Kitabı oku: «Bluemoon Baby», sayfa 4

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16

Im Schutz der Dunkelheit schlich Kalle gegen halb neun auf das Gelände der Papierfabrik Achenkerber. Die Flasche Wodka hatte ihm genug Klarheit zurückgegeben, um seinen Plan jetzt zu Ende zu bringen. Alles war in die Wege geleitet. Er hatte Hugo Rhäs für neun Uhr in die Lagerhalle bestellt. Dort gab es einen halboffenen Speicher, von dem aus man durch eine Luke zu einer Außenleiter gelangen konnte. Auch sonst hatte er sich alle für sein Vorhaben nötigen Utensilien verschafft: im Grunde nur ein Päckchen Streichhölzer, das ihm ein Passant überlassen hatte.

Unter dem Arm trug Kalle einen dicken Stapel mit Zeitungen und Prospekten. Da er bei seiner Flucht den Karton mit den Papieren im Hartmann-Park hatte zurücklassen müssen, hatte er unterwegs einen Stapel kostenloser Werbezeitungen und Broschüren aus dem vor einem Haus abgestellten Wagen eines Verteilers genommen. Hatte Kalle anfänglich noch geplant, nur damit zu drohen, den Karton mit den Papieren anzuzünden, wenn man ihm nicht umgehend und zuerst das Geld aushändigte, so mußte er die Papiere nun auf jeden Fall anzünden, damit der Betrug nicht aufflog. Das war ihm selbst unangenehm. Aber es ging nun mal nicht anders.

Das ehemalige Hausmeisterhäuschen lag ungewöhnlich still da. Die Läden waren geschlossen, und nur im Schlafzimmer brannte ein Licht. Kalle hastete vorbei, lief zwischen den beiden Fabrikteilen hindurch und kletterte von hinten durch eines der eingeschlagenen Fenster in die Lagerhalle. Hier war es stockdunkel. Er legte den Stapel mit Zeitungen ab, holte die Streichhölzer aus der Tasche und zündete einige an. Zum Glück lagen hier genug alte Kartons herum. Er nahm einen und legte die Zeitungen hinein. Draußen huschten Schatten am Gebäude vorbei, aber das bildete er sich bestimmt nur ein. Das Streichholz erlosch. Er tastete sich zu der Leiter, die an das offene Stück Dachboden gelehnt war und stieg hinauf. Das war gar nicht leicht, denn er mußte den Karton immer vor sich herschieben. Oben war es etwas heller, weil das Mondlicht durch die Dachluke fiel.

Kalle zog die Leiter hoch und machte sicherheitshalber schon jetzt das Dachfenster auf. Draußen war alles ruhig. Seinetwegen könnte es jetzt losgehen. Doch es rührte sich nichts. Da man Kalle auch die Uhr geklaut hatte, war er sich über die Uhrzeit nicht ganz im Klaren. Hoffentlich war es nicht schon nach neun. Zweifel plagten ihn. Und außerdem mußte er unbedingt noch ausprobieren, ob sich die Kiste leicht genug in Brand setzen ließ. Am besten versuchte er es erst einmal mit einem Stück Zeitung. Er riß ein Blatt ab, rollte es zusammen und zündete es an. Im selben Augenblick ging unten in der Halle unter großem Quietschen und Ächzen die Tür auf und eine dunkle Gestalt trat mit festem Schritt herein. Kalle ließ vor Schreck die brennende Zeitung fallen. Trug die Gestalt einen Koffer? Es war einfach nicht zu erkennen.

„Los! Schnell! Beeilung! Werfen Sie das Geld hoch! Sonst brennen Ihre Papiere ab!“ Das angezündete Papier war in den Karton gefallen, schien aber dort gerade auszugehen.

„Ich muß erst sicher gehen, daß es sich tatsächlich um die richtigen Papiere handelt“, sagte die Stimme von unten.

