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DRITTE ABHANDLUNG:
ÜBER DIE EINHEIT DER RELIGION
Da die Religion das wichtigste Band der menschlichen Gesellschaft darstellt, ist es eine gute Sache, wenn sie selbst vom wahren Band der Einigkeit zusammengehalten wird. Die Streitigkeiten und Abspaltungen in der Religion sind Heimsuchungen, die den Heiden unbekannt waren. Der Grund dafür liegt in dem Umstand, dass die heidnische Religion eher in Riten und Zeremonien als in festem und fortwährendem Glauben wurzelte. Man kann sich vorstellen, von welcher Art ihr Glaube war, wenn man weiß, dass die Väter und obersten Lehrer ihrer Kirche die Dichter waren. Aber der wahre Gott besitzt die Eigenschaft, ein eifersüchtiger Gott zu sein, und daher duldet seine Anbetung und Religion keinerlei Vermischung oder Konkurrenz. Deshalb werden wir nun ein paar Worte über die Einheit der Kirche sowie deren Früchte, Grenzen und Mittel sagen.
Die Früchte der Einheit (neben dem Wohlgefallen Gottes, das alles andere beinhaltet) sind zweigestaltig. Es gibt zum einen jene, die die Menschen außerhalb der Kirche genießen, und zum anderen jene, welche ihnen innerhalb derselben zugute kommen. Was die ersteren angeht, so ist es gewiss, dass Häresie und Glaubensspaltung die größten aller Ärgernisse sind, schlimmer noch als die Verderbnis der Sitten. So wie in einem natürlichen Körper andauernd schwärende Wunden schlimmer sind als verdorbene Körpersäfte, so ist es auch im spirituellen Körper. Nichts hält die Menschen so sehr von der Kirche fern und treibt sie von ihr weg wie der Verlust der Einheit. Wann immer es deshalb geschieht, wenn jemand sagt „Ecce in deserto [Seht, er ist in der Wüste]“, und ein anderer sagt „Ecce in penetralibus [Seht, er ist in den Kammern]“, das heißt, wenn einige Christus in den heimlichen Zusammenkünften der Häretiker und andere in den Äußerlichkeiten eines Kirchengebäudes suchen, dann sollte ihnen ohne Unterlass eine Stimme in den Ohren klingen, die sagt: „Nolite exire“ – gehet nicht hinaus. Der Apostel der Heiden, dessen Berufung es ihm auferlegte, sich besonders denjenigen zu widmen, die außerhalb der Kirche standen, sagte: „Wenn ein Heide hereinkommt und euch in verschiedenen Zungen reden hört, wird er dann nicht sagen, dass ihr verrückt seid?“ Und es ist kaum besser, wenn Atheisten und Gotteslästerer so viele einander widersprechende und entgegengesetzte Meinungen innerhalb des einen Glaubens hören. Es macht sie der Kirche abspenstig, sodass sie „auf dem Stuhl des Spötters Platz nehmen.“ Dies ist nur eine Kleinigkeit, die für eine so ernste Angelegenheit herangezogen wird, aber sie drückt sehr wohl die Fehlentwicklung aus. Es gibt einen Meister des Spottes, der in seinem Katalog einer erfundenen Bibliothek ein Buch mit dem Titel Der Moriskentanz der Ketzer aufführt. In der Tat hat jede Sekte ihre eigene Haltung und Pose, die bei den weltlich Gesonnenen und Verderbten, die alles Heilige zu verdammen geneigt sind, unweigerlich Spott hervorrufen.
Die Frucht für all jene, die sich innerhalb der Kirche befinden, ist der unendliche Segen des Friedens. Dieser begründet den Glauben und erzeugt Mildtätigkeit; der äußere Friede der Kirche führt zum Frieden des Gewissens und lenkt die Mühen, die sonst auf das Schreiben und Lesen von Streitschriften verwendet werden, auf die Abfassung von Traktaten der Kasteiung und Andacht.
