Kitabı oku: «Relationalität in der Gestalttherapie», sayfa 3

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3. Individualismus im Vordergrund: die 1960er- und ’70er-Jahre

»Psychologie« ist eine nur auf das seelische Geschehen als solches gerichtete und nur ihm angemessene Betrachtungsweise. Der umfassende Ganzheitscharakter des Menschen wird uns aber erst sichtbar im offenen Blick auf seine Weltsituation. Nur in der partnerischen Erschlossenheit zur Welt hin ist das Selbst des Menschen, das wir als seine Personenmitte verstehen, in actu. (Trüb 1951/2015, 15)

Heutzutage halten sich die meisten Gestalttherapeutinnen für auf die eine oder andere Weise relational orientiert. Zumindest kann man mit einiger Bestimmtheit sagen, dass es schwer sein dürfte, noch einen Gestalttherapeuten zu finden, der sich ausdrücklich als Vertreter eines individualistischen Ansatzes versteht. Dass wir heute an diesem Punkt sind, ist selbstverständlich zu begrüßen. Aber ich denke, es ist möglich, über den derzeitigen Stand hinaus zu gehen.

Um diese Behauptung nachvollziehbar zu machen, werde ich im folgenden Text zunächst in groben Zügen den historischen Faden innerhalb der Gestalttherapie nachzeichnen, der mit einem mehr oder weniger individualistischen Verständnis und einer entsprechenden therapeutischen Praxis begann und dann in den 1980er Jahren eine relationale Wende‹ nahm.

Theoretische Ergänzung 3

Ich werde im vorliegenden Text darauf verzichten, genauer zu bestimmen, was mit »Individualismus« gemeint ist. Ich habe das an anderer Stelle getan und verweise den interessierten Leser daher z. B. auf Bellah, Madsen, Sullivan, Swidler und Tipton (1987), Staemmler (2009a, 51 ff.) oder Wheeler (2006a, 35 ff.).

Als eine kurze Andeutung zitiere ich Geertz:

Die abendländische Vorstellung von der Person als einem fest umrissenen, einzigartigen, mehr oder weniger integrierten motivationalen und kognitiven Universum, einem dynamischen Zentrum des Bewußtseins, Fühlens, Urteilens und Handelns, das als unterscheidbares Ganzes organisiert ist und sich sowohl von anderen solchen Ganzheiten als auch von einem sozialen und natürlichen Hintergrund abhebt, erweist sich, wie richtig sie uns auch scheinen mag, im Kontext der anderen Weltkulturen als eine recht sonderbare Idee. (1987, 294)

Diesem Menschenbild entsprachen die Vorstellungen davon, wie der Mensch, der sich einer Psychotherapie unterzog, aus ihr hervorgehen sollte. Jerome Frank charakterisiert diese Person so:

Sie war eine an sich selbst orientierte Person, von hohen moralischen Prinzipien geleitet, nach Erfolg strebend und unempfindlich für soziale Einflüsse, die sie dazu bringen könnten, ihre Prinzipien und Ideale zu verletzen. Diese Person hatte Angst vor zu viel Offenheit, durch die sie – erstens – anderen Kenntnis von ihren Schwächen geben könnte und es diesen dadurch ermöglichen würde, von ihnen zu deren Vorteil ausgebeutet zu werden. Wenn diese Person sich erlauben würde, zu besorgt um das Wohlergehen der anderen zu sein, würde es für sie – zweitens – schwieriger werden, ihre eigenen Ziele zu erreichen, wozu es notwendigerweise gehören würde, die anderen am Erreichen ihrer Ziele zu hindern. Ihr Erfolg hing davon ab, dass sie eine Fassade von Rechthaberei und Selbstvertrauen aufrechterhielt, was es erforderlich machte, innere Impulse zu verleugnen oder zu unterdrücken, die, wenn sie ins Bewusstsein gelassen würden, Selbstzweifel hervorrufen könnten. (1971, 351)

Auf die Zeit, in der ein individualistisches Menschenbild und ein ihm entsprechendes Therapieverständnis dominierte, folgte die Phase einer relationalen Konzeption der Gestalttherapie, deren Schwächen ich im Weiteren ebenfalls untersuchen werde, wie sie mir aus heutiger Sicht im Rückblick erscheinen. Schließlich werde ich vorschlagen, eine weitere Wende einzuleiten; ich werde versuchen, die Umrisse eines nächsten möglichen Schrittes in der Entwicklung eines relationalen Therapieverständnisses aufzuzeigen.

