und so viel zu essen kaufen, rechnete ich. Mit einem zweiten Kind würden wir aber so und so viel brauchen. Wenn ich es jedoch schaffen würde zu studieren, würden wir später so und so viel verdienen können, und wir könnten in ein Haus mit Garten nach Obermenzing ziehen. Ich müsste für so und so viel Geld so und so lang arbeiten und hätte dann so und so viele Stunden Zeit für meine Familie. Das alles plante ich genau durch. Ich habe sogar noch die Aufzeichnungen dazu. Ich füge sie dieser Sammlung jedoch nicht hinzu, weil mir meine naiven Auflistungen peinlich sind.

Am nächsten Tag war es noch ein bisschen kälter. Ich hatte mir von meiner Mutter mit der Andeutung, dass es da jemanden gäbe, die vielleicht jemand werden könnte, vier Mark geliehen. Für so etwas ging sie sogar an ihre eiserne Reserve. Ihre einzige, vieldeutige Bedingung war, dass ich nur keinen Unsinn veranstalten sollte. Ich besorgte Blumen und wollte Burgl zum Mittagessen ausführen. In der Stadt, in einem richtigen Restaurant. Um zwölf war ich in der Lilienstraße. Doch die Wohnung der Schmaderers war leer. Nur ein Maler und zwei Lehrbuben weißelten die Zimmer gerade. Sie seien zurück nach Niederbayern. Sagte mir eine Nachbarin. Schon vor einem Monat. Was denn mit der Burgl sei, fragte ich, ob die auch mit sei, weil ich sie gestern noch gesehen hätte, fragte ich. Die Burgl sei mit, sagte die Nachbarin. Ganz sicher. Wo in Niederbayern, wisse sie auch nicht. Oder war es doch die Oberpfalz?

Das wars. Wie sollte ich herausfinden, woher die Schmaderers gekommen und wohin sie gegangen waren? Ich fragte in der ganzen Nachbarschaft herum. Außer der Tatsache, dass alle froh waren, dass der ewig besoffen singende und krakeelende Schmaderer mit seinen unangenehmen Söhnen weg war, fand ich nichts heraus. Wie groß damals meine Hoffnungslosigkeit war, brauche ich wahrscheinlich nicht zu beschreiben. Meine, so glaubte ich damals, einzige Chance auf Liebe war weg.

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Im Herbst begann ich nicht, wie von meinem Vater geplant, mit meinem Jurastudium. Ich schaffte es nicht. Seit Burgls Verschwinden hatte mich eine geistige und emotionale Lähmung befallen, die mich auch körperlich bewegungsunfähig und antriebslos werden ließ. Ich konnte mich nur in der Wohnung meiner Eltern aufhalten und verließ selbst mein Zimmer kaum noch. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich all die Monate dort trieb. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind blass und schwammig. Wenn ich mich doch gelegentlich aus meinem Zimmer herauswagte, schrie mein Vater: »Dafür habe ich dich nicht durch das Gymnasium geprügelt, dass du jetzt wie eine Memme in deinem Zimmer hockst, flennst und dich von mir durchfüttern lässt. Unternimm gefälligst was. Und wenn du dieses Semester nicht mit dem Studieren anfängst, dann arbeite halt wenigstens wieder irgendwas. Wir haben nicht das Geld, dich ewig weiter zu verhätscheln.« Ich nahm ihn kaum wahr. Meiner Mutter tat ich anfangs leid, später ging ihr meine andauernde Anwesenheit zu Hause auf die Nerven, und sie versuchte mich auch davon zu überzeugen, wieder mal nach draußen zu gehen, zu arbeiten, irgendwas zu unternehmen. Doch ich konnte nicht. Vielleicht wirkt das alles übertrieben für so eine kleine Abfuhr. Es war ja kaum je etwas passiert zwischen mir und Burgl. Doch zog mich der tiefe Fall zwischen der Hoffnung einer gemeinsamen Liebe und Burgls wortlosem Verschwinden in ein so tiefes Loch, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage war, mich aufzuraffen. Im Rückblick kommt mir mein damaliges Verhalten fast wie eine bewusste Entscheidung zu leiden vor. Fast als hätte ich mir nach den hoffnungsvollen Tagen mit Burgl eine Gefühlsabnahmekur verordnet.

