Kitabı oku: «Bluemoon Baby», sayfa 5
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Fast genau drei Monate waren seit der völligen Vernichtung seiner Aufzeichnungen vergangen. Und doch hatte Hugo Rhäs bislang nicht den Mut gefunden, einen wirklichen Schlußstrich unter dieses Thema zu ziehen. Nachdem sich der Samstag in einem Zustand des Herumdösens, Träumens und Erinnerns aufgelöst hatte, war er an diesem Julisonntag relativ zeitig aufgestanden und hatte die Blechdose mit dem symbolischen Ascherest seiner Radix-Theorie als Memento mori beim Frühstück vor sich auf den Tisch gestellt.
Er wußte, daß heute der Tag gekommen war, an dem er sich auch noch von diesen letzten Überbleibseln würde lösen müssen. Also ging er in den ersten Stock hinauf und stieg von dort mit Hilfe einer Leiter auf den Speicher. Die Hitze war hier oben trotz der frühen Morgenstunde unerträglich. Staub flimmerte in den Sonnenstrahlen, die durch die schmalen Ritzen zwischen den Dachschindeln hereinfielen. Gebückt ging Hugo Rhäs zu der Dachluke und öffnete sie. Draußen rührte sich kein Lüftchen. Ohne noch einen Moment weiter zu zaudern – denn Hugo Rhäs kannte die Gefahr, die von einer falsch verstandenen Zurückhaltung ausging, zur Genüge – nahm er die Blechdose, öffnete sie und übergab ihren Inhalt der Freiheit. Fast auf den Tag genau vor dreißig Jahren hatte Mick Jagger zu den ersten Takten von You can’t always get what you want mit einer ähnlichen Geste hunderte weißer Schmetterlinge in den Himmel über dem Hyde-Park entlassen. Dust to the dust! Möge der reine Geist zurückfließen in den brennenden Brunnen, aus dem er entstand. Die Asche rieselte die Dachziegel entlang nach unten in die Regenrinne.
Obwohl er nur die Überreste einiger kostenloser Werbezeitungen entsorgt hatte, fühlte sich Hugo Rhäs wie ausgewechselt. Er warf noch einen Blick über das Gelände der alten Papierfabrik, ließ die Büchse auf dem Speicher, da ihn nichts mehr an dieses Kapitel seiner Vergangenheit erinnern sollte, und stieg hinunter in seine Wohnung.
Als er wieder am Frühstückstisch saß, fiel ihm ein, daß ihn das alles an etwas erinnerte. Genauso hatte er sich mit Anfang zwanzig von seiner Sammlung schwedischer Hefte mit Aktaufnahmen getrennt. Damals hatte er sich gerade zum ersten Mal verliebt. Wie unendlich weit entfernt das alles schon war. Dabei hatte sein Opfer seinerzeit durchaus Erfolg gezeigt, zumindest für vier Monate. Seitdem war ihm in Bezug auf Frauen wenig Glück beschieden gewesen. Die Zeit der Literaturen und Theorien verlief anders als die des Lebens. Gewöhnt, gegebenenfalls anzuhalten und zurückzublättern, alles neu zu schreiben und umzuformulieren, fand Hugo Rhäs sich eines Tages in einem Netzwerk von Gedanken wieder, in dem das Weibliche in seiner konkreten Erscheinungsform erst durch eine Konstante ersetzt und dann ganz herausgekürzt worden war. Manchmal fiel ihm irgendetwas an einer Schülerin auf, aber das war dann nur der Anlaß für eine sentimentale Erinnerung, die er in seinem Notizbuch festhielt.
Hörten seine Gedanken sonst an dieser Stelle meist schon auf, so drängte ihn an diesem Sonntag etwas weiterzuforschen. Was für Frauen kannte er denn? Verkäuferinnen, Sprechstundenhilfen, Cousinen zweiten und dritten Grades, Joggerinnen, Frauen mit Hund, Politessen. Nein, das war doch einfach zu lächerlich.