Wer sich wie ich in den 1960er- und ’70er-Jahren von der Gestalttherapie inspiriert fühlte, lernte eine mehr oder weniger individualistische Interpretation der Gestalttherapie kennen, wie sie von Fritz Perls und seinen unmittelbaren Nachfolgern vorgestellt wurde – mehr noch: Zu jener Zeit dachte kaum jemand daran, dass es sich um eine individualistische Deutung der Gestalttherapie handelte; weil einer ihrer Begründer sie vertrat, und zwar ihr prominentester, hielt man sie naiverweise für das, was die Gestalttherapie im Wesentlichen ausmachte.

Das gilt ungeachtet der Tatsache, dass das Buch Gestalt Therapy (Perls, Hefferline & Goodman 195113) durchaus schon einige wichtige nicht-individualistische Ideen enthielt. In diesem Zusammenhang ist vor allem der Versuch der Autoren zu erwähnen, einen feldtheoretischen Ansatz zu formulieren, auch wenn dieser noch rudimentär und teilweise inkonsistent ausfiel (vgl. Staemmler 2006). Doch ihr Ausgangspunkt ist eindeutig:

Es gibt keine einzige Funktion irgendeines Lebewesens, die ohne Beteiligung von Objekten und Umwelt wirksam wird, ob man die vegetativen Funktionen wie Nahrung oder Sexualität, oder die Wahrnehmungsfunktionen, oder motorische Funktionen, oder Gefühle, oder das Denken selbst im Auge hat. … Wir wollen diese Interaktion zwischen Organismus und Umwelt bei jeder Funktion das »Organismus/Umweltfeld« nennen. (1951/2006, 22)

Darüber hinaus gibt es noch einige weitere relationale Elemente in Gestalt Th erapy. Als zusätzliche Beispiele möchte ich zwei Sätze zitieren, die ich für wichtig halte:

1. »Der Kontakt selbst ist die erste und unmittelbarste Wirklichkeit« (Perls et al. 1951/2006, 21).

2. »Persönlichkeit ist eine Struktur, die aus … frühen interpersonalen Beziehungen heraus entsteht« (a.a.O., 142).14

Ich werde auf das zweite Zitat später zurückkommen. Was das erste angeht, ist es offensichtlich, dass es sich bei dem Begriff von Kontakt bei Perls et al. um ein sehr allgemeines Konzept handelt, mit dem jede beliebige »Interaktion zwischen dem Organismus und seiner Umwelt« gemeint ist, »in dem zumindest soziokulturelle, biologische und physische Faktoren interagieren« (a.a.O., 22 f.). Perls et al. »führten den Begriff des Kontakts als ein abstraktes, formales Konzept ein« (Miller 1994, xvii); zu atmen oder zu essen galt für sie ebenso als Formen des Kontakts wie den Geschlechtsverkehr zu vollziehen oder einen anderen Menschen zu beschimpfen oder zu schlagen (vgl. 1951/2006, 211).

In dem gesamten Buch spielen die Qualität des zwischenmenschlichen Kontakts in der therapeutischen Situation sowie ihre therapeutischen Implikationen nur eine marginale Rolle; die Wörter »Buber« oder »Ich-Du«, die im zeitgenössischen Diskurs so häufig verwendet werden, tauchen bei Perls et al. kein einziges Mal auf!15 Das Wort »Dialog« findet sich nur ein einziges Mal, dort allerdings nicht im Buber’schen Sinne, sondern mit Bezug auf private oder stille Selbstgespräche (vgl. Staemmler 2015, 276 ff.): »Diesen inneren Dialog hat Sokrates das Wesen des Denkens genannt« (Perls et al. 1951/2007, 153).