Ich weinte viel, starrte viel vor mich hin, aß wenig und bemerkte plötzlich im Frühling 1920, dass ich schlanker und ansehnlicher geworden war. Nicht nur meine Gefühle waren weniger geworden. Auch mein Fett. Ich sah die Veränderungen an mir und spürte, dass auch die Verzweiflung dumpfer geworden war. Die Enttäuschung war kleiner, aber sie war nicht durch neue positive Gefühle ersetzt worden. Ich konnte mich bald kaum noch selber in die trübe Leere hineinsteigern, die ich die Monate zuvor ohne Probleme durchgehalten hatte. Irgendwann traute ich mich sogar wieder auf die Straße und machte vorsichtig erste kurze Spaziergänge im Viertel und irgendwann auch wieder in Richtung Rosengarten und Wildnis am Flaucher. Meine Mutter bemerkte mein vermeintliches Erwachen, und sogar mein Vater schrie mich seltener an. Es ist schwer, meinen damaligen Zustand zu beschreiben. Ich habe lange darüber nachgedacht, und schließlich ist mir sogar ein Bild dafür eingefallen. Nach Burgl hatte ich mich unter ein graues, schweres, drückendes Tuch zurückgezogen. Nach und nach wurde es durch ein pastellfarbenes, etwas durchsichtiges, aber genauso schweres Stück Stoff ersetzt. Es erlaubte mir zwar, meine Umgebung wieder mehr und positiver wahrzunehmen, aber es lag doch noch so schwer auf mir, dass es mir keine echte Leichtigkeit ermöglichte. Ein albern-lyrischer Vergleich. Aber er beschreibt ganz gut, wie ich damals war.

Nicht nur meine Eltern, sondern auch Mädchen im Viertel bemerkten die Veränderungen an meinem Äußeren, und ich bekam mit einem Mal, wenn auch nur oberflächlich, die Aufmerksamkeit von ihnen, die ich bisher von allen vermisst hatte. Hinzu kam, dass von den alten Cliquen kaum noch Burschen übrig waren. Viele andere, ein paar Jahre ältere Männer, waren im Krieg geblieben oder versehrt, und ich, als inzwischen halbwegs attraktiver junger Mann, stellte ein rares und begehrtes Gut dar. Ich bemerkte, dass eine kleine Gruppe von jungen Frauen auf mich zu warten begann, wenn ich losspazierte. Mimi und Frieda tauchten immer häufiger nach ihrem jeweiligen Dienstschluss und an den Wochenenden vor unserer Haustüre auf und hielten nach mir Ausschau. Ein paar Tage später schlossen sich die früher fast so sehr wie Burgl begehrten Grammerschwestern den beiden an. Ich hatte auf einmal Verehrerinnen. Natürlich heilt das keine seelische Wunde, und die Vertrautheit, die ich so kurz mit Burgl gehabt hatte, spürte ich in keiner der Plaudereien mit einer der jungen Frauen auch nur ansatzweise. Trotzdem half es mir dabei, mich besser zu fühlen und das Stück Tuch noch etwas weniger pastellfarben und kräftiger werden zu lassen. Auf eine gedämpfte Art und Weise wurde ich nach und nach wieder froher.

An einem Mittwochnachmittag im Juli 1920 wartete die ältere Grammerschwester alleine vor dem Milchladen auf mich. Meine Mutter hatte begonnen, mir kleine Aufgaben zu geben, um meinen Vater noch mehr zu beruhigen und ihm zu zeigen, dass ich mich auf dem Weg zurück in die Gesellschaft und zum Studium befand. Zum Milchmann, zum Obststand, zum Bäcker, Bier holen oder Briefe aufgeben. Mehr traute sie mir nicht zu.