Dann fiel Hugo Rhäs mit einem Mal Frau Helfrich ein.
Frau Helfrich war eine Kollegin. Musiklehrerin. Schätzungsweise vierunddreißig. Sie war nicht nur die erste einigermaßen ansprechende Frau, die ihm einfiel, sondern bei weiterem Nachdenken auch die einzige. Warum nur Frau Helfrich? Sie hatte einen breiten Mund. Aber das war eher ein Argument gegen sie.
Das ist wieder mal typisch für mich, dachte er, da kommt mir mal eine Frau in den Sinn, und gleich muß ich sie wieder demontieren. Hugo Rhäs beschloß, diesmal bei der Sache zu bleiben und nicht gleich wieder klein beizugeben. Schließlich waren das nur Äußerlichkeiten. Also weiter.
Redet etwas zu laut. Lacht zu laut. Das eine hängt eben mit dem anderen zusammen. Und ein Lachen ist doch eher angenehm. Obwohl man sich schon überlegen muß, wie so eine Frau dann im Bett ist. Lacht die dann auch? Und auch so laut? War das dann so, wie er es aus manchen Filmen kannte, wo die Paare mit dem Kopf unter der Decke lagen und rumalberten? Das würde ihn nicht erregen. Im Gegenteil.
An ihre Augen konnte er sich nicht erinnern. Der Mund geschminkt. Die Lider wahrscheinlich auch. Die Haare hatten so eine Unfarbe. Grau, würde er sagen, aber das war wohl eher eine Art blond. Musiklehrerinnen müssen so sein. Etwas laut und lustig. Anders bringt man die Kinder nicht zum Singen. Ihre Figur? Die konnte er nicht so recht einschätzen, was unter anderem an ihrer Kleidung lag. Offen gestanden wieder ein Minuspunkt. Sie trug immer Hosen und Sweat-Shirts. Unisex.
Hugo Rhäs schloß für einen Moment die Augen. Eine konsequente Auflistung war das nicht gerade. Keine Arbeitsgrundlage. Aber vielleicht war das auch gar nicht nötig. Denn mit einem Mal erschien ihm ein Bild, das alle anderen Vorstellungen überstrahlte. Er sah einen Blusenausschnitt vor sich. Dieser Ausschnitt war recht unscharf und so, als habe er ihn unter sehr schwierigen Bedingungen und nur für sehr kurze Zeit zu Gesicht bekommen. Dennoch besaß dieses Bild durchaus eine Wirkung. Bei aller Kürze, Unschärfe und unglücklichem Blickwinkel konnte er doch relativ deutlich einen Busen erkennen. Und zwar sah man diesen Busen kurz bevor sich die Bluse beim Aufrichten nach einem Bückvorgang wieder behutsam über die Haut legte. Es war ein eher kleiner Busen. Die Brustwarzen waren hingegen eher groß. Es waren Brustwarzen, bei denen Warze und Warzenhof ineinander übergingen, so daß eine Warze an sich nicht zu erkennen war.
„Ja, dieser Busen könnte durchaus zu Frau Helfrich passen.“ Mit diesem Satz rüttelte sich Hugo Rhäs wieder wach. Er schüttete Kaffee nach. Tatsächlich stieg ein Gefühl der Erregung in ihm auf. Erstaunlich schnell war das alles gegangen. Und gar nicht so kompliziert wie sonst. Wäre da nicht dieses Lachen. Ein Lachen lacht auch schnell jemanden aus. Vielleicht war es das, was ihm zu schaffen machte. Aber sie würde auch nicht immer lachen. Niemand hatte immer etwas zu lachen.
