Kitabı oku: «Bluemoon Baby», sayfa 6

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„Doktor Benway wartete auf den Mann. An jedem seiner Zähne hing ein schwarzer Käfer, und wenn er schluckte, wurden die Käfer vom entstehenden Vakuum im Mundraum nach hinten an seinen Gaumen gedrückt, was ihm einen Brechreiz verursachte. Der Junge neben ihm versuchte, mit dem Mund seinen Schwanz zu erreichen. Natürlich hatte er keinen Schwanz mehr. Sie hatten ihn in Algier wegschneiden müssen, weil sie in über zweitausend Jahren nicht gelernt hatten, mit einer Phimose umzugehen. Obwohl es ihr selbstgebrannter Kakteenschnaps ist, der die Haut zusammenzieht und verklebt. Zumindest wenn man ihn zusammen mit unverschnittenem Stoff einnimmt. Zwei Liter am Tag und es wächst dir vorne zu. Und so sieht es in den Straßen von Algier auch aus. Dr. Benway erkannte sie nach einiger Zeit sofort. Socke in der Hose, während der Mund selbst im Stehen Richtung Latz zuckte. Aber die Pisse kam aus dem After. Benway preßte langsam seine Zähne aufeinander. Die Käferschalen knackten, aber die Biester ließen einfach nicht los.

‚Nein, das sind keine Kaffeebohnen‘, hatte der Alte an der Theke gelacht. ‚Man steckt sie sich zwar in den Mund, aber zerkauen, das kannst du vergessen.‘ Er leckte das Salz von seinem Handrücken, stopfte sich drei Käfer in den Mund und schüttete den Schnaps nach.

‚So ist’s richtig!‘ brüllte der Alte lachend und entblößte dabei sein Gebiß. An jedem Zahn zappelte ein schwarzes Tierchen.“

Und so weiter. Eigentlich dürfte es doch nicht weiter schwer sein, so etwas zu schreiben. Gerade wenn man eine Stelle als Lehrer hat, mit Ferien, in der Regel freiem Mittag, und freiem Wochenende, und nicht in Tanger oder New York auf der Suche nach Yage herumhängt. Aber es ging nicht. Es wollte Hugo Rhäs ums Verrecken nicht gelingen. Selbst wenn er etwas getrunken hatte. Wo sitzt Dr. Benway? Wer ist der Junge? Warum Phimose? Warum Käfer? Was für Käfer? Was für Schnaps? Und so weiter. Wahrscheinlich dachte er immer noch, er müßte die Geschichte der Buddenbrooks schreiben. Vier Generationen chronologisch. Thomas Mann war keine fünfundzwanzig gewesen. Aber deshalb war er ja auch ein Genie. Rhäs hielt viele für ein Genie. Gar nicht unbedingt wegen ihrer Werke. Er konnte mit Thomas Mann im Grunde nichts anfangen. Trotzdem hielt er ihn für ein Genie. Eben weil er diese Werke geschrieben hatte. Nicht das Was, sondern das Daß. Auch eine uralte philosophische Angelegenheit, der Gegensatz von Quodditas und Quidditas. Aber das war für Hugo Rhäs kein Trost. Auch die Selbstdiagnose „Willenslähmung“ nicht. Denn erstens traf sie die Sache nicht sehr genau, und zweitens half die Benennung auch nicht bei der Bekämpfung der Symptome.

Außerdem wollte er sich doch die nächste Zeit nicht mehr mit Literatur, sondern mit Frauen beschäftigen. Kaum eine Stunde nachdem ihm Frau Helfrich das erste Mal in den Sinn gekommen war, mußte er sich schon wieder mühsam an das Vorhaben erinnern, sein Gefühlsleben etwas mehr in den Vordergrund zu rücken. Hugo Rhäs versuchte sich das unscharfe Bild ihres Busens wieder in Erinnerung zu bringen. Aber es wollte ihm nicht richtig gelingen. Andere Gedanken drängten sich ihm auf. Die Zeitschriften, die er damals verbrannt hatte, das waren doch nicht nur schwedische Magazine gewesen.