Lisa Grammer war groß und üppig. Sie überragte mich um zehn Zentimeter, und ihre Kleider waren ihr immer etwas zu kurz. Deshalb konnte man mehr von ihren Waden sehen als bei anderen. Sie sagte nichts, sondern ging wortlos neben mir her, wartete auf mich, bis ich die Milch in die Wohnung gebracht hatte und ging immer noch schweigend an meiner Seite in Richtung Isar und weiter in Richtung Flaucher. Sie war offenbar davon ausgegangen, dass ich nicht einfach im Haus verschwinden würde, ohne zurückzukommen, sondern dass ich auf jeden Fall wieder erscheinen würde, um mit ihr weiterzuspazieren. Ich hätte mich gar nicht getraut, nicht wieder zu ihr nach unten zu gehen. Keiner sagte ein Wort.

Ich möchte mich nicht in Details verlieren, aber so viel muss ich doch verraten. Es kam zu einer Art ungeschickter Liebeshandlung in der Wildnis am Flaucher. Meiner ersten dieser Art. Trotz feuchtem Boden und Mücken. Die Verzweiflung, Härte und Lieblosigkeit, die Lisa dabei an den Tag legte, überforderten mich anfangs mehr als die Tatsache, dass ich vollkommen unerfahren war. Ich wollte auch nicht, dass sich Lisas und mein Treffen wiederholte, doch als sie mich ungefragt zu einem zweiten und dritten Spaziergang traf, fing ich langsam an, zumindest an der sportlichen Komponente der Zusammentreffen Gefallen zu finden. Und als ein paar Wochen später fast die identische Situation mit Ilse, Lisas kleiner Schwester, passierte, hatte ich mich schon daran gewöhnt. Nach und nach kam es auch mit den anderen beiden aus meiner Verehrerinnengruppe zu ähnlichen Handlungen. Eine nach der anderen. Sie reichten mich herum wie ein letztes Bier.

Anfangs kam ich mir in meiner Passivität seltsam und unmännlich vor. Ich hatte das Gefühl, zupackender sein zu müssen. Vielleicht einmal selbst die Initiative zu einem Treffen zu ergreifen. Doch ich traute es mir einerseits nicht zu, andererseits gefiel mir an den Zusammenkünften am meisten, dass die Frauen, so unterschiedlich sie auch waren, eines gemeinsam hatten. Sie benutzen mich ausschließlich zum eigenen Vergnügen. Manchmal kam ich mir fast abwesend, wie ein heimlicher Beobachter der Szenerie vor und schämte mich für meinen Voyeurismus.

So manch anderer hätte diese Zeit als Lehrjahre bezeichnet, wäre stolz auf seine Attraktivität gewesen und hätte vielleicht sogar damit angegeben. Gerade jemand wie ich, der so viele Jahre unsichtbar gewesen ist. Aber ich hatte niemanden, mit dem ich mich hätte austauschen oder vergleichen können. Oder hätte ich meiner Mutter davon erzählen sollen? »Mutti, du kannst dir nicht vorstellen, wie mich die Ilse heute wieder hergeritten hat …« Ich nahm die Zusammentreffen hin, genoss, was mir daran gefiel, war aber nicht allzu traurig, als sie, so plötzlich sie begonnen hatten, auch wieder aufhörten.

Im Rückblick bin ich Lisa, Ilse, Frieda und Mimi dankbar. Sie haben mich noch weiter aus dem Burglkummer geholt und mir die Rückkehr zur Normalität ermöglicht. Ohne sie wäre ich niemals zu einem so halbwegs gut funktionierenden Mitglied der Gesellschaft geworden.

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In den Inflationsjahren wurde ich ein überraschend erfolgreicher Student. Da ich zwar mäßig intelligent, aber nicht schlau war, und von meinem Vater zum Büffeln gezwungen worden war, konnte ich sehr gut auswendig lernen. Das Lernen war das Einzige, was von meiner Schulzeit übrig geblieben war. Stumpf und ohne Nachfragen. Einfach in den Schädel pauken ohne nachzudenken. Nichts ist hilfreicher im Jurastudium als stupides Auswendiglernen.

Meine Kommilitonen taten sich da meistens schwerer. Deshalb wurde ich ein begehrter Paukfreund. Mit mir und meiner gnadenlosen, stoischen Wiederholerei schaffte es selbst der faulste und dümmste Student, Stoff zu behalten. Juristisch muss es eigentlich eine interessante Zeit gewesen sein. Der Umbruch vom Kaiserreich zur Republik. Vom Königreich zum Freistaat. Aber mir war das egal. Ich nahm die Dinge in mir auf, ohne darüber nachzudenken oder Zusammenhänge zu verstehen.