Trotz der nicht-individualistischen Überlegungen, die ich oben angedeutet habe, kann der Leser im Übrigen sowohl in Das Ich, der Hunger und die Aggression (Perls 1978) als auch in Gestalt Therapy einige Konzepte finden, die sich aus meiner Sicht als ziemlich individualistisch bezeichnen lassen. Ich denke zum Beispiel an die Aggressionstheorie,16 die auf Smuts’ (1938) konfuser Vorstellung von einem »geistig-seelischen Stoffwechsel« (vgl. Perls 1978, 127) sowie »dem individualistischen Ideal von einer Destrukturierung der Umwelt wie in einem Vakuum« (Saner 1989, 64) beruhte: Typischerweise verleibt sich hier ein hungriger »Organismus« (nicht etwa eine Person!) ein passives Objekt, z. B. ein Nahrungsmittel, ein, das er dann »assimiliert«.

Interaktionen mit anderen Menschen, die in ihrem eigenen Recht existieren und über eine eigene Perspektive und einen eigenen Willen verfügen, wurden seinerzeit – entgegen der Erwartung, die man an psychotherapeutische Literatur richten darf – nicht systematisch diskutiert. Diese Theoriebildung ist aus meiner Sicht als Anleitung zur »Aneignung [zu] verstehen, welche versucht, sich das jeweils Fremde oder Andere ›einzuverleiben‹, anstatt zu ihm in eine Antwortbeziehung zu treten, welche die eigene Stimme dieses Anderen und damit dessen Unverfügbarkeit konstitutiv anerkennt« (Rosa 2016, 326 – H.i.O.)17

Theoretische Ergänzung 4

Abraham Maslow kam bei seiner intensiven Beschäftigung mit menschlicher Motivation zu dem Ergebnis, dass der individuelle Bedarf an Nahrung sich nicht gerade als prototypisches Beispiel für menschliche Bedürfnisse eignet, sondern dass der relationale Wunsch nach Liebe, d. h. nach Zugehörigkeit, Verbundenheit, Anerkennung und Zuneigung, dafür sehr viel geeigneter ist:

Hunger als ein Beispiel für alle anderen Motivationszustände zu wählen, ist sowohl theoretisch wie auch praktisch unvernünftig. Man kann nach näherer Betrachtung erkennen, daß der Hungertrieb mehr ein Spezialfall der Motivation ist als ein genereller. Er ist isolierter (um dieses Wort zu verwenden, wie es die Gestalt- und die Goldstein-Psychologen tun) als andere Motivationen, und auch weniger allgemein. Und schließlich unterscheidet er sich von anderen Motivationen darin, dass er eine bekannte somatische Basis besitzt, was für Motivationszustände ungewöhnlich ist. …

Allgemein hat man angenommen, daß alle Triebe dem von den physiologischen Trieben gesetzten Beispiel folgen. Man kann bereits jetzt voraussagen, daß dies nie der Fall sein wird. Die meisten Triebe sind nicht isolierbar noch können sie somatisch lokalisiert werden, noch können sie betrachtet werden, als wären sie das einzige, was im Organismus in einem bestimmten Zeitpunkt geschieht. Den typischen Trieb oder das typische Bedürfnis oder Verlangen kann man nicht auf eine spezifische, isolierte, lokalisierte somatische Basis beziehen und wird es auch wahrscheinlich nie können. Das typische Verlangen ist offenkundig viel mehr ein Bedürfnis der ganzen Person.… Wenn man die bisher vorliegenden Indizien betrachtet, stimmt es wahrscheinlich, daß wir niemals das Bedürfnis nach Liebe verstehen würden, soviel wir auch über den Hungertrieb wüßten. Tatsächlich kann man auch die dezidierte Behauptung aufstellen, daß wir nämlich aus der vollen Kenntnis des Liebesbedürfnisses mehr über die allgemeine menschliche Motivation (einschließlich des Hungers) lernen können als aus einer gründlichen Untersuchung des Nahrungstriebs. (Maslow 1981, 47)

Ein weiteres Beispiel ist das Modell des »organismischen Zyklus« (Perls 1978, 53 ff.) oder auch »Triebzyklus« (a.a.O., 84), später »Kontaktprozess« genannt (vgl. Perls et al. 1951/2006, 247 ff.), das »ursprünglich zur Beschreibung des Wandels von individueller Perspektive aus herangezogen« (Melnick & Nevis 2006, 264 – H.d.V.) wurde, weswegen es sich allerdings weder dazu eignet, »den bilateralen Charakter der Begegnung zu beschreiben, die zwischen Patient und Therapeut stattfindet, noch den relationalen Prozess, der sich zwischen beiden entwickelt«, wie Macaluso (2015, 234 – H.d.V.) zutreffend feststellt. Das zugrundeliegende Denkmuster war wohl eher: »Ich und nochmal ich und als Erfüllungsgehilfe Du« (Beck & Beck-Gernsheim 1990, 22).