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Der Rolling Stone hatte tatsächlich einen Artikel von Hunter Thompson in seiner neusten Ausgabe. Leider war diese Ausgabe noch nicht in Deutschland eingetroffen. Hunter Thompson war auf seinem Weg nach Polar, Wisconsin, in einem kleinen Kaff in der Nähe von Lakewood hängengeblieben. Etwa vierzig, fünfundvierzig Meilen von der Farm der Bare Witnesses of Armageddon und dem mittlerweile im allgemeinen Sprachgebrauch der Medien zum Loophole D verkürzten abgesperrten Stück Landstraße neben der Bundesstraße 52 entfernt, mietete er in einem kleinen Motel ein Zimmer.
Die Hitze war immer noch weiter angestiegen. Als er am Abend in einer benachbarten Bar etwas trinken ging, traf er Hal Swiggett. Hal Swiggett war der Veranstalter des jährlichen Handfeuerwaffenwettschießens am Ort. Thompson und er kamen über Waffen ins Gespräch, wobei sich herausstellte, daß Swiggett eine Auto Mag besaß. Thompson war sofort interessiert. Er selbst hatte seine T/C’s .30-30 dabei, auf die er ein Leupold M8-2x Zielfernrohr geschraubt hatte.
„Geht das denn mit dem Leupold-STD-Aufsatz?“ fragte Swiggett. Thompson lachte.
„Wenn, dann benutze ich nur Conetrol. Aber das hier ist eine Spezialanfertigung.“ Die beiden verschwanden gegen Mitternacht, um mit Swiggetts Truck in ein nahegelegenes Waldstück zu fahren, wo sie, wie es dann später in der gekürzten Fassung der deutschen Ausgabe des Stone hieß, „einige Runden abfeuerten“. Swiggett hatte seine eigene Theorie über Loophole D und die Bare Witnesses.
„Was brauchen wir da diesen Kerl ohne Knochen? Das schafft der doch nie. Alles Hinhaltetaktik der Armee, wenn du mich fragst. Wenn die Farm eine Verbindung zur Kanalisation hat, und das scheint sie ja wohl zu haben, dann brauche ich nichts weiter als einen zweiten Mann.“
Thompson lachte: „Und deine Auto Mag.“
„Meine beiden Auto Mags“, verbesserte Swiggett ihn. Thompson schaute ungläubig. „Klar doch. Ich hab natürlich beide Versionen, die .357er Magnum und die .44er Magnum. Und damit kann man diesen Burschen schon ganz tüchtig einheizen.“
Hunter Thompson blieb im Ort. Tagsüber lag er in seinem Zimmer und trank. Abends ging er mit Swiggett schießen. Sie schossen auf nichts besonderes, ballerten eben so ein bißchen im Wald herum. Und eigentlich erlebten sie nur einmal etwas Komisches.
Swiggett hatte die letzten Male eine Bekannte aus der Bar zu ihren Ausflügen dazugebeten. Frauengesellschaft gab dem Zielschießen noch eine zusätzliche Würze. Außerdem hatten sie gleichzeitig jemanden, der die leergetrunkenen Bierdosen auf dem Holzblock neu aufstellen konnte. Die Bekannte von Swiggett war gerade im Begriff, genau das zu tun, als mit einem Mal und buchstäblich wie aus heiterem Himmel ein seltsamer weißer Vogel auf sie zugeflattert kam. Die Entfernung von ihr zu den Männern betrug ungefähr fünfzig Meter. Der Vogel ließ sich seelenruhig auf ihrer Schulter nieder. Die Frau erstarrte, weil sie nicht wußte, was sie tun sollte.
„Bleib ganz ruhig!“ schrie ihr Swiggett zu. Und Thompson rief: „Den nehm ich!“
„Wir müssen eine günstige Gelegenheit abwarten“, raunte Swiggett. Und die bot sich auch gleich. Der komische weiße Vogel hob sich nämlich von der Schulter der Frau in die Luft, flog hinter sie und versuchte mit dem Schnabel, den Verschluß ihres aus dem Rückenausschnitt herausschauenden Büstenhalters zu lösen.
„Haste sowas schon gesehen?“ zischte Thompson durch die Zähne und legte an.
„Jetzt!“ gab Swiggett das Signal.