Meine Kommilitonen mochten mich nicht besonders. Aber immerhin waren sie mir für meine Paukdienste so dankbar, dass sie mich in ihrem Kreis akzeptierten und überall mit hinschleiften. Ich war so eine Art Talisman für sie. Solange ich dabei war, konnten die Prüfungen nicht schiefgehen. Die Reichen versorgten mich mit Getränken und die Gutaussehenden mit Frauen. Die Dummen bezahlten mir meine Nachhilfestunden mit Geld.

Ich trat in eine Verbindung ein. Das ›Pilsener Parlament‹. Die Pilsener waren vergleichsweise weltoffen und sehr beliebt bei den Frauen. Es gab sogar zwei Juden dort. Ich hätte in das Verbindungshaus in der Adalbertstraße ziehen können, aber ich blieb bei meinen Eltern in der Au. Warum, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war auch das einer der Gründe, warum ich nie ganz in der Gemeinschaft der Jurastudenten aufgenommen wurde. Vielleicht war ich auch einfach nicht mehr in der Lage zu bemerken, wenn ich angenommen wurde.

Im April 1926 begann ich ein Referendariat in der Kanzlei Schönhuber und Cie. Auch hier half mir meine stoische Art, an Dinge heranzugehen. Ich bekam eine Aufgabe und arbeitete sie, ohne Nachdenken oder Hinterfragen, ab. Im Juli 1926 wurde ich ohne Staatsexamen und Anwaltszulassung als angestellter Jurist übernommen. Man hatte in der Kanzlei gemerkt, dass niemand in derselben Geschwindigkeit und Akribie Verträge ausarbeiten konnte wie ich. Man hatte aber auch gemerkt, dass ich verstockter Kauz nicht der Richtige für Mandantenkontakt oder sogar Gerichtsverhandlungen war. Deshalb ließ man mich das Referendariat gar nicht erst zu Ende machen und behielt mich bei den Verträgen. Mir war es recht. Plötzlich verdiente ich überraschend viel Geld, konnte meinen Eltern finanziell aushelfen und war beschäftigt. Ich hatte im Leben halt auch nichts anderes zu tun, als zu arbeiten. Verträge, Verträge, Verträge. Ich interessierte mich einfach für nichts. Eigentlich nicht mal für die Verträge. Andere suchten Abenteuer bei Frauen, wurden schnell Familienväter, arbeiteten leidenschaftlich im Justizsystem, machten in Parteien wie der DNVP oder der BVP politische Karrieren oder hatten eine Modelleisenbahn. Ich nicht. Nur Zeitung lesen und aus dem Fenster schauen. Die Arbeit in der Kanzlei hielt mich beschäftigt, verschaffte mir viel Geld und ließ mich gleichgültig genug, um mich nicht zu belasten. So wurde ich durch meine stoische Arbeitsmoral bis 1927 zu einer unersetzlichen Größe in der Kanzlei. Der Verträgefresser, sagten sie zu mir und bezahlten mich fürstlich dafür. Meinem Vater war es recht, meine Mutter war stolz, mir war es gleich.

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Im Februar 1928 starben meine beiden Eltern. Erst brachte sich mein Vater um, nur zwei Wochen später meine Mutter. Beide sind in die Isar gegangen. Mein Vater schrieb in seinem Abschiedsbrief, dass er in seinem erfolglosen Leben mit meinem beruflichen Erfolg nicht zurechtkäme. »Der Junge, so seltsam und unintelligent. Ich so klug und gebildet. Er so reich und erfolgreich. Ich so gescheitert. Er so uninspirierend. Ich so voller Esprit. Ich zweifle an der Fähigkeit der Welt, zwischen Besonders und Öde zu unterscheiden. Manchmal denke ich, dass sie sogar Letzteres bevorzugt behandelt. Wie soll sie dann mit Gut und Böse zurechtkommen?« Meine Mutter schrieb zwei Wochen später, dass sie ohne meinen Vater nicht zurechtkäme, dass sie aber glaube, dass ich inzwischen ohne sie sehr gut, wenn nicht sogar besser, zurechtkäme. Es berührte mich weniger, als ich es von mir selbst erwartet hätte. Vielleicht war es auch die generelle Gleichgültigkeit, die mich vor allzu viel Traurigkeit bewahrte.