„Nein! Nein! Dafür haben wir keine Zeit! Geld her! Los! Das Geld her! Verstehst du nicht!“ Wie um Kalles Worte zu unterstreichen, züngelte mit einem Mal eine Stichflamme aus dem Karton mit den Zeitungen. „Hier! Du siehst, ich mach’ Ernst! Los! Wirf das Geld hoch!“ Das Licht der hochschlagenden Flammen nahm Kalle die Sicht. War der Mann da unten überhaupt noch da?

„Hallo? Los! Das Geld! Ich spaße nicht! Kapier das doch!“ schrie er noch einmal. Der Karton brannte nun lichterloh. Kalle lief in Richtung Luke, aber dort stand inzwischen schon ein Allwell-Wachmann. Ein weiterer kletterte gerade nach. Von unten wurde eine Leiter angelegt und drei ehemalige Kollegen von Kalle kamen nach oben, um ihn unsanft zu Boden zu werfen. Mit einem Feuerlöscher wurden die Flammen erstickt.

Hugo Rhäs verzichtete auf eine Anzeige. Als ihm die Allwell-Männer eine Viertelstunde später in einer alten Blechschachtel die eingeäscherten Reste seiner Radix-Theorie brachten, bewies er Größe und betrachtete das ganze als ein tiefgründiges Symbol. Der in Handschellen gelegte Kalle stand mit gebeugtem Kopf zwischen ihnen.

„Wir möchten uns im Namen unserer Firma in aller Form bei Ihnen entschuldigen, Herr Doktor Rhäs“, sagte einer der Männer. „Es handelt sich bei diesem Subjekt, das möchte ich betonen, um eine Vertretung, die unerklärlicherweise durch das Netz unserer strengen Persönlichkeitsprofile gerutscht ist. Ich weiß, daß dies keine Entschuldigung ist, und schon gar kein Ersatz für den Ihnen entstandenen Schaden, dennoch garantieren wir Ihnen in Zukunft eine sorgfältige Bewachung und zwar Tag und Nacht.“

Man war bei Allwell froh, daß Hugo Rhäs nicht auch noch die Polizei einschalten wollte. Die ganzen Nachforschungen hätten nur Unruhe in den Betriebsablauf gebracht. Und wie sollte man den Behörden gegenüber einen solchen Mitarbeiter rechtfertigen?

Da Allwell selbst auch nichts weiter gegen Kalle unternehmen konnte und wollte, hielt man ihn noch die Nacht über in einer Art inszeniertem Verhör fest. Gegen Morgen mußte er einen Schuldschein über fünftausend Mark wegen erlittenen materiellen Schadens – Lederjacke, Stablampe, Allwellstern und so weiter – und Schmerzensgeld wegen Rufschädigung unterschreiben. Dann wurde er in einem billigen Plastikregenmantel in den Morgen entlassen. Hose und Hemd waren schließlich auch Eigentum der Firma. Wenigstens hatte Kalle schon gleich zu Beginn seiner Anstellung ein paar Briefbögen mitgehen lassen, so daß er sich das ihm verweigerte Zeugnis selbst ausstellen konnte.

Während er nach Hause irrte, befanden sich die ersten Kinder auf dem Weg zur Schule. Eine kleine Gruppe lief durch den Hartmann Park, und da sie noch Zeit hatten, spielten sie hinter dem Europa-Denkmal Verstecken. In einem Gebüsch stieß ein Junge auf einen Karton mit Papieren. Die Kinder beschlossen, ihren Fund mit in die Schule zu nehmen. In der ersten Stunde hatten sie Musik. Die Lehrerin Frau Helfrich sah sofort, daß es sich bei den Papieren um unbrauchbare Notizen handelte, die jemand weggeworfen hatte. Sie ließ den Karton zu Frau Vesa bringen. Frau Vesa war eine junge Referendarin aus Finnland, die in der Unterstufe Kunst unterrichtete. Sie konnte die Papiere gut gebrauchen, da sie mit einer Klasse gerade Rasseln herstellte. Die Kinder nahmen alte Glühbirnen und umwickelten sie mit mehreren Schichten leimgetränktem Papier. Das ganze ließen sie einige Stunden trocknen. Wenn man dann die so beklebten Glühbirnen anschließend auf eine Tischkante schlug, blieb die mittlerweile feste Hülle aus Pappmaché ganz, während innen das Glas der Birne zerbrach und die Splitter das Geräusch einer Rassel erzeugten.