Was die Grenzen der Einheit angeht, so ist deren richtige Ziehung von äußerster Wichtigkeit. In dieser Hinsicht scheint es zwei Extreme zu geben. Einigen Glaubenseiferern ist alles Reden von Versöhnung verhasst. „ ‚Der König lässt fragen, ob nun Frieden herrscht.‘ Jesus gab zur Antwort: ‚Was hast du dich um den Frieden zu kümmern? Reihe dich in meine Gefolgschaft ein!‘ “ Ihnen geht es nicht um Frieden, sondern um Gefolgschaft und Parteiergreifung. Im Gegensatz dazu glauben einige Laodiceer und halbherzige Personen, dass sie Fragen der Religion durch Mittelwege beantworten können, indem sie auf beiden Seiten gleichzeitig Partei ergreifen und für geistreiche Aussöhnung sorgen, als ob sie Schiedsrichter zwischen Gott und den Menschen wären. Diese beiden Extreme gilt es zu vermeiden, was dadurch geschehen kann, dass sich der Bund der Christenheit, so wie er von unserem Heiland persönlich eingesetzt wurde, fest und unbeirrbar an die beiden einander ergänzenden Sätze hält: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich“ und „Wer nicht gegen mich ist, der ist mit mir“ – das heißt, wenn die wesentlichen und grundlegenden Punkte in der Religion ernsthaft und wahrhaft von solchen Punkten getrennt werden, in denen es nicht ausschließlich um den Glauben, sondern lediglich um Meinungen, Systeme oder gute Absichten geht. Dies mag manchem als unwichtig und bereits erfolgt erscheinen, aber wenn es weniger um das Kleine ginge, könnte das Große stärker in den Vordergrund rücken.
Hierfür möchte ich innerhalb meiner kleinen Abhandlung nur den folgenden Rat geben. Die Menschen sollten sich davor hüten, Gottes Kirche insbesondere durch zwei Arten von Kontroversen auseinanderzureißen. Die eine Art besteht darin, dass der Gegenstand der Kontroverse allzu klein und unbedeutend und nicht der Hitze und des Streites würdig ist, der nur durch Widerspruchsgeist angefacht wurde. Denn, wie es einer der Kirchenväter ausdrückt, „Christi Gewand hatte zwar keine Naht, aber das Gewand der Kirche hat viele Farben“, worauf er sagt: „In veste varietas sit, scissura non sit [Das Gewand darf verschiedene Farben haben, aber keinen Riss].“ Einheit und Gleichheit sind zwei verschiedene Dinge. Die andere Art besteht darin, dass der Punkt, über den verschiedene Meinungen bestehen, durchaus wichtig ist, aber mit einer übergroßen Subtilität und Unklarheit behandelt wird, sodass der Streit eher scharfsinnig als bedeutsam ist. Ein Mensch mit gutem Urteilsvermögen und Verstand hört manchmal einem Streit von Unwissenden zu und weiß dabei genau, dass sie im Grunde eines und dasselbe meinen, auch wenn sie es niemals zugeben würden. Wenn schon ein Mensch diese nur scheinbare Kluft zwischen zwei Streitenden erkennen kann, um wie vieles mehr sollte es dann nicht auch Gott, der die Herzen kennt, möglich sein, den gemeinsamen Vorsatz in den widersprüchlichen Meinungen der schwachen Menschen zu sehen und sie deshalb gleichermaßen gelten zu lassen? Die Natur solcher Kontroversen hat der heilige Paulus sehr gut in der Warnung und dem Gebot ausgedrückt, die er diesbezüglich gibt: „Devita profanas vocum novitates, et oppositiones falsi nominis scientiae [Halte dich fern von unheiligen, leeren Redereien und den Widersprüchen der fälschlich so genannten Erkenntnis].“ Die Menschen erschaffen dort Widersprüche, wo keine sind, und kleiden sie in neue Redewendungen, sodass die Begriffe den Sinn bestimmen, wo doch eigentlich der Sinn die Begriffe bestimmen sollte. Überdies kann es zwei falsche Arten von Frieden und Einheit geben. Bei der einen gründet der Friede auf stillschweigender Unkenntnis, denn im Dunkeln sind alle Farben gleich, und die andere Art fußt auf dem unmittelbaren Zugeständnis von Uneinigkeit in wesentlichen Punkten. Wahrheit und Falschheit sind in solchen Dingen wie das Eisen und der Lehm in den Zehen von Nebukadnezars Abbild. Sie mögen aneinander haften, aber sie gehen keine dauerhafte Verbindung ein.