So kam es, dass ich ab 1928 die Wohnung in der Zeppelinstraße 41 alleine bewohnte. Ich wurde sehr schnell sehr verschroben, stellte ständig die Möbel nach einem komplizierten Rotationsprinzip um, klebte die Fenster mit Zeitungspapier zu und begann, aus Einsamkeit leise mit mir selbst zu sprechen. Meine Wohnung begann zu vermüllen. Hauptsächlich Geschirr aus dem Wirtshaus, mit dem ich mir allabendlich mein Nachtessen bringen ließ, aber das selten zurückbrachte und endlos viele Zeitungen und Zeitschriften. Ich versuchte, eine Zugehfrau anzustellen. Doch trotz der hohen Arbeitslosigkeit konnte ich keine finden, die bereit war, bei mir anzufangen. Lieber am Verhungern, als bei mir zu arbeiten. Ich glaube, dass die Frauen vor meiner Einsamkeit, der großen Unordnung in der Wohnung und meiner ganzen gleichgültigen Ausstrahlung Angst hatten.

Erst Ende 1931 wurde alles anders. Am 10. Oktober 1931 trat Therese Aumiller in mein Leben.


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Alles fing einen Monat vorher an. Ich bekam einen sehr ungewöhnlichen Brief. Am 7. September 1931 mit der Abendpost. Ich war gerade zu Hause angekommen, wartete auf mein Essen aus dem Wirtshaus und hörte den Briefschlitz klappern. Abends Post zu erhalten war bei mir sehr selten. Ich bekam morgens meine Zeitungen und fand beim Nachhausekommen meine reguläre Post, die vormittags in meiner Abwesenheit eingeworfen worden war und an den entsprechenden Tagen noch meine Zeitschriften oder Bücherbestellungen. Ich glaube nicht, dass ich den Postboten jemals zuvor beim Einwerfen erlebt, geschweige denn zu Gesicht bekommen hatte.

Auf dem Briefumschlag waren zwei Marken und drei Stempel. »Brasil – Europa«, »Brasil Correio«, »Europe – Pan-America, Round Flight«, »Mit Luftpost befördert München 13«, »Correio Aéreo ›Graf Zeppelin‹ Recife. 3. Setembro 1931«. Handschriftlich stand noch »Per ›Graf Zeppelin‹ am 4. September 1931 bis Friedrichshafen. Per Luftpost nach München« und meine Adresse mit dem Zusatz »Alemanha« darauf. Auf der Rückseite stand als Absender Walli Hochstattner, R. do Bom Jesus, 58, Recife, Pernambuco, Brasilien.

Walli – Walburga – Burgl. Burgl Schmaderer war also nicht in Niederbayern oder der Oberpfalz verschollen, sondern in Brasilien.

Der Brief, den sie schrieb, war auf dünnem, blauem Luftpostpapier beidseitig mit Bleistift beschrieben. Es war sehr schwer zu lesen, weil die jeweils andere Seite durch das dünne Papier schien. Die Handschrift wirkte ungeübt, und man sah, dass sie nicht von jemandem stammte, der häufig lange Texte verfasste. Das bemerkte ich als jemand, der tagtäglich mit komplizierten handschriftlichen Aufzeichnungen zu tun hatte, sofort. Außerdem war der Brief voller Bavarismen. »Reden« statt »sprechen«, »schauen« statt »sehen«. Ich bemerkte all diese mehr oder weniger technischen Details komplett emotionslos. Ich las den Brief, wie ich einen meiner Verträge lesen würde. Mein Geist brauchte das, um mit dem aufziehenden Gefühlssturm zurechtzukommen.

»Recife, den 3. September 1931

Mein lieber Freund Carl,

da wirst du nicht wenig überrascht sein, von mir zu hören. Und dann auch noch auf diesem Wege und in so einer rasanten Übermittlungsgeschwindigkeit. Vielleicht weißt du auch gar nicht mehr, wer ich bin.