Thompson erwischte den Vogel mit einer Breitseite, konnte jedoch nicht verhindern, daß dieser sich in seinem Todeskrampf mit dem Schnabel im Büstenhalterverschluß von Swiggetts Bekannter verhakte. Als diese spürte, wie sich etwas an ihr festbiß und nach dem Schuß plötzlich Blut ihren Rücken herunterlief, wurde sie von Panik gepackt. Ohne auf die Rufe der Männer zu hören, lief sie immer tiefer in den Wald hinein, konnte den Vogel jedoch nicht abschütteln.
Bei Loophole D schien sich nicht mehr viel zu tun. Oder es lag eine große Geheimhaltung über der Sache. Vielleicht planten die auch etwas ganz anderes und hatten nur ein Spektakel für die Medien veranstaltet. Aber das war Thompson im Grunde egal. Am vierten Tag tippte er gegen Mittag ein paar Seiten herunter. Der Bericht handelte von einem kleinen Ort in der Nähe von Lakewood, Wisconsin, von Auto Mags und Whiskey und trug den Titel „Araschießen in Langlade“. Dazwischen eingestreut waren ein paar Gedanken über Religion, Sekten und das friedliche Leben auf dem Land. Ralph Steadman verzerrte das Polaroid, das Thompson und Swiggett vor dem grauen Betonklotz des örtlichen Target Master Indoor Pistol Range zeigte und spritzte ein paar Tintenkleckse darüber. Der Rolling Stone hatte seinen Artikel.
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Die Ausgabe des New Yorker mit einem etwas sorgfältiger recherchierten und mit seinen 27 dreispaltigen Seiten für den Durchschnittsleser vielleicht sogar etwas zu ausführlichen Bericht über Douglas Douglas Jr., die Bare Witnesses und Loophole D war hingegen an bundesdeutschen Bahnhöfen schon erhältlich. Nicht Tom Wolfe, sondern ein gewisser Harold Nicholson hatte ihn verfaßt. Nicholson befaßte sich nur am Rande mit der Sekte. Ausführlicher ging er auf Douglas Douglas Jr. und dessen Krankheit ein. Er verglich die Symptome des Morbus Mannhoff mit unserer gesellschaftlichen Struktur.
„Kreislauf und Nervensystem werden faktisch dazu gezwungen, sich selbst nicht nur als falsch, sondern mehr noch, sich als tot zu erkennen. Wenn sie glauben, etwas zu versorgen, was es tatsächlich nicht gibt, so gibt es sie selbst tatsächlich auch nicht. Das ist der eindeutige Rückschluß des Gehirns des Morbus-Mannhoff-Patienten. Und an diesem Rückschluß stirbt er.“ Dieser Kernsatz aus der Krankheitsbeschreibung faszinierte Nicholson, und er stellte die Frage, inwieweit sich nicht die unterschiedlichsten politischen Diskussionen einer ganz ähnlichen Argumentation bedienten. Er schrieb: „Geht es nicht in vielen Bereichen darum, dem anderen nicht allein zu beweisen, daß er falsch liegt, sondern mehr noch, daß er mit dieser falschen Meinung sein Lebensrecht verwirkt hat?“ Dann kam er auf den religiösen Fanatismus zu sprechen und bezeichnete es als in diesem Zusammenhang überaus symbolisch, einen von seinen körperlichen Krankheitssymptomen quasi Geheilten gegen eine Gruppe einzusetzen, die unter ähnlichen, wenn auch geistigen Symptomen litt. Nicholsons These wurde durch einen längeren Einschub untermauert, der sich mit der kenianischen Mythologie auseinandersetzte.