Dasselbe ist über das verwandte Konzept des »Kontaktzyklus«18 zu sagen; ich stimme hier völlig mit Gordon Wheeler überein, der beklagt:

Leider findet sich wenig bis gar nichts von diesem sozialen, relationalen Seinsgrund in den uns vertrauten Gestaltszyklusmodellen wieder. Der Zyklus in seiner üblichen Darstellung … gibt ein Schema der Lebenszeit eines Impulses isoliert wieder, als existierte er getrennt … vom ›äußeren‹ Kontext … anderer Menschen…. Insbesondere scheinen die Zyklusmodelle … oft nahe zu legen, dass der einzig signifikante Ort, an dem man nach der menschliches Verhalten motivierenden Dynamik suchen kann, ›innerhalb‹ der Person läge. So eine eminent individualistische Tendenz verzerrt und reduziert unser Verstehen des menschlichen Prozesses im sozialen Feld. (2006b, 187 f. – H.i.O.)

Theoretische Ergänzung 5

In all diesen Kontakt-Zyklus-Modellen erschien die Umwelt – selbst die menschliche Mitwelt – als mehr oder weniger lebloses Objekt und wurde – der irrigen Stoffwechsel-Metapher folgend – zumeist am Beispiel eines Nahrungsmittels verdeutlicht, das keinerlei Autonomie oder eigene Aktivität an den Tag legt. Doch auch Begegnungen zwischen Menschen wurden bisweilen nach diesem Muster gedeutet. Dass selbst ein ›Liebesakt‹, wenn er durch die individualistisch-biologistische Brille dieses Modells betrachtet wird, derartig einseitig und lieblos erscheinen kann, dass man nicht mehr glaubt, er habe etwas mit einer Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen zu tun, an der beide sozial aktiv und psychisch engagiert beteiligt sind, kann man an dem folgenden Beispiel sehen:

1 Ein Mann ruht.

2 Es kommt der Wunsch nach sexuellen Kontakten auf.

3 Er denkt an seine Partnerin.

4 Er geht zu ihr herüber.

5 Er kommt mit ihr zusammen.

6 Schläft nach dem Verkehr ein. (Petzold 1973, 2819)

Die eindrucksvollen Demonstrationen, mit denen Fritz Perls (1974; 1976) seine Arbeit während seiner Zeiten in Esalen illustrierte, haben zusätzlich zu der individualistischen Lesart der Gestalttherapie beigetragen und ihr Bild in der Öffentlichkeit für mindestens ein Jahrzehnt stark geprägt – mancherorts sogar bis heute. Viele von denen, die diesen therapeutischen Ansatz zu Zeiten des antiautoritären Aufruhrs kennenlernten, waren elektrisiert von der individuellen Freiheit und persönlichen Unabhängigkeit, die das so genannte ›Gestaltgebet‹ vertrat und versprach:

Ich tue, was ich tu; und du tust, was du tust.

Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben,

Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach den meinen zu leben.

Du bist du, und ich bin ich,

Und wenn wir uns zufällig finden, – wunderbar.

Wenn nicht, kann man auch nichts machen. (Perls 1974, 13)

Aus heutiger Sicht ist festzustellen: Zahlreiche Gestalttherapeuten – und ich schließe mich hier ausdrücklich ein – erkannten damals nicht (oder wollten nicht erkennen), dass das im ›Gestaltgebet‹ vertretene Verständnis von menschlichen Beziehungen primär die Abgrenzung der Individuen voneinander betonte. Außerdem glich die darin erst in zweiter Linie enthaltene Vorstellung von zwischenmenschlichem Kontakt stark dem Muster kaufmännischer Verhandlungen; es schien wie

eine Feilscherei – unter bestimmten Umständen ein Schlachtfeld –, bei der jedes der beiden Individuen seine Bedürfnisse zum Ausdruck bringt, ein Angebot macht, seinen Standpunkt vertritt und darum kämpft, das beste Verhandlungsergebnis für sich selbst im Interesse der eigenen Bedürfnisbefriedigung zu erreichen … Wenn die entsprechenden Bedürfnisse der Individuen kompatibel sind, ist eine Einigung leicht möglich; wenn nicht, kommt entweder gar kein Deal zustande, ein Kompromiss wird erzielt, ein Verhandlungspartner zeigt sich nachgiebig oder einer zwingt dem anderen seine Interessen auf. (Birtchnell 1993, 16)20