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Der Grund, warum sich Siegfried Rhäs schon nach zweieinhalb Jahren Ehe wieder von seiner Frau Klara hatte scheiden lassen, und das, obwohl sie einen kleinen Sohn namens Hugo besaßen, ein gesundes Kind mit allen Knochen, war so heikel, daß Hugo Rhäs ihn erst erfuhr, als er die dreißig schon weit überschritten hatte.

Siegfried Rhäs, ein Mann mit einer naiven aber gut gesinnten Frömmigkeit, hatte Klara kurz nach ihrer unglücklichen Niederkunft und der Trennung von ihrem ersten Mann, Samuel Howardt, kennengelernt. Mit seiner sanften und einfühlenden Art verstand er es, der gebrochenen Klara ihren Lebensmut zurückzugeben, so daß sie sich schon bald wieder in der Lage fühlte, erneut eine Ehe einzugehen und eine Familie mit ihm zu gründen. Siegfried Rhäs war Berufsschullehrer und sie besaßen ihr geregeltes Auskommen. Das Kind, das ein gutes Jahr nach ihrer Heirat zur Welt kam, war gesund und wuchs prächtig heran. Die Ehegatten liebten sich, und es hätte gar nicht besser sein können, bis…, ja bis sich an einem Montag im August 1954 mit einem Mal alles änderte.

An diesem Montag erschien nämlich die Illustrierte Bonbonniere. Es handelte sich dabei um ein Boulevardblatt von mehr als zweifelhaftem Ruf, welches einen Spagat zwischen Berichterstattung aus den internationalen Königshäusern einerseits und verbrämten Erotikdarstellungen der frühen fünfziger Jahre andererseits versuchte. Unter der Überschrift: „O là là, die Fräuleins von der Front“ brachte man an diesem Augustmontag eine Bildreportage über Pinup-Mädchen, deren Bilder unter den vom Volk nicht vergessenen deutschen Soldaten des letzten Krieges kursiert waren. Darunter auch ein Bild von Klara Rhäs.

Nun waren die Illustrierten in dieser Zeit gewissen Zensurbestimmungen unterworfen, die das Abbilden einer nackten oder auch nur halbnackten Frau unmöglich machten. Doch auch mit einem großen schwarzen Balken, der die Hüfte bis zu den Knien bedeckte, war der Skandal perfekt.

Es handelte sich bei der Abbildung von Klara Rhäs um eins der Fotos, die der junge Arzt in Uniform bei seiner Untersuchung zur Feststellung der Gebärfähigkeit von ihr gemacht hatte. Dieses Foto war selbstverständlich nicht im geringsten anziehend oder kokett, das fadenscheinige Leibchen alles andere als aufreizend. Das Gesicht von Klara Rhäs, halb weggedreht, hatte für jeden einigermaßen unvoreingenommenen Betrachter ganz deutlich einen Ausdruck von Angst und Scham. Doch so stellte man sich damals eben die Abbildung einer Nackten vor. Genau dieses Gefühl des Unwohlseins gehörte zur Attraktion solcher Bilder dazu und erregte die Generationen der Väter und Großväter von Hugo Rhäs.

Der gutgläubige Berufsschullehrer Siegfried Rhäs fühlte sich betrogen. Mehr noch, er fühlte sich verkannt, hatte das alles, oder so etwas ähnliches, im tiefsten Inneren schon immer geahnt und nur nicht wahrhaben wollen, und kostete jetzt, da selbst er dies alles nicht mehr länger vor sich verleugnen konnte, sein vermeintliches Recht der Ehrenrettung bis zur Neige aus. Und so sah auch Siegfried Rhäs mit einem Mal nicht mehr die Angst und die Scham im Gesicht seiner Frau, sondern nur den schwarzen Balken, der das Ungeheuerliche zwischen Leibchenende und Wadenanfang verbarg, das ihn nun zum Gehörnten und Vorgeführten machte, und zwar nicht nur vor der recht eingeschränkten Leserschaft der Bonbonniere, sondern gleich vor der ganzen Welt.