Gab es da nicht in den Siebzigern eine Zeitschrift mit Namen High Society, die sich darauf spezialisiert hatte, Berühmtheiten nackt abzubilden? Und war damals nicht auch ein Bild von Tamara Tajenka in einer deutschen Ausgabe erschienen? Auf einem Presseball hatte sie sich ungeschickt gebückt und prompt war ihr Wickelkleid vorn auseinandergeklappt und hatte ihre Brust für einen Moment entblößt. Dreimal hatte der Auslöser des Fotografen geklickt, und alle drei Fotos waren dann einmal ganz, obwohl nur auf einem der Busen selbst zu sehen war, dann noch einmal in Ausschnitten und dann noch einmal spiegelverkehrt in der Novembernummer zu begutachten. Fünf ganze Seiten hatte die Redaktion damit gefüllt. In dem zusammengestückelten Text, den ein Journalist beifügte, hieß es, daß zu später Stunde das russische Temperament mit ihr durchgegangen sei. Die Überschrift lautete „Na sdarówje, Schwesterchen!“

Ein collagiertes Sammelsurium auf Seite 5 stürzte den naiven Leser – und welcher Leser einer Zeitung mit dem Namen High Society ist nicht naiv? – in den befriedigenden Taumel ununterscheidbarer Nudität, der für das wenig Neue, das auf der Titelseite als „Enthüllungen des Schlagerlieblings“ angekündigt wurde, entschädigen sollte. Gemäß den Gesetzen der freien Assoziation fanden sich hier neben den erneut, diesmal kleiner, abgedruckten drei Bildern Tamara Tajenkas auch einige Fotos ebenso offenherziger Tänzerinnen aus dem New Yorker Studio 54, das damals sehr beliebt war. Bianca Jagger, Jerry Hall und so weiter. Desweiteren einige als „Töchter Lenins“ betitelte Schönheiten. Angeblich Landesgenossinnen von Tamara Tajenka, in Wirklichkeit eine willkürliche Mixtur von Archivmaterial. Auswahlkriterium: östlicher Einschlag.

Hugo Rhäs’ Zweifel verstärkten sich. Hatte er Frau Helfrichs Busen vielleicht gar nicht im Lehrerzimmer oder bei einer anderen Gelegenheit gesehen, sondern vielmehr seinerzeit den Bericht über Tamara Tajenka in der High Society gelesen, und nun bei seinem Gedanken an Frau Helfrich Tamara Tajenkas Busen unwillkürlich mit der Person von Frau Helfrich verbunden? Konnte eine entfernte Ähnlichkeit des Gesichts, eigentlich nur des Mundes, zu einer Ähnlichkeit des Busens führen?

Hugo Rhäs schaute nachdenklich auf das gerahmte Bild über seinem Schreibtisch. Dem Autorenfoto von Burroughs auf der Umschlagsrückseite von Softmachine nachempfunden, zeigte es das Gesicht von Hugo Rhäs einmal aus zwei linken und einmal aus zwei rechten Gesichtshälften zusammenmontiert. Das Portrait aus den beiden Rechtshälften stellte einen naiven und kindlichen Mann dar, der mit einer Nacherzählung der Buddenbrooks beschäftigt war. Die beiden Linkshälften hingegen wucherten dämonisch ineinander. Aus diesem Gesicht loderte und schrie es: „Schreib dein eigenes Naked Lunch! Härter! Stärker! Ungebändigt!“ Und obwohl er aus beiden Hälften bestand, gefiel Hugo Rhäs die Linke an diesem Sonntagmittag wieder einmal viel besser.

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Ebenfalls an diesem Sonntag machte sich Professorin Rikke mit ihrem Lebenspartner Wansl gegen neun Uhr vormittags zu einer Wanderung auf. Obwohl die Hitze so früh am Morgen noch erträglich war, konnte sie sich nicht richtig an der ruhigen und schattigen Umgebung der Wälder erfreuen. Ihr spukte noch immer der Artikel aus dem New Yorker, den sie gestern Nacht trotz seiner Länge in einem Rutsch durchgelesen hatte, im Kopf herum. Die Beispiele der kenianischen Mythen hatten sie zutiefst beeindruckt, und dann auch die Idee, den Morbus Mannhoff gesellschaftlich zu interpretieren. Da mußte man erst einmal drauf kommen. Es gab da draußen zwischen dieser ganzen Flachheit und Einfältigkeit tatsächlich noch ein paar scharfe Geister, die etwas zustande brachten, auf das sie selbst nicht ohne weiteres gekommen wäre. Natürlich auch, weil ihr einfach die nötigen Informationen fehlten. Weit abgeschlagen in der mitteldeutschen Provinz. Wo selbst die Städte provinziell sind. Und die Lehrstühle an den Universitäten nicht minder.