Aus meiner Sicht wurde es durch dieses plumpe Verständnis menschlicher Beziehungen im Allgemeinen für Perls und andere möglich, die therapeutische Beziehung im Besonderen auf eine Art und Weise zu betrachten, die es schwer macht, ihre therapeutischen Implikationen zu sehen – zumindest aus heutiger Perspektive. Die Art, wie Perls damals die therapeutische Beziehung definierte, entsprach dem zitierten ›Gestaltgebet‹ und liest sich so:

Ich bin nur für mich selbst verantwortlich und für niemand anderen. Ich übernehme keine Verantwortung für irgendeinen von euch – ihr seid für euch selbst verantwortlich.… Wenn ihr also verrückt werden, Selbstmord begehen, euch besser machen, euch aufputschen oder ein Erlebnis haben wollt, das euer Leben verändert, so ist das eure Sache. Ich tue was ich tue und du tust was du tust. (1974, 81 f.)

Viele von uns (mich selbst eingeschlossen) fühlten sich von Perls’ Esalen-Stil inspiriert: Persönliche Veränderung und Wachstum standen im Vordergrund; Verbundenheit, Bezogenheit, Zugehörigkeit und gegenseitige Fürsorge blieben stark im Hintergrund. Abgesehen von wenigen Aussagen im Geiste der gerade zitierten, war die therapeutische Beziehung kein relevantes Thema im gestalttherapeutischen Diskurs. Jerry Greenwald, der zur Gruppe der ersten Gestalttherapeuten zählte und die Gestalttherapie unmittelbar bei Perls kennenlernte, schreibt ausdrücklich:

Für den Gestalttherapeuten ist der Vorgang der Therapie auf die Erfahrungsprozesse des Patienten beschränkt.… Ebenso betrachtet der Gestalttherapeut seine Interaktion mit dem Patienten als seine Prozesse der Selbstregulation, die sich ihm als seine Bedürfnisse nach Selbstäußerung, Verständnis und Kontakt aufdrängen. (1980, 121 f. – H.i.O.)

Offenbar machte jeder sein ›Ding‹, und selbst »Interaktion« wurde hier – man höre und staune – als ein individueller Prozess der Selbstregulation verstanden.21 Auch das Setting, in dem die Perls’schen Demonstrationen stattfanden, spiegelte die individualistische Tendenz wider; Perls betonte: »Grundsätzlich mache ich eine Art Einzeltherapie im Rahmen einer Gruppe« (1974, 80). Die Person, die ›arbeitete‹, verließ die Runde der Beobachterinnen und nahm auf dem ›heißen Stuhl‹ neben Perls Platz, woraufhin die beiden dann ein Gespräch führten, von dem der Rest der Gruppe mehr oder weniger ausgeschlossen war. Yontef sagt von dieser Arbeitsweise: Sie »ist theatralisch und kathartisch orientiert und akzentuiert mehr die Technik als die Beziehung von Person zu Person. Ich nenne sie die Hauruck-Methode (›boom-boom-boom‹ therapy)« (1999, 29).

Theoretische Ergänzung 6

Yontefs kritische Anmerkung wendet sich u. a. gegen ein individualistisches Missverständnis von Emotionalität, das in jener Zeit weit verbreitet war und kaum infrage gestellt wurde. »In der gestalttherapeutischen Literatur haben die Gefühle zunächst eine weit geringere Betonung erfahren, als es ihrer großen Bedeutung in der gestalttherapeutischen Praxis entsprochen hätte,« wie Hans Peter Dreitzel (1995, 494) schon vor einiger Zeit richtig feststellte, ohne dass sich seither an dem beschriebenen Sachverhalt Wesentliches geändert hätte – abgesehen vielleicht von den wertvollen Beiträgen Leslie Greenbergs (vgl. Greenberg 2002; 2011; Greenberg, Rice & Elliott 1993; Greenberg & Safran 1987; vgl. auch Gegenfurtner & Fresser-Kuby 200722), der sich allerdings nicht eindeutig als Gestalttherapeut identifiziert.