Die Burgl aus der Lilienstraße bin ich. Aus deiner Jugend. Die Burgl aus der Au, die jetzt die Walli aus Brasilien ist. Die Burgl, die mit dir vor so langer Zeit so schöne Spaziergänge an der Isar machen durfte. Erinnerst du dich? Unsere Gespräche haben mir damals so viel bedeutet.

Aber wie kommt die Burgl aus der Vergangenheit dazu, dir einen Brief aus der Ferne zu schreiben? Nach so vielen Jahren.

Mein Mann arbeitet für die Deutsche Luftschifffahrts-Aktiengesellschaft, die das Luftschiff ›Graf Zeppelin‹ betreibt. Er kümmert sich um die Luftschiffspost hier in Brasilien.

Bei Zeppelin musste ich natürlich an die Zeppelinstraße in München und an dich denken. Zeppelinpost. Post in die Zeppelinstraße. Jetzt hoffe ich, dass du da überhaupt noch wohnst. Wenn nicht, dann werde ich es spätestens merken, wenn der Brief zu mir zurückgeschickt wird. Oder du wohnst noch dort, aber interessierst dich nicht dafür, was aus der schwangeren Schmaderin geworden ist.

Mich würde natürlich brennend interessieren, wie es dir in den zwölf Jahren ergangen ist. Aber auf diese Geschichte werde ich wohl noch warten müssen. Vielleicht gar nicht so lange. Denn wenn du dich beeilst, kannst du deinen Antwortbrief schon voraussichtlich am 18. September zu mir zurückschicken, sagen sie bei der Post. Vergiss aber nicht, dass die Graf Zeppelin an dem Tag bereits ablegt. Schicke ihn also lieber zwei oder drei Tage vorher ab, damit er rechtzeitig zur Abfahrt in Friedrichshafen ist.

Solange ich nichts Neues über dich erfahren kann, muss ich mich damit begnügen, dir von mir zu schreiben und wie es bei mir in den letzten Jahren in Brasilien gewesen ist und mir vorstellen, wie du meinen Bericht liest und dich an mich erinnerst.

Wie schon geschrieben, waren die Wochen, die du mit mir an der Isar verbracht hast, eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Oder habe ich das weiter oben schon deutlich genug gesagt? Ich kann mich an niemanden erinnern, der mir je mit so viel Hingabe zugehört hat. Niemals wieder bin ich mir so verstanden vorgekommen. Ich wäre gerne länger bei dir geblieben, aber was wäre aus mir als ledige Mutter in München geworden?

Mir ist eines Tages mein heutiger Mann João begegnet. Ich stand in der Schlange vor der Wohnungsstelle der Fürsorge. Weil ich mir ja was Neues suchen musste. João war dort, weil er gehört hatte, dass man bei den Ämtern in der Schlange billiges Hauspersonal finden kann. Dass einem die verzweifelten Frauen da für ein paar Pfennige die Wäsche machen oder sogar den ganzen Haushalt. Weil es oft Kriegswitwen sind, Waisenkinder oder einfach nur Arbeitslose wie ich. Mein jetziger Mann ist Deutschbrasilianer und war nur für ein paar Wochen in München, um den Haushalt einer verstorbenen Verwandten aufzulösen und alles zu regeln. Da brauchte er jemanden für die Wäsche und das Putzen. Aber niemanden für länger.

Ich war diejenige, die von allen Frauen in der Schlange die billigste war. Weil ich nicht nur arbeitslos und verzweifelt, sondern auch noch schwanger war. Und weil er ein Pfennigfuchser ist, hat er mich eingestellt und gleich in die Wohnung nach Obermenzing mitgenommen, die seiner Verwandten gehört hat. Nicht einmal zum Verabschieden musste ich zurück in die Lilienstraße, denn meine Familie war schon fast einen Monat vorher in den Bayerischen Wald zurückgegangen. Das Flietscherl wollte der Vater nicht mitnehmen. Was würden die im Dorf sagen, wenn er mit so einer wie mir heimkommen würde, hat er gesagt. Das war furchtbar für mich. Deshalb habe ich es dir auch nicht gleich erzählen wollen. Und dann habe ich es dir nicht mehr erzählen können, weil ich ja weg war. Der Franz, mein großer Bruder, ist auch nicht mit nach Hinterschmiding. Der hatte eine Anstellung bei der Staatseisenbahn bekommen und war in eine Bahnerwohnung am Steubenplatz gezogen. Ich musste in der Lilienstraße nur meine Kleider und das Waschzeug abholen. Das Mietverhältnis war schon vom Vater gekündigt worden. Deshalb war ich überhaupt bei der Fürsorge gewesen. Weil ich eine Woche später auf der Straße hätte schlafen müssen.