In Kenia, wo Dr. Samuel Howardt seine wichtigsten Untersuchungen durchgeführt hatte, ist der Morbus Mannhoff schon seit Jahrhunderten bekannt. Fast jedes fünfte Neugeborene ist von ihm befallen und stirbt in den ersten sechs Monaten nach der Geburt. Interessant ist, daß sich durch das Leben mit der Krankheit eine völlig eigenständige Symbolsprache herausgebildet hat, die schließlich auch Einfluß auf die abstrakt philosophische Gedankenwelt nahm. So beschäftigte die Kenianer nicht so sehr die Unterscheidung von Körper und Geist, wie den Menschen des Westens, sondern vielmehr die Unterscheidung von Körper und Skelett.
Der Geist ruht im Skelett, heißt es, und die Kraft Gottes verkörpert sich in ihm. Skelett und Körper liegen in einem beständigen Streit miteinander. Der Körper ist träge, faul und gibt sich dem Laster hin. Das Skelett vertritt die Moral und bringt den Menschen zur Arbeit und zur Sorge um Familie und Dorf. Wie die Kenianer feststellten, haben weder die Sinnes- noch die weiblichen Geschlechtsorgane Knochen. Sie sind folglich die ureigenen Organe des Menschen, die Organe, mit deren Hilfe er sich als Mensch überhaupt erst konstituiert. Gleichzeitig handelt es sich dabei auch um diejenigen Organe, mit denen er sich vom Göttlichen entfernt. Nase und Ohren bestehen aus Knorpel, Mund und Vagina aus Schleimhäuten, Sehnen und Blutgefäßen. Und die Augen sind sogar in Aussparungen des Skeletts eingelassen.
„Hinter jedem Sinnesorgan gähnt das Loch der Unvernunft“, heißt es in Bezug auf das Skelett, während von dem verstorbenen Menschen allein noch das Göttliche übrigbleibt. So vertritt das Skelett auch die Seele. Das Kind ohne Skelett ist ein Kind ohne Seele und ohne göttlichen Einfluß. Auf der einen Seite ist es schwach und muß schon bald sterben, auf der anderen Seite tritt es den Beweis an, daß es eine reine Existenz des Menschen, außerhalb des Göttlichen, dennoch durchaus zu geben vermag.
Die Legenden aus Kenia erzählen auch von einer Heilung des Morbus Mannhoff, die auf ihre Art der von Dr. Samuel Howardt herausgefundenen Methode durchaus ähnelt. Der befallene Mensch muß sich ganz bewußt und vollkommen dem Göttlichen widmen. Er muß auf die Erkenntnis seiner Sinnesorgane und die Benutzung seiner Geschlechtsorgane verzichten. Er muß sein Leben liegend in einer verschlossenen Hütte zubringen. Das heißt, er muß seinem Gehirn die Rückmeldung simulieren, daß er im Grunde das Göttliche besitzt. Da er es tatsächlich nicht besitzt, muß er das Göttliche um so mehr simulieren und vertreten. Während der normale Mensch im Widerstreit zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Skelett und Körper steht, muß er, der diesen Widerstreit nicht mehr in sich trägt, sich ganz für das Göttliche entscheiden. Und dies gerade, weil er ganz Mensch ist. Er muß sich deshalb so vollkommen für das Göttliche entscheiden, weil es ihm vollkommen fehlt.