Zu Zeiten der ›boom-boom-boom‹ therapy – und bisweilen heute noch – konnte man als Beobachter leicht den Eindruck gewinnen, die Therapeuten verhielten sich wie Animateure, die sich auf jedes Gefühl ihrer Klientinnen in der Absicht stürzten, ihm zu möglichst großer Intensität und Ausdrucksstärke zu verhelfen, dabei möglichst beeindruckende kathartische Effekte zu erzielen und selbst als möglichst geniale Regisseure eines die Zuschauer bewegenden Schauspiels in Erscheinung zu treten.

Die Wirkungen eines solchen Vorgehens gingen oft nicht über die der unmittelbaren Show hinaus, und wenn doch, dann brachten sie häufig eine Reihe von Nebenwirkungen mit sich, die kaum reflektiert wurden. Worum es mir an dieser Stelle aber hauptsächlich geht, ist das implizite Verständnis menschlicher Emotionalität, das sich in diesen Situationen zeigte und ausgeprägte Züge einer Eine-Person-Psychologie trug: Gefühle galten hier als Prozesse ›im‹ Klienten, die dieser so deutlich wie möglich ›in sich‹ spüren sollte – bis sie eine Heftigkeit erreicht hatten, die den Wunsch entstehen ließen, sie nunmehr wieder ›loszuwerden‹.

Dieses kathartische Modell, das im Umgang mit Aggressionen besonders drastisch praktiziert wurde (zur Kritik vgl. Staemmler & Staemmler 2008), hatte Perls von Wilhelm Reich und anderen frühen Analytikern übernommen.23 Es bestand in der Vorstellung einer Abfolge von Aufladung mit Triebenergie und deren Entladung, die ihren sprachlichen Tiefpunkt in der Vokabel von der ›Abfuhr‹ ›gestauter‹ Affekte fand, so als seien Emotionen zu entsorgendes Material oder Obstipationen von Verdauungsprodukten, die ›abzuführen‹ seien. – Wie meine tendenziell polemischen Formulierungen schon andeuten sollen, halte ich dieses Denkmodell nicht für überzeugend.

Gefühle sind weder Abfall noch Luxus. »Wir brauchen sie, wenn wir anderen Menschen Bedeutungen mitteilen wollen, und vielleicht sind sie auch … zur Orientierung unserer kognitiven Prozesse erforderlich« (Damasio 1997, 181 f.). Perls et al. definierten Emotionen ursprünglich als »die integrierte Bewußtheit einer Beziehung zwischen Organismus und Umwelt« (1951/2006, 257 – H.d.V.), womit die Relationalität von Gefühlen angesprochen war. Während Perls’ Esalen-Stil den kathartischen Ausdruck von Emotionen in den Vordergrund rückte, ging der oben erwähnte Leslie Greenberg deutlich darüber hinaus, als er die Notwendigkeit betonte, dass es in der therapeutischen Praxis darum gehe,

– Emotionen zuzulassen und zu akzeptieren, um der Informationen willen, die sie liefern, und nicht so sehr zum Zweck der kathartischen Wiederholung von emotionalem Ausdruck mit dem Ziel, Emotionen loszuwerden,

– einen Fokus auf Prozesse der Selbstunterbrechung, die die Bemühungen des Klienten behindern, Zugang zu seinen Emotionen zu bekommen,

– Zugang zu neuen Emotionen, um alte Emotionen zu verändern, und

– das Symbolisieren von und Nachdenken über Emotionen, um neue Narrative entstehen zu lassen. (2011, 12 f.)