Wansl ging neben ihr. Er sagte nichts. Wahrscheinlich löste er im Geist ein Schachproblem. Oder er konstruierte eine elektronische Schaltung. Das zweite, was Professorin Rikke immer wieder daran hinderte, die Wanderung zu genießen, war die Tatsache, daß sie für diesen Abend bei ihrer Freundin Gisela zum Geburtstag eingeladen war. Und sie hatte noch kein Geschenk. Schlimmer: sie hatte noch nicht einmal eine vage Idee für ein Geschenk. Wenn sie daran dachte, überkam sie ein Gefühl der Leere. Da ihr bislang jedes Jahr etwas Besonderes eingefallen war, hatte sie sich selbst in einen gewissen Zugzwang gebracht. Der Wandbehang aus Seidenmalerei mit den Zeilen aus einem Gedicht von Karl Krolow. Die Tanzperformance zu einem Cello-Solostück von Heitor Villa-Lobos. Die lebensgroße Fotografie mit dem von ihr selbst und ihren Freundinnen nachgestellten Letzten Abendmahl. Da konnte sie nicht auf einmal mit einem Buch aus dem Walter Verlag ankommen. Außerdem las Gisela nicht besonders viel. Sie war eben mehr der musische Typ.

Während sie zusammen mit ihrem Begleiter weiter einen Hügel namens Kleiner Knöbis hinaufstieg, überlegte sie, ob man wenigstens mit der Zahl des erreichten Alters etwas anfangen konnte. 39. Drei mal drei ist neune. Die freie Assoziation half ihr oft weiter. Vielleicht ein paar Daten von Ereignissen aus dem Leben bekannter Frauen in deren neununddreißigstem Jahr? Aber auch wenn sie die am Nachmittag noch aus ihrer Bibliothek zusammenklaubte, wie sollte sie das ganze präsentieren? Selbst für einen Kartoffeldruck reichte die Zeit nicht mehr. Je mehr sie versuchte, eine originelle Idee zu finden, desto tiefer verrannte sie sich in immer aussichtsloser erscheinende Überlegungen, die ihr auch noch den Spaziergang vergällten.

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Tamara Tajenka war entgegen manchen Annahmen weder tot, noch hatte sie sich in ihre russische Heimat zurückgezogen. Im Gegenteil. Die Wiederbelebung der Volks- und Schlagermusik der letzten Jahre hatte auch sie erneut ein Stück ins Rampenlicht gerückt. Sie tingelte mit einigen ihrer größten Erfolge, neuen, eigens für sie arrangierten Titeln und einem Potpourri aus österreichischen und russischen Volksweisen durch die Bierzelte und Lokale der deutschsprachigen Lande. Die kurzzeitig aufgekommene Idee, ihr sogar eine eigene Show im zweiten Programm des deutschen Fernsehens zu geben, eine Neuauflage der einst sehr beliebten Sendung Der goldene Schuß, diesmal natürlich nicht mit einer Armbrust, sondern komplizierten elektronischen Schießgeräten, war zwar schnell wieder im Sand verlaufen, dennoch hatte sie auch ohne diese fragwürdige Reprise, der kein Kenner der Branche mehr als drei zähe Sendungen prophezeit hatte, ihr durchaus geregeltes Einkommen gefunden.

An diesem Sonntag war sie zum Beispiel für eine Matinee-Veranstaltung in der Gezackten Krone auf dem Kleinen Knö- bis gebucht. Und schon am nächsten Tag sollte sie zusammen mit anderen nationalen Stars bei einem Benefiz-Konzert in einem Nobelhotel in Frankfurt auftreten. Der Erlös der Veranstaltung sollte Morbus-Mannhoff-Patienten zugute kommen, auf deren Schicksal man durch den Sektenkrieg in den USA, wie die Zeitungen die Unternehmung Loophole D hier bezeichneten, nun auch in Deutschland aufmerksam geworden war. Gesponsert von der Firma Behemoth, die sich mit ihren Schwimm-, Tauch- und Sportanzügen auf dem deutschen Markt zu etablieren gedachte, versprach der Abend eine große Sache zu werden. Mehrere private Fernsehsender hatten sich angeschlossen und wenn alles klappte, sollte es auch eine Direktschaltung nach Amerika zu Douglas Douglas Jr. geben.