Was die Mittel zur Erlangung der Einheit angeht, so muss die Menschheit darauf achten, dass sie bei der Einrichtung und Festigung dieser Einheit nicht die Gesetze der Nächstenliebe und Menschlichkeit verwässert oder gar außer Kraft setzt. Es sollte in der Christenheit zwei Schwerter geben: das spirituelle und das weltliche. Beide haben ihren Platz und ihre Bedeutung in der Aufrechterhaltung der Religion. Aber wir dürfen keinesfalls das dritte Schwert einsetzen, welches das Schwert Mohammeds oder zumindest dem seinen ähnlich ist; das heißt, wir dürfen die Religion nicht durch Kriege verbreiten oder das Gewissen durch blutige Verfolgung schärfen, außer in Fällen von öffentlichem Ärgernis, Blasphemie oder Hochverrat. Noch weniger dürfen Aufstände angezettelt, Verschwörungen und Rebellionen durchgeführt oder das Schwert in die Hand des Volkes gegeben werden, damit es die Regierung stürzt, die von Gott eingesetzt ist. Denn dies würde bedeuten, die eine Gesetzestafel an der anderen zu zerschmettern und die Menschen als vollkommene Christen anzusehen, während wir vergessen, dass sie im Grunde nur Menschen sind. Als der Dichter Lukrez die Tat des Agamemmnon betrachtete, der die Opferung seiner eigenen Tochter ertrug, rief er aus:
„Tantum religio potuit suadere malorum [Zu solch schlimmen Taten vermochte die Religion zu reizen].“
Was hätte er wohl gesagt, wenn er das Massaker in Frankreich oder die Pulververschwörung in England gekannt hätte? Er wäre noch sieben Mal mehr zum Epikuräer und Atheisten geworden, als er es ohnehin schon war. Denn das weltliche Schwert darf in den Belangen der Religion nur mit großer Umsicht gezogen werden, und es ist eine Ungeheuerlichkeit, es in die Hände des einfachen Volkes zu legen. Das sollte den Wiedertäufern und anderen Furien überlassen werden. Es war eine große Blasphemie, als der Teufel sagte: „Ich will aufsteigen und wie der Höchste sein“, aber es ist eine noch größere Blasphemie, Gott zu personifizieren und ihn sagen zu lassen: „Ich will herabsteigen und wie der Fürst der Finsternis sein“. Was wäre es schließlich anderes, die Religion in die Niederungen des Fürstenmordes, des Gemetzels am Volke und des Umsturzes von Staaten und Regierungen hinabzuführen? Gewiss hieße dies, den Heiligen Geist nicht als Taube, sondern als Geier oder Rabe herabsteigen zu lassen und auf dem Schiff der christlichen Kirche die Flagge von Piraten und Mördern zu hissen. Daher ist es überaus wichtig, dass die Kirche durch Doktrinen und Dekrete, die Fürsten aber durch ihr Schwert und all ihre Gelehrsamkeit, sei sie christlich oder moralisch geprägt, alle Taten und Meinungen, die solches unterstützen, gleichsam mit ihrem Merkurstab verdammen und auf ewig zur Hölle schicken, wie dies bereits in nicht geringem Umfange geschehen ist. Gewiss sollte allen Ratschlüssen bezüglich der Religion der Rat des Apostels vorangesetzt werden: „Ira hominis non implet iustitiam Dei [Denn der Zorn eines Menschen erwirkt nicht Gerechtigkeit vor Gott].“ Es war eine bemerkenswerte und scharfsichtig ausgedrückte Beobachtung eines weisen Kirchenvaters, als er sagte: „Jene, die den Gewissenszwang verfechten und zu ihm überreden wollen, haben für gewöhnlich ein eigenes Interesse daran.“