Aus relationaler Perspektive könnte man noch etwas weitergehen und Emotionen präziser als verdichtete, dem Bewusstsein schnell zugängliche und Energie mobilisierende Erlebnisse von Bedeutungen verstehen, die ein Mensch einer aktuellen Beziehungssituation zuweist und mit deren Ausdruck er den anderen an der Situation Beteiligten diese Bedeutungen mitteilt. Damit sind Emotionen interaktive Ereignisse, die der zwischenmenschlichen Kommunikation, Verständigung, Handlung und Koregulation dienen. Menschen zielen mit ihren Gefühlen (und auch mit deren Intensität) auf Resonanz bei ihrem Gegenüber ab, d. h. sie wollen, dass ihre Emotionen wahrgenommen, verstanden und emotional beantwortet24 (nicht einfach nur ›abgeführt‹) werden.

Selbstverständlich ist all das im Kontext eines individualistischen Zeitgeists zu verstehen, der nicht nur in gestalttherapeutischen Kreisen wirksam war. Dieser Zeitgeist – wie es ja oft im Verlauf der Geschichte der Fall ist – schwang wie ein Pendel auf die individualistische Seite, nachdem über viele schreckliche Jahre hinweg faschistische Massenhysterie und stalinistischer Kollektivismus die Würde und die Rechte des Einzelnen ignoriert und unvorstellbares Leid über Millionen von Menschen auf der ganzen Welt gebracht hatten.

Parallel zur Version der Gestalttherapie von Fritz Perls praktizierte seine Frau Lore einen anderen Stil. »Es lag ihr im Blut, ›dialogischer‹ zu sein als Fritz, was vielleicht eine Folge ihrer Begegnung mit Buber war, vielleicht aber auch das, was sie anfänglich zu Buber hingezogen hatte,« meint Lynne Jacobs (persönliche Mitteilung, 13.1.2016).25 In zahlreichen autobiografischen Bemerkungen betonte Lore Perls, dass Martin Buber und Paul Tillich »influenced me more than any psychologist« (1989, 178 – H.i.O., englisch im Original). Dabei scheint mir bemerkenswert, dass sie den Einfluss, den Buber und Tillich auf sie ausgeübt hatten, den persönlichen Eindrücken zuschrieb, die sie von diesen Philosophen in Frankfurt am Main vor dem Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte. Sie bezog sich nicht primär auf deren Schriften:

Ich muss sagen, dass mein therapeutischer Stil eher von Paul Tillich und Martin Buber geprägt ist. Diese beiden haben mich stärker beeinflusst als sämtliche Analytiker und Psychologen. … Was bei Tillich und Buber so wichtig war, das war die Unmittelbarkeit ihrer Art zu kommunizieren. Sie hielten dir keine Vorträge, sondern sprachen direkt zu dir – aus einer Quelle in ihrem Inneren. … Ihre respektvolle Haltung gegenüber anderen Menschen machte einen tiefen Eindruck auf mich. (in Perls & Rosenblatt 2005, 157, 168 – H.d.V.)

In ähnlicher Weise hatte Lore Perls’ dialogischerer Stil seinerseits wiederum mehr Einfluss auf folgende Generationen von Gestalttherapeutinnen durch die persönlichen Eindrücke, die diese aus der Arbeit mit ihr gewannen, und nicht primär durch Lores Schriften. Das hängt natürlich mit der Tatsache zusammen, dass Lores Beitrag zu Gestalt Therapy kaum zu identifizieren ist und sie in ihren eigenen Publikationen in späteren Jahren weder eine Theorie des Dialogs noch der therapeutischen Beziehung formulierte. Aber die Art des Kontakts, den sie ihren Patienten und Schülerinnen anbot, hinterließ einen dauerhaften Eindruck bei denen, die sich ihrer Präsenz ausgesetzt hatten.

So ist alles in allem festzustellen: Trotz Lore Perls’ Einfluss als tendenziell dialogisches Vorbild und trotz gelegentlicher Nennungen der Formel »Ich-Du« (vgl. z. B. Perls & Levitsky 1980, 194 f.; Simkin 1994, 68 f.) sowie seltener Buber-Zitationen (vgl. z. B. Polster & Polster 1975, 101) fand innerhalb der gestalttherapeutischen Szene vor dem Ende der 1970er Jahre kein bekannt gewordener Versuch statt, ein substanzielles theoretisches Verständnis der Qualität und der Bedeutung der therapeutischen Beziehung oder eine relational orientierte therapeutische Praxis zu entwickeln, die von einem entsprechenden theoretischen Verständnis getragen gewesen wäre.

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