Er mußte Konsequenzen ziehen, und er zog sie ohne ein weiteres Wort. Er packte das zusammen, was er für seinen Privatbesitz hielt und quartierte sich in einer Pension ein. Alles andere erfolgte schriftlich. Neben den Briefen des Anwalts, der noch zwischen Annulierung der Ehe und Scheidung schwankte, schickte Siegfried Rhäs ein hölzernes Bekenntnis, in welchem er versicherte, sich seiner Verantwortung trotz der über ihn gekommenen Schmach auch weiterhin bewußt zu sein und sich seinen Pflichten gemäß um seinen Sohn und dessen Erziehung kümmern zu wollen.

Klara Rhäs durfte die Wohnung behalten, in deren Küche sie nun mit ihrem zweijährigen Sohn saß und sich die Augen rot heulte.

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Die Professorin für Frauenstudien, Rikke, nahm es ihrem Lebensgefährten, dem arbeitslosen Spieleerfinder Jochen Kuptschek, genannt Wansl, weder übel, daß er Spieleerfinder, noch daß er arbeitslos war. Auch, daß sie mit ihm nicht über die japanische Mythologie des knochenlosen Kindes, die Weltmythologien der in einem Fluß ausgesetzten Kinder oder das letzte Schlachtfeld der biblischen Prophezeiung, Armageddon, reden konnte, machte ihr nichts aus. Im Gegenteil. Es störte sie, wenn er umgekehrt versuchte, mit ihr ein Thema anzuschneiden, das über seine Elektronikbastelei und seinen sich mittlerweile schon ein halbes Jahr hinziehenden Prozeß hinausging. Wansl hatte große Chancen, endlich mit seiner Klage durchzudringen und eine umfangreiche Entschädigung zu erhalten, da seine alte Firma die noch von ihm entwickelte Idee für ein neuartiges Murmelspiel ohne seine Zustimmung umgesetzt und auf den Markt gebracht hatte.

Professorin Rikke mochte ihn am liebsten passiv, und sie war reif genug, um auch an einem Abend wie diesem zu sehen, daß man nicht alles von einem Lebenspartner erwarten kann. Obwohl sie gerade jetzt im Moment, nach dem etwas mißglückten Besuch der Schmuckgalerie, ein wenig phantasievolle Abwechslung durchaus zu schätzen gewußt hätte. Aber für die Phantasie konnte sie schließlich auch selbst sorgen. Sie ging ins Schlafzimmer und holte den Prototyp des Murmelspiels in dem von Wansl selbst zurechtgesägten und mit Buntpapier beklebten Kasten aus dem Schrank. Professorin Rikke zog sich völlig aus und ging mit der Schachtel Murmeln ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich vor Wansl auf den Teppich setzte.

„Spielen!“ rief sie in einer etwas höheren als ihrer normalen Stimme.

„Und was willst du spielen?“ fragte Wansl interessiert zurück, während er seinen Katalog zuschlug. Rikke lachte. Sie lehnte sich weit zurück und schloß die Augen. Für einen Moment drehte sich alles im Gesumme der Spülmaschine aus der Küche. Sie hatte das Gefühl, als sei sie mit dem Kopf in einen Blecheimer getaucht, in dem Perlen wie Luftblasen vorbeischwammen. Ihre Beine steckten in Treibsand. Und während sie mit dem Oberkörper immer tiefer in dem Eimer verschwand, glitten ihre Beine immer weiter in den Sand. Sie steckte fest. Oben und unten. Nur ihre glattrasierte Scham war noch frei. Und jetzt spürte sie die erste Murmel über sie hinweg zwischen ihre Beine rollen. Wansl führte die Kugel geschickt mit einem Finger. Es war die kirschgroße mit den blauen Einschlüssen. Festgefrorene Flocken Eierstich, die sie übermorgen, am Sonntag, dem Tag, an dem sie kochte, in die Hühnerbrühe gleiten lassen würde. Geronnene Fäden, die zehn Minuten später auf ihren Bauch tropften. Ein Mann ohne Knochen, der seine Hand leicht in sie zwängen könnte. Sie ließ sich ganz zurücksacken. Schon spürte sie die Murmeln unter ihren Schenkeln nicht mehr. In dem Blecheimer lag eine letzte leuchtende Perle. Genau vor ihren Augen.