Als Professorin Rikke und Wansl den Gipfel des Kleinen Knöbis erreicht hatten, mußten sie zu ihrem Bedauern feststellen, daß die Gezackte Krone, dieses kleine und gewöhnlich kaum besuchte Lokal, in dem sie an anderen Sonntagen vor dem Abstieg immer einen Salat und eine Käseplatte zu sich genommen hatten, aus allen Nähten platzte. Der Parkplatz war mit Autos und Bussen überfüllt und an der Eingangstür hing ein Schild „Geschlossene Gesellschaft“. Von drinnen hörte man gerade die letzten Takte eines Kasatschoks. Sowohl Rikke als auch Wansl hatten Hunger. Also drückten sie sich vorsichtig in den engen und verqualmten Raum. Die anwesenden Gäste, es handelte sich vorwiegend um die Belegschaft einer mittelständischen Firma für Raumluftdesign, also Klimaanlagen, waren ausgelassen und in bester Stimmung. Die Kellner wankten mit hocherhobenen Tabletts zwischen den Tischen umher, und als niemand den beiden auch nur die geringste Beachtung schenkte, zwängten sie sich auf eine schmale Eckbank in einer Nische. Tamara Tajenka hatte ihr zweites Set gerade beendet und kündigte eine kurze Pause an. Da die Bühne von der Nische, in der Professorin Rikke und Wansl saßen, nicht einzusehen war, bekamen sie Tamara Tajenka erst zu Gesicht, als diese an ihnen vorbei nach draußen ging. Professorin Rikke erschrak.

„Das ist doch …“ Sie stieß Wansl an. „Da! Schnell! Schau!“

„Was?“ Wansl sah langsam von der Karte auf.

„Die Gisela.“

„Wer?“

„Die Frau dort, hast du nicht gesehen, die sieht doch aus wie…“ Ein Kellner hatte sich zu ihrer Ecke durchgekämpft und wollte die Bestellung aufnehmen. „Wir nehmen den Haussalat und eine Käseplatte mit Camembert und zwei Radler.“

„Heute gibt’s nur Menü.“

„Und was ist das Menü?“

„Russische Schweinshaxe oder russischer Hackbraten.“ „Kein Salat?“

„Nein.“

„Ist da Salat dabei?“

„Weißkohl ist da dabei.“

Rikke und Wansl schauten sich fragend an. „Wir nehmen einmal den Hackbraten.“

„Einmal Hackbraten und?“

„Und zwei Radler.“

„Es gibt nur Kwas oder Wein. Aus Georgien.“

„Dann zwei Wasser, bitte. Ach, und könnten wir vielleicht eine Extraportion Weißkohl haben, wenn das geht?“ Der Kellner verschwand. Tamara Tajenka kam von ihrer Zigarettenpause zurück. Die Leute im Saal klatschten, als sie wieder die Bühne betrat. Die Begleitband setzte mit Nathalie von Gilbert Bécaud ein. Professorin Rikke wandte sich zu einem Herrn neben ihr, der gerade seine russische Haxe aufgegessen hatte. „Könnten Sie mir sagen, wer das da ist?“

Er lachte und wischte sich mit der Serviette über den Mund. „In welcher Abteilung sind Sie denn?“

„Wir gehören hier nicht dazu.“

„Ach so, ach so. Na trotzdem, die müßten Sie doch kennen. Tamara Tajenka.“ Professorin Rikke nickte und drehte sich zurück. Tamara Tajenka. Natürlich. Gisela hatte ihr doch selbst ein paar Mal erzählt, daß sie ihr angeblich so ähnlich sah, und wie man sie während des Studiums immer damit aufgezogen hatte. Das wäre doch überhaupt die Idee: heute Abend mit Tamara Tajenka auf der Geburtstagsfeier zu erscheinen. Was könnte das kosten? Vielleicht fünfhundert Mark. Für ein, zwei Stunden. Wenn man es richtig anpackte. Ihr das ganze schmackhaft machte. Sie brauchte ja nicht zu singen. Zumindest war die Band nicht nötig. Wenn sie dann später vielleicht ein Lied, zusammen mit Gisela… Das wäre eine Überraschung. Der Geburtstag, besonders der vor der gefährlichen vier, war genau der richtige Tag, um mit solchen mythischen Figuren im eigenen Leben aufzuräumen. Und man räumt immer am besten auf, wenn man den Dingen oder Personen, die einen so lange verfolgen, direkt ins Gesicht sieht. Der Doppelgänger. Kurz kamen Professorin Rikke Zweifel. Wenn man seinem Doppelgänger begegnet, muß man sterben. So heißt es im Märchen. Oder einer von den beiden muß sterben. Aber das war natürlich Unsinn. Es handelte sich dabei nur um ein Symbol. Selbstverständlich muß etwas in einem sterben. Zum Beispiel der Glaube, daß man einmalig ist, völlig unverwechselbar. Die große narzißtische Kränkung. Aber darüber waren sie hinaus. Sie selbst und Gisela auch. Obwohl, wer weiß. Mit Giselas Weiblichkeit, sie hatten schon einige Male darüber geredet, da gab es noch einige Probleme. Schon seit einigen Jahren keinen Freund. Immer Jeans und Sweat-Shirt. Und dann diese Gegenfigur hier im engen Glitzerkleid. Dafür um einiges älter. Das kann auch ein Trost sein.