Von diesem kenianischen Beispiel ausgehend, kam der Artikel im New Yorker wieder auf die Bare Witnesses zu sprechen. „Sie müssen das Göttliche so absolut vertreten, weil sie es selbst nicht besitzen“, schrieb Nicholson, doch er blieb nicht dabei stehen, sondern fragte, inwiefern die amerikanische Gesellschaft ihren Gottesglauben nicht ebenso einseitig vertrete, so, als bräuchte sie ebenfalls jemanden, dem sie die Rolle des reinen Körpers, des Verblendeten und von Gott Entfernten, zuweisen könne. „Douglas Douglas Jr., dessen Aktion in Loophole D mehr als fragwürdig und umstritten ist, wäre dann nichts anderes als der personifizierte Beweis, daß die amerikanischen Behörden das Skelettlose, das heißt das Gottlose, in sich selbst überwunden haben. Deshalb allein muß Douglas Douglas Jr. vorgeführt werden: um die eigenen Zweifel zu übertönen.“
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An diesem Sonntag, dem 11. Juli, feierte Frau Helfrich ihren 39. Geburtstag. Feiern im Sinne von „begehen“. Obwohl man sie im allgemeinen mindestens fünf Jahre jünger schätzte, war sie an diesem Morgen deprimiert. Man stellt sich bei Menschen, die laut lachen und einen großen Mund haben, selten vor, daß auch sie deprimiert sein können. Man sieht Frau Helfrich vor sich, wie sie mit den beiden Sportlehrern und einigen Oberstufenschülern beim Schulfest auf einer kleinen Bühne in der Aula zwei südamerikanische Volkslieder singt und sich zum Rhythmus bewegt. In den erhobenen Händen zwei Rasseln, die ihre Kinder im Kunstunterricht aus alten Glühbirnen hergestellt haben. Bestimmt denkt jedoch kaum jemand daran, was sie in ihrer Freizeit macht. Oder zum Beispiel am Morgen ihres neununddreißigsten Geburtstages.
Frau Helfrich stand im Pyjama vor dem Spiegel und putzte sich die Zähne. Sie hatte sich im letzten Monat die Vorderzähne oben überkronen lassen, und das verursachte ihr immer noch ein fremdes Gefühl im Mund. Im Alter lernt man notgedrungen, mit dem Fremden in sich selbst umzugehen. Man erhält kleine bis mittelgroße Prothesen und manchmal muß man sogar aufgeschnitten werden und fremde Hände greifen mit kalten Scheren und Messern in einen hinein.
Zum Glück machte die Medizin fast täglich enorme Fortschritte. Sie entdeckte zum Beispiel immer mehr Sinne. Sinne, die das Körpergefühl regulieren, das Gesichtsfeld, einen Sinn, der allein dafür da ist, eine Rückmeldung an das Gehirn zu liefern, ob es ein Skelett in seinem Körper gibt und wie sich dieses Skelett verhält. Warum sollte es da nicht einen Sinn geben, der allein die Aufgabe hat, dem Gehirn das Gefühl zu vermitteln, es sei unsterblich? Ein Sinn, der uns am Leben hält und dessen Versagen unweigerlich zum Tod führt. Mit einem Mal sehen wir das Leben in seiner ganzen bitteren Wirklichkeit vor unseren Augen, ohne die Rückmeldung des Lebenssinns, der uns sonst mit Hilfe irgendwelcher Neurotransmitter das Gefühl der Unsterblichkeit vermittelt.
„Was? So sieht das alles aus?“ durchfährt es uns. „Unmöglich! Das ist doch unmöglich!“ Der Vater geht erst in den Schuppen, um die Axt zu holen, dann ins Kinder- und schließlich ins Schlafzimmer, um die Familie von dieser Sinnlosigkeit zu befreien. Das ist natürlich fürchterlich und grausam, denn der Lebenssinn ist bei ihm ausgefallen und hat allein seinem Gehirn keine Meldung von Unsterblichkeit weitergegeben. Bei seiner Familie hingegen existiert dieser Sinn völlig einwandfrei. Weshalb sich Kinder und Frau zu wehren versuchen. Sie kämpfen. Und doch ist es zu nichts nutze. Ihr Lebenssinn erlahmt. Er gibt in Panik nur unzureichende Rückmeldungen. Diese Rückmeldungen können nicht mehr entsprechend decodiert werden. Neuronen, Eiweiße, Transmitter, Kalzium, Phosphor, ohnehin ein recht fragiles Gebilde. Schließlich erlahmt der Lebenssinn und gibt seinen Geist auf.