VIERTE ABHANDLUNG:
ÜBER DIE RACHE
Die Rache ist eine Art ungezähmter Justiz, die umso gründlicher vom Gesetz ausgerottet werden sollte, je mehr die Natur des Menschen Zuflucht zu ihr nimmt. Was das vorangegangene Unrecht angeht, so verstößt es gegen das Gesetz, aber die Rache für dieses Unrecht setzt das Recht außer Kraft. Gewisslich steht derjenige, der Rache übt, auf einer Stufe mit seinem Feinde, aber wenn er verzeiht, ist er ihm überlegen, denn die Gnade ist das Vorrecht des Fürsten. Wenn ich mich recht erinnere, sagte Salomo: „Ruhm ist, über böses Tun hinwegzugehen.“ Das Vergangene ist unwiderruflich vorbei, und weise Menschen haben genug mit der Gegenwart und der Zukunft zu tun. Deshalb machen es sich diejenigen selbst schwer, die sich an den Geschehnissen der Vergangenheit abmühen. Niemand verübt ein Unrecht nur um des Unrechtes willen, sondern um sich dadurch Gewinn, Vergnügen, Ehre oder etwas Gleichartiges zu verschaffen. Warum also sollte ich auf einen Menschen wütend sein, weil er sich selbst mehr liebt als mich? Und wenn ein Mensch ein Unrecht tatsächlich nur aus bösem Willen verüben sollte, dann ist er so wie der Dorn oder der Stachel, der kratzt und sticht, weil er nicht anders kann. Die erträglichste Art der Rache ist die für ein erlittenes Unrecht, das kein Gesetz wiedergutmachen kann, doch dann soll derjenige, der Rache nimmt, darauf achten, dass sie von keinem Gesetz bestraft werden kann, denn sonst ist der Feind im Vorteil, und es steht zwei zu eins. Manche wünschen, wenn sie Rache nehmen, dass der andere weiß, aus welcher Richtung sie kommt: das sind die Wohlwollenderen. Ihr Genuss scheint nicht so sehr in der Zufügung von Schaden zu liegen, sondern darin, dass der andere seine Tat bereut. Doch gemeine und hinterlistige Feiglinge sind wie der Pfeil, der durch die Nacht fliegt. Cosimo, der Großherzog von Florenz, bediente sich eines verbitterten Sprichwortes gegen heimtückische und sorglose Freunde, deren Untaten unverzeihlich seien: „Ihr könnt lesen“, sagte er, „dass uns befohlen wird, unseren Feinden zu vergeben, aber nirgendwo könnt ihr lesen, dass uns befohlen wird, unseren Freunden zu vergeben.“ Der Geist des Hiob war hingegen milder gestimmt. „Sollen wir etwa“, sagte er, „das Gute aus den Händen Gottes entgegennehmen und nicht damit zufrieden sein, auch das Böse anzunehmen?“ Ebenso verhält es sich mit den Freunden. Es ist gewiss, dass ein Mensch, der auf Rache sinnt, seine eigenen Wunden frisch hält, die ansonsten verheilen würden, sodass es ihm wieder gut ginge. Öffentlich geübter Rache ist häufig Glück beschieden, wie zum Beispiel für den Tod Caesars, den des Pertinax, den Heinrichs des Dritten von Frankreich und anderer mehr. Doch bei persönlicher Rache verhält es sich nicht so. Vielmehr führen rachsüchtige Menschen das Leben von Hexen und Zauberern, die Schaden stiften und unselig enden.