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Dr. Samuel Howardt, ein mit Ende sechzig immer noch kräftiger, braungebrannter Herr mit dichtem weißen Haar, war der Mann der Stunde. Die Fernseh- und Radiostationen des gesamten Erdballs wollten von ihm wissen, was es mit der Krankheit von Douglas Douglas Jr. auf sich hatte, und wie es ihm gelungen war, den Jungen nicht nur am Leben zu erhalten, sondern sogar so weit zu kräftigen, daß er in der Lage sein sollte, eine schwierige und gefährliche Mission wie diese auf sich zu nehmen. Dr. Howardt, der sich seit Jahrzehnten mit der Behandlung von Knocheninstabilitäten und -defekten beschäftigte, fühlte sich den Anforderungen der Medien nicht recht gewachsen und bat deshalb einen jüngeren Mitarbeiter und Kollegen, eine von ihm vorbereitete Erklärung zu verlesen und eventuell anfallende Fragen zu beantworten.

Howardt studierte nach dem Krieg, in dem er als Soldat in Deutschland gekämpft hatte, an der Heidelberger Universität Medizin und machte dort seinen Doktor. In den sechziger Jahren war er viele Jahre in Kenia und Somalia gewesen, um dort spezifische Ausprägungen des Morbus Paget, von dem vor allem Neugeborene betroffen sind, zu untersuchen. Normalerweise taucht der Morbus Paget nur am ausgewachsenen Skelett auf, wo er die von ihm befallenen Knochenteile durch weichere und vergrößerte knöcherne Strukturen ersetzt. Bei den von Dr. Howardt in Kenia und Somalia untersuchten Fällen, fast ausschließlich Neugeborene und Kleinkinder, handelte es sich jedoch nicht nur um einzelne Teile des Skeletts, sondern um das Skelett im ganzen, das sich, einmal von der Krankheit befallen, innerhalb weniger Tage völlig aufzulösen schien, was den sofortigen Tod der Patienten zur Folge hatte. Eine Variante des Morbus Paget, die nach dem ersten Arzt, der sie beschrieben hatte, Morbus Mannhoff hieß.

Durch hunderte von Operationen an und bedauerlicherweise fast ebenso vielen Obduktionen von Klein- und Kleinstkindern konnte Howardt feststellen, daß selbst dann, wenn sich das Skelett so weit zersetzt hatte, daß es nicht einmal mehr in Resten vorhanden war, dennoch im gesamten Körper ein Hohlraum existierte, der diesem Skelett entsprach. Dieses Phantomskelett wurde von Nervenbahnen und Blutgefäßen durchzogen und mußte, so die Vermutung Howardts, auch für den Patienten selbst immer weiter spürbar gewesen sein. Daher nahm Howardt an, daß der Tod der Patienten keine direkte Folge des fehlenden Skeletts war, sondern vielmehr eine Folge der fehlenden Rückmeldung von diesem Skelett an das Gehirn.