In der Wohnung in Obermenzing war sehr viel zu tun. Die Verwandte hatte alles verkommen und verdrecken lassen, und ich musste hart arbeiten, um alles wieder auf Vordermann zu bringen. João war sehr nett zu mir. Gar nicht aufdringlich. Aber ich habe schon gemerkt, dass er mir hinterhergeschaut hat. Als er mir Bilder vom Anwesen seiner Familie in Brasilien gezeigt hat und mir vom immer warmen Wetter und dem guten Essen erzählt hat, habe ich mir gedacht, »was solls, besser verheiratet in Brasilien als als ledige Mutter in München« und habe mich verführen lassen. Wir haben am 25. Dezember auf der Überfahrt geheiratet.

Jetzt nach zwölf Jahren in Recife ist es mir immer noch jeden Tag zu heiß. Zum Glück können wir fast am Meer wohnen, denn João verdient sehr gut bei der DELAG. Da gibt es wenigstens ein bisschen Wind. Von wegen schönes Wetter. Ich denke jeden Tag an Schnee und träume von Nebel.

Meine Kinder sind schon elf, acht und fünf. Guilherme, Fernanda und Ana. Ihnen geht es hier besser als mir, weil sie es gewohnt sind, hier zu leben. Sie kennen keine Kälte und keine Jahreszeiten und vermissen sie deshalb auch nicht so sehr wie ich. Außerdem sprechen sie genauso gut Portugiesisch wie Deutsch. Vielleicht sogar besser Portugiesisch. Ich nicht. Auch nach zwölf Jahren ist es für mich immer noch ungewohnt, dass ich hier in Recife nicht mehr die Beliebteste bin und im Mittelpunkt stehe, sondern dass ich eine Außenseiterin bin. Ganz anders als früher in der Au. Ich habe das Gefühl, dass ich hier bei den Frauen im Viertel anstellen kann, was ich will, aber sie nehmen mich noch immer nicht als eine von ihnen wahr. Ich kann ausgefallenste Einladungen geben, so viel ich will, aber es ändert sich nichts. Sie kommen zwar vorbei, trinken den Tee (der in Wirklichkeit ein Schnaps ist), essen die deutsche Torte, die ich ihnen vorsetze, aber sie reden nur untereinander und immer so schnell, dass ich nichts verstehe. Ich glaube, die reden mit Absicht noch schneller als sonst. Nur damit ich nicht mitkomme. Sogar meine Haushälterin findet die anderen Frauen interessanter als mich.

Irgendwann vor ein paar Wochen ist es mir dann plötzlich aufgegangen, dass das ja bei dir genauso gewesen sein muss, damals als Kind. Du hast auch veranstalten können, was du wolltest, aber gemocht hat dich keiner. Entschuldige, dass ich das so offen schreibe. Aber du bist ja heute bestimmt ganz anders mit Familie und Freunden und Kind und Kegel, oder?

Was kann ich noch schreiben? Eine halbe Seite habe ich noch. Mein Mann arbeitet sehr viel und lange. Dir kann ich es ja schreiben, weil du mir ein Vertrauter warst und weit weg bist: Mein Mann ist mir langweilig. Stinklangweilig. Manchmal denke ich, dass es besser gewesen wäre, als Schwangere in München im Armenhaus zu sitzen, als mit dieser knausrigen Beamtenseele in dieser Hitze zu leben. Aber hernach ist man immer klüger.

Liebe Grüße aus dem fernen Brasilien. Ich schaue ab dem 20. jeden Tag nach, ob eine Antwort von dir da ist, denn es interessiert mich sehr, was aus dir geworden ist.

Deine Burgl«

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