FÜNFTE ABHANDLUNG:
ÜBER DAS UNGLÜCK
Seneca sprach große Worte, als er (in der Art der Stoiker) sagte, „dass die guten Dinge, die sich aus Reichtum und Erfolg ergeben, erstrebenswert sind, aber die guten Dinge, die aus dem Unglück folgen, bewundernswert sind“, „bona rerum secundarum optabilia, adversarum mirabilia.“ Gewiss, wenn Wunder der Natur zu gebieten vermögen, dann ereignen sie sich zumeist im Unglück. Noch größere Worte als die vorangegangenen sprach er aus (zu groß waren sie eigentlich für einen Heiden): „Es ist wahre Größe, die Gebrechlichkeit eines Menschen und die Sicherheit eines Gottes in sich zu vereinen.“ „Vere magnum, habere fragilitatem hominis, securitatem dei.“ Dies hätte er besser in einem Dichtwerk gesagt, wo solche Erhabenheit eher am Platze ist. Die Dichter haben sich in der Tat damit beschäftigt, denn dies ist es im Grunde, was in jener seltsamen Dichtung der alten Poeten dargestellt wird, die nicht ohne Geheimnis und sogar der Geisteshaltung eines Christen angenähert zu sein scheint. Als Herkules sich daran machte, den Prometheus zu entfesseln (durch den die menschliche Natur dargestellt wird), segelte er über den weiten Ozean in einem irdenen Topf oder Krug, wodurch auf lebendige Weise die christliche Entschlossenheit beschrieben wird, in der zerbrechlichen Barke des Fleisches durch die Wellen der Welt zu segeln. Doch drücken wir es auf schlichtere Weise aus: Die Tugend des Wohlstandes ist die Mäßigung; die Tugend des Unglücks ist die Tapferkeit, welche in der Sittenlehre als die heroischere Tugend gilt. Wohlstand und Erfolg sind der Segen des Alten Testaments; Unglück ist der des Neuen Testaments, welches die höhere Weihe und die deutlichere Offenbarung der göttlichen Gnade in sich trägt. Doch auch wenn man Davids Harfe im Alten Testament lauscht, wird man genauso viele Trauerklagen wie Jubellieder hören, und der vom Heiligen Geist geführte Griffel hat sich mehr in den Beschreibungen der Heimsuchungen Hiobs als in den Glückseligkeiten Salomos abgemüht. Wohlstand ist nie frei von Ängsten und Abneigungen, und Unglück ist nie ohne Trost und Hoffnung. Bei Nadelarbeiten und Stickereien ist es angenehmer, ein lebendiges Bild auf einem tristen und feierlichen Untergrund zu haben anstatt eines dunklen und melancholischen Werkes auf einem hellen Grund. Daher lässt sich aus dem Vergnügen des Auges auf das Vergnügen des Herzens schließen. Gewiss ist die Tugend wie köstliche Düfte, die am besten riechen, wenn sie verbrannt oder gepresst werden, denn im Wohlstand und Glück offenbart sich das Laster am besten, während sich im Unglück am besten die Tugend zeigt.
SECHSTE ABHANDLUNG:
ÜBER VERSTELLUNG UND HEUCHELEI
Die Heuchelei ist bloß eine schwache Abart von Klugheit und Weisheit, denn es erfordert einen scharfen Verstand und großen Mut zu wissen, wann die Wahrheit ausgesprochen werden muss, und sie dann auch tatsächlich auszusprechen. Daher sind die schwächeren Politiker die größten Heuchler.