Bei dieser fehlenden Rückmeldung spielt ein wichtiger und bis weit in die siebziger Jahre unterschätzter Sinn des Menschen eine Rolle, jener Körpersinn nämlich, der über das zentrale Nervensystem beständig Größe, Haltung, Gewicht etc. des Körpers mißt und diese Messungen an das Gehirn weitergibt. Das Gehirn der von dem massiven Knochenschwund Befallenen erhielt nun zwei in sich widersprüchliche Signale. Zum einen meldeten Nerven und Blutgefäße die Existenz eines Skeletts, das sie versorgten – es handelte sich dabei um den im Körper ausgesparten Hohlraum –, auf der anderen Seite gab der Körpersinn, der vor allem über die Muskulatur gereizt wird, das Fehlen eben jenes Skeletts weiter. Beide Informationen können jedoch nicht nebeneinander bestehen. Bei einer solchen Unstimmigkeit setzt sich die in der evolutionären Entwicklung wichtigere Information durch, in diesem Fall die des Körpersinns. Indem sich jedoch der Körpersinn behauptet, wird die Blutzufuhr eingestellt. Mehr noch: „Kreislauf und Nervensystem werden“, wie es in der von Dr. Howardt für die Presse bewußt populär verfaßten Erklärung lautet, „faktisch dazu gezwungen, sich selbst nicht nur als falsch, sondern mehr noch, sich sogar als tot zu erkennen. Denn wenn sie glauben, etwas zu versorgen, was es tatsächlich nicht gibt, so gibt es sie selbst folglich auch nicht. So lautet der eindeutige Rückschluß des Gehirns des Morbus-Mannhoff-Patienten. Und an diesem Rückschluß stirbt er.“

Dieser zunächst für unabwendbar gehaltene Zustand wandelte sich Ende der achtziger Jahre in einen Glücksfall. Zwar war man mit den medizinischen Möglichkeiten immer noch nicht in der Lage, einem Kind, welches ja beständig wächst, ein künstliches Skelett einzusetzen, doch konnte man durch Beeinflussung des Körpersinns dem Gehirn zumindest die beständige Rückmeldung eines Skeletts simulieren. So kam es zu keinen widersprüchlichen Informationen und das Kind konnte, wenn auch mit gewissen anderen Symptomen und Krankheitserscheinungen, erst einmal am Leben erhalten werden.

20

Einst lebten die Menschen und die Götter beisammen. Die Menschen waren jedoch viel schlauer als die Götter und spielten ihnen beständig Streiche. Das einzige Mittel, um sich gegen die Frechheiten der Menschen zur Wehr zu setzen, bestand darin, daß die Götter sich unsichtbar machen konnten. Und wie machten sie sich unsichtbar? Ganz einfach: indem sie den Menschen, und zwar jedem einzelnen, Töpfe zum Reiskochen über die Köpfe stülpten. Schon wußten die Menschen nicht mehr, wo sie waren, und wurden ganz kleinlaut. Allein die Schamanen können die Götter, wenn auch etwas undeutlich, aus den Augenwinkeln heraus erkennen. Denn ihre Töpfe sitzen schief.

Dieser Mythos der Sedang fiel der Professorin für Frauenstudien, Rikke, nach dem Aufwachen als erstes ein. Sie meinte sogar, diesen Mythos selbst geträumt zu haben. In ihrem Traum waren es allerdings keine Schamanen, sondern Priesterinnen gewesen. Wer anders als die Frauen sollte es denn verstehen, mit dem Topf so gut umzugehen.

Sie hatte etwas Kopfweh von dem billigen Wein, den sie auf der Vernissage getrunken hatte. Wenn sie die Augen wieder schloß, sah sie eine leuchtende Perle am Boden eines Reistopfs liegen. Könnte diese Perle nicht das Auge des Schamanen sein? Der Reis als Symbol für Erkenntnis? Aber nur diejenige erkennt, die sich nicht allein um die Nahrungszubereitung bemüht, sich nicht mit dem ganzen Kopf im Topf, das heißt in Heim und Herd, versenkt.