Das soll mein Vater sein? Das also ist mein Mann? Ein allzu grober Verstoß gegen einmal gemachte Erfahrungen vermag den Lebenssinn so schwer zu schädigen, daß er umgehend zum Erliegen kommt. Das Ausfallen des Lebenssinns muß zwangsläufig zum Tod führen. Der Mann geht nach oben auf den Speicher und erhängt sich. Er war ein ganz normaler Mann. Unverständlich. Natürlich unverständlich. Wir alle, deren Lebenssinne uns sekündlich ein Gefühl der Unsterblichkeit suggerieren, können so etwas nicht begreifen. Selbst Soziologen und Thanatologen tun sich schwer damit. Dabei beschäftigt sich der Mensch schon seit alters her mit dem Lebenssinn. Ohne bislang jedoch brauchbare Resultate vorweisen zu können.
Bei Frau Helfrich war der Lebenssinn völlig in Ordnung. „Du bist unsterblich!“ meldete er im Sekundentakt. Sie spülte gerade ihren Mund aus. Trotzdem, diese Kronen waren nun wirklich keine Meisterleistung. Woran lag das nur? Auch neulich im Fernsehen, wer war das noch mal gewesen? Genau, Thomas Fritsch. Braungebrannt saß er in Spanien und ließ sich interviewen. Inzwischen so alt wie der Vater, sah er immer noch gut aus. Aber diese Kauleiste da oben. Nein wirklich. Frau Helfrich sang eine Zeile aus einem der beiden südamerikanischen Volkslieder und achtete darauf, ob ihre Zähne dabei natürlich aussahen. Es ging. Aber sie bekam den Mund nicht mehr so weit auf. Vielleicht taten ihr die Muskeln immer noch von der Behandlung weh. Und am Ende war es auch besser so. Das Zahnfleisch dunkelt bei Kronen so schnell nach. Sie sang dieselbe Zeile noch einmal und ließ dabei die Lippen etwas dichter zusammen. Nein, so ging das nicht. Frau Helfrich war stolz auf ihren großen Mund. Sie fand, daß sie ein bißchen aussah wie Tamara Tajenka.
Komisch eigentlich, daß man an so jemanden noch denkt, dachte sie. Komisch, daß ich bestimmt seit zwanzig Jahren nichts mehr von Tamara Tajenka gehört oder gesehen habe. Aber immer wieder denke ich an sie. Frau Helfrichs erster Freund, sie war damals 17, hatte ihr gesagt, daß sie wie Tamara Tajenka aussehe. War die eigentlich Deutsche oder kam sie irgendwo aus dem Osten? Sie hatte doch einen Akzent? Und wie hieß nur das eine Lied? Sie kam nicht drauf.
„Tamara Tajenka“, sagte sie halblaut und lachte. Dann ging sie ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Hatte man Tamara Tajenka nicht tot in ihrem Appartement aufgefunden? Umringt von einer Batterie leerer Wodkaflaschen? Das Opfer ihres eigenen Images, wie so viele Stars. Wahrscheinlich hatte sie die immer gleichen Fragen nicht länger aushalten können: Bin ich Deutsche? Komme ich aus Rußland? Was für andere ein Wissensgebiet aus Trivial Pursuit ist, kann für einen selbst leicht zum existentiellen Scheideweg werden.
Nein, dachte Frau Helfrich, das war jemand anderer mit dem heruntergekommenen Appartement. Der Name Bodo Silber fiel ihr ein. Ebenfalls ein deutscher Schlagerstar der frühen siebziger Jahre. Den kennt heute nun wirklich niemand mehr. Bodo Silber hatte aber doch eine ähnlich komplizierte Geschichte. Frau Helfrich meinte sich an eine Afrokrause zu erinnern. Aber die Texte waren deutsch, ihres Wissens. Von Bodo Silber hatte sie nicht nur über zwanzig Jahre lang nichts gehört oder gesehen, sie hatte in dieser Zeit auch kein einziges Mal an ihn gedacht. Nun, an ihrem neununddreißigsten Geburtstag fiel er ihr mit einem Mal ein. Wieder lachte sie. Sie zog das Pyjamaoberteil aus und holte ein blaßrosa Unterhemd aus dem Schrank. Darüber zog sie ein Sweatshirt.