Tacitus sagt: „Livia passte gut zu den Künsten ihres Gatten und zu den Heucheleien ihres Sohnes“, wobei er die Künste – und die Politik – dem Augustus und die Heuchelei dem Tiberius zuschrieb. Und als Mucianus den Vespasian ermuntert, die Waffen gegen Vitellius zu ergreifen, sagt er: „Wir erheben uns weder gegen das schneidende Urteilsvermögen des Augustus noch gegen die äußerste Vorsicht und Verschlagenheit des Tiberius.“ Diese Eigenschaften der Staatskunst und des politischen Geschicks einerseits und der Heuchelei und Verschlagenheit andererseits sind in der Tat höchst unterschiedliche Fähigkeiten und daher streng voneinander zu trennen. Denn wenn jemand ein so scharfes Urteilsvermögen besitzt, dass er erkennen kann, was dem Lichte der Öffentlichkeit zuträglich ist, was besser geheim gehalten wird und was eher im Halbdunkel belassen werden sollte, und überdies wem und wann er was sagen kann (was wahre Staatsund Lebenskunst ist, wie Tacitus es treffend genannt hat), dann wird ihm Heuchelei als nachteilig und armselig erscheinen. Aber wenn jemand dieses Urteilsvermögen nicht besitzt, dann neigt er eher zu Heimlichkeit und Heuchelei. Denn wenn jemand in bestimmten Dingen nicht zu einem Entschluss kommen kann, ist es gut für ihn, den sichersten und vorsichtigsten Weg zu wählen, so wie man behutsam vorwärts geht, wenn man nicht gut sehen kann. Die fähigsten Menschen, die je gelebt haben, besaßen allesamt eine große Offenheit und Geradlinigkeit und standen im Ruf der Bestimmtheit und Aufrichtigkeit, denn sie waren wie gut dressierte Pferde, die genau wissen, wann sie anhalten und wann sie abbiegen müssen. Und wenn es tatsächlich einmal für sie notwendig gewesen sein sollte, zu heucheln, wurde dies von ihrem guten Ruf der Aufrichtigkeit und Offenheit überdeckt.
Es gibt drei Grade bei der Verschleierung und dem Verbergen der eigenen Person. Der erste Grad besteht in Verschlossenheit, Zurückhaltung und Verschwiegenheit, sodass das wahre Ich unsichtbar bleibt. Der zweite Grad besteht in der negativen Form der Verstellung, die dann vorliegt, wenn jemand durch Zeichen oder Worte vorgibt, nicht der zu sein, der er in Wirklichkeit ist. Und der dritte Grad besteht in der positiven Form der Heuchelei, wenn jemand ausdrücklich und aktiv den Eindruck erweckt, er sei ein anderer als der, welcher er in Wirklichkeit ist.
Was den ersten dieser Grade, die Verschwiegenheit, angeht, so ist dies in der Tat die Tugend des Beichtigers. Gewisslich hört der Verschwiegene viele Geheimnisse, denn wer würde sich einem Schwätzer oder einem Ausplauderer anvertrauen? Aber wenn ein Mensch als verschwiegen angesehen wird, lädt er zur Offenheit ein, so wie die eingeschlossene Luft die Außenluft ansaugt. So wie bei der Beichte die Enthüllungen nicht zum weltlichen Gebrauche gedacht sind, sondern zur Gewissenserleichterung des Beichtenden, so gelangen die Verschwiegenen zur Kenntnis vieler Dinge, da die Menschen ihr Innerstes nicht den anderen mitteilen, sondern zu ihrem eigenen Nutzen entlasten wollen. In wenigen Worten ausgedrückt: Verschwiegenheit lockt Geheimnisse an. Außerdem ist, um die Wahrheit zu sagen, Nacktheit sowohl am Körper als auch am Geiste reizlos, und deshalb werden das Benehmen und die Handlungen eines Menschen umso mehr bewundert, wenn sie nicht ganz offenherzig geschehen. Redselige und Schwätzer sind überdies zumeist eitel und leichtgläubig, denn derjenige, der das ausplaudert, was er weiß, wird auch das ausplaudern, was er nicht weiß. Daher sei hier festgestellt, dass die Eigenschaft der Verschwiegenheit sowohl von Klugheit als auch von Sittlichkeit zeugt. In diesem Falle ist es gut, wenn Gesicht und Zunge im Einklang miteinander stehen, denn die Enthüllung des Wesens durch das Mienenspiel ist eine verräterische Angelegenheit, da ihm größeres Gewicht beigemessen und mehr geglaubt wird als den Worten.