Professorin Rikke rieb sich über das Gesicht. Es war Samstag früh. Wansl war schon mit Freunden unterwegs zu einem Flohmarkt, um elektrische Bauteile und alte Radios zu kaufen. Sie stand auf, ging aufs Klo, wusch sich flüchtig, schüttete sich ein Glas Milch ein und schaltete den Fernseher an. Gerade noch bekam sie die letzten Minuten der von Dr. Samuel Howardts Assistenten verlesenen Erklärung über den Morbus Mannhoff, die sogenannte Absolute Knochenabsenz, mit. Die Erklärung enttäuschte die Erwartungen von Professorin Rikke keineswegs, sondern beflügelte ihr Interesse für Douglas Douglas Jr. und dessen Eltern. Von Douglas Douglas Jr. selbst war, aus Gründen der Geheimhaltung wegen seines bevorstehenden Auftrags, nichts zu sehen. Ein Vertreter der Firma Behemoth führte stattdessen den Spezialanzug Leviathan vor und vergaß in seinen der Sachlage angemessenen ernsten, doch nicht gänzlich humorlosen Ausführungen auch nicht, Hobbes zu zitieren. Den Umständen angepaßt natürlich, die zwar auch nach einem absoluten Staat verlangten, aber, sozusagen auf dem Weg dorthin, zuallererst nach einem absolut zuverlässigen Froschanzug. Das Wortspiel rankte sich um „Art of the State“ und „State of the Art“ und lautete wörtlich: „If we want to set foot towards the ultimate Art of the State, what we do need now in this historic moment is a diving suite which comprises the ultimate State of the Art.“ Im Hintergrund meinte Professorin Rikke ein Ehepaar zu sehen, das so aussah, wie sie sich die Eltern von Douglas Douglas Jr. vorstellte. Aber die Kamera zog zu schnell vorüber.

„Was hat die Eltern dazu bewogen, bei so einer Aktion ihr Einverständnis zu geben?“ überlegte sie. Oder war es der ausdrückliche Wunsch des Jungen gewesen? Inwiefern war er überhaupt in der Lage, die ganze Situation einzuschätzen? Und dann dieser Arzt. Auf Ärzte hatte sie noch nie viel gegeben. Schon gar nicht auf die da drüben mit ihrem seltsamen Supermarkt-Gesundheitssystem, wo jeder sehen mußte, wo er bleibt und sich dann eben auf Liposuction und Boob-Jobs spezialisiert. Professorin Rikke wußte, wovon sie sprach, denn sie war vor zwei Jahren für drei Monate in Spokane, Washington gewesen, wo man ein kleines Zentrum für unabhängige Frauenstudien eingerichtet hatte.

Sie schaltete den Apparat aus und räumte die immer noch auf dem Boden verstreuten Murmeln in die Holzschachtel, die sie anschließend ins Schlafzimmer zurückbrachte. Natürlich gab es diese aufregenden Momente, die sie wohl mit kaum einem anderen so würde erleben können. Trotzdem überfiel sie, gerade jetzt am Wochenende, immer wieder dieses seltsam hektische und pochende Gefühl, endlich mal etwas anderes tun zu müssen. Und zwar sofort. Buntpapier in Fetzen reißen und auf riesige vorgeleimte Pappen streuen zum Beispiel. Aus so einer Idee war mal eine Performance im Foyer des Gießener Rathauses entstanden. Oder sich als Schwangere mit Lehm einschmieren und abfotografieren. Was Unsinn war, weil man nicht einfach kurz schwanger sein konnte. Oder sich in eine Maschine nach Wisconsin setzen, ganz so wie ein x-beliebiger Schaulustiger. Oder besser noch ein Journalist. Eine Story draus machen. Die Eltern von diesem Douglas aufspüren. Besser noch ihn selbst. Hintergrundinformationen bekommen. Ein paar Fotos machen. Und vielleicht mit ihm schlafen. So wie Diane Arbus mit ihren Modellen. Das waren auch Gnome und FKKler und alles bunt gemischt. Everything is Oooo. Oder dann doch nicht? Außerdem hatte das bestimmt schon längst einer gemacht. Was heißt einer. Alle Zeitungen hatten schon jemanden hingeschickt. Der Rolling Stone Hunter Thompson, und der New Yorker Tom Wolfe. So sah es doch aus. Sie zog sich an und beschloß, zum Bahnhof zu fahren, um sich dann wenigstens die einschlägigen amerikanischen Zeitungen zu besorgen.

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