Was den zweiten Grad, die Verstellung, angeht, so folgt sie der Verschwiegenheit geradezu zwangsläufig, denn der Verschwiegene muss bis zu einem gewissen Grade auch zur Verstellung fähig sein. Die Menschen sind zu schlau, um es dem Verschwiegenen zu erlauben, eine Haltung der Unentschiedenheit einzunehmen und nicht die Waagschale ein wenig nach der einen oder anderen Seite zu kippen. Sie werden ihn mit Fragen bestürmen, ihn auf ihre Seite zu ziehen versuchen und so sehr auf ihm herumhacken, dass er zur einen oder anderen Seite neigen muss, wenn er nicht in absurdem Schweigen verharren will. Wenn er hingegen stumm bleibt, werden sie aus seinem Schweigen genauso viel herauslesen, als wenn er etwas gesagt hätte. Und was Mehrdeutigkeiten oder orakelhafte Rede angeht, so werden sie nicht lange Bestand haben. Daher ist es niemandem möglich, verschwiegen zu sein, ohne sich ein wenig der Verstellung zu bedienen, die geradezu die Schleppe am Kleide der Verschwiegenheit darstellt.
Was den dritten Grad, die Heuchelei und Falschbekundung, angeht, so halte ich diesen für tadelnswerter und weniger klug, außer in überaus wichtigen und selten auftretenden Angelegenheiten. Deshalb ist die so oft anzutreffende Gewohnheit der Heuchelei (die diesen letzten Grad darstellt) ein Laster, das entweder aus angeborener Falschheit oder Ängstlichkeit oder aus einem Verstand erwächst, der größere Makel besitzt, die verborgen werden müssen, weswegen es dann auch in anderen Dingen zum Einsatz gelangt, damit der Heuchler nicht aus der Übung komme.
Es gibt drei große Vorteile der Verstellung und Heuchelei. Erstens vermögen sie Widerspruch zu besänftigen und zu überrumpeln, denn wenn jemand seine Absichten öffentlich macht, so ist das ein Weckruf für alle, die gegen ihn sind. Zweitens vermögen sie einen angenehmen Rückzug zu verschaffen, denn wenn sich jemand durch eine eindeutige Verlautbarung festlegt, muss er sie entweder durchfechten oder daran zugrunde gehen. Drittens können auf diese Art und Weise die Ansichten des anderen besser enthüllt werden, denn demjenigen gegenüber, der sich den anderen öffnet, werden sich die Menschen kaum feindlich erzeigen, sondern ihn weiterreden lassen und sich bei seinen offenen Worten das Ihre denken. Daher kennt der Spanier dieses gute und gewitzte Sprichwort: „Sprich eine Lüge aus, und du entdeckst eine Wahrheit.“ Doch zum Ausgleich gibt es auch drei Nachteile. Der erste besteht darin, dass Verstellung und Heuchelei oft mit einem Gebaren der Ängstlichkeit einhergehen, die bei jeder Gelegenheit verhindert, dass das anvisierte Ziel erreicht wird. Der zweite besteht darin, dass sie viele Menschen zurückstoßen und verwirren, die ansonsten möglicherweise mit dem Heuchler zusammengearbeitet hätten, sodass er nun fast allein auf sein Ziel zumarschieren muss. Der dritte und größte besteht darin, dass es den Menschen eines der wichtigsten Werkzeuge zum Handeln beraubt, nämlich des Vertrauens. Die beste Mischung und Methode ist, Offenheit des Geistes zu zeigen und dafür in hohem Ansehen zu stehen, Verschwiegenheit zu üben, sich angemessen der Verstellung zu bedienen und die Gabe der Heuchelei zu besitzen, falls nichts anderes mehr helfen sollte.