Unsinn, schon wieder machte sie sich zuviel Gedanken. Wo sich doch jetzt ganz einfach etwas zu ergeben schien. Wichtig war erstmal, ob sie Frau Tajenka überhaupt dazu bewegen konnte, heute Abend mitzukommen. Vielleicht hatte sie ja noch andere Verpflichtungen. Wer weiß, wie lang das hier noch ging heute. Der Kellner kam und stellte einen großen Teller vor die beiden.

„Einmal Hackbraten Petersburg.“ Daneben setzte er eine Untertasse ab, auf die zwei Eßlöffel Weißkraut gehäuft waren. „Und die Extraportion Weißkohl. Bier kommt gleich.“

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Das Chop Suey, das sich Hugo Rhäs am Sonntagnachmittag gegen halb drei von dem neuen Chinesen am Bahnhof hatte bringen lassen, schmeckte nicht besonders. Er saß im Wohnzimmer auf dem Boden zwischen den beiden zur Seite gerückten Sesseln. Zum Glück war es draußen schon wieder so heiß, daß er gar nicht überlegen mußte, ob er sich noch einmal zu einem Spaziergang aufraffen sollte. Als sein Vater damals seine Mutter verlassen hatte, saßen sie auch den ganzen Frühsommer nur in der kleinen Wohnung. Seine Mutter immer nur unbeweglich am Küchentisch, mit roten Augen. So meinte er sich zumindest zu erinnern. Wahrscheinlich hatte Klara Rhäs ganz normal den Haushalt weitergeführt und ihn versorgt. Dennoch erschien ihm, wenn er an seine Kindheit dachte, vor allem dieses Bild.

Eines Tages hatte es an der Tür geläutet. Es war ein netter Mann so um die dreißig. Er arbeitete freiberuflich als Journalist für verschiedene Zeitungen. Er erzählte erst ganz allgemein und unverbindlich dies und das, um dann mit kleinen vorsichtigen Ansätzen auf die Veröffentlichungen der Fotos in der Illustrierten Bonbonniere zu sprechen zu kommen. Es sei, rundheraus gesagt, ein Skandal.

„Das ist die Form von Vergangenheitsbewältigung, die sie betreiben können. Kein Wort von den Nazi-Untersuchungen. Der Gebärbescheinigung. All das. Diese ganzen Sauereien. Das wird wie immer alles schön unter den Teppich gekehrt. Und die Opfer bleiben die Opfer.“ Klara Rhäs verstand nicht genau, was er damit meinte. Ihr war dieses Vokabular fremd. Nie käme sie auf den Gedanken, sich als Opfer zu sehen. Sie bat ihn in die Küche. Nein, er wolle keinen Kaffee, sei nur auf einen Sprung vorbeigekommen, um ihr das zu sagen. Aber warum? Es hat ihn eben bewegt. Schließlich ist er auch vom Fach. Was einem da vorgesetzt wird Tag für Tag: Unvorstellbar.

„Aber Ihre Sache, Frau Rhäs, Ihre Sache, wirklich abscheulich. Was sagt denn Ihr Mann?“ Klara Rhäs antwortete nicht auf diese Frage. „Und einen Jungen, soviel ich weiß?“ Sie holte Hugo aus dem Nebenzimmer.

„Na, kleiner Mann“, sagte der Journalist und gab ihm eine leere Filmspule zum Spielen. „Sie arbeiten?“

„Zur Zeit nicht.“

„Ja, das kann ich verstehen.“ Der Journalist nickte mehrfach betroffen und verabschiedete sich dann höflich und nicht ohne sich noch einmal dafür zu entschuldigen, dieses unangenehme Thema zur Sprache gebracht zu haben. „Ich weiß, man möchte am liebsten alles vergessen…“

Das war das erste Gespräch. Es war tatsächlich recht kurz. Trotzdem war eine gewisse Verbindlichkeit hergestellt. Am darauffolgenden Montag kam der Journalist wieder. Er wollte einfach mal nach dem Rechten sehen. Er hatte ein Holzauto für Hugo dabei. Hugo sagte schön Danke. Diesmal sprach der freie Journalist von einem Prozeß.

„Anders kommt man gegen die nicht an. Das wühlt natürlich alles wieder auf, und das tut weh. Aber da muß man durch. Augen zu und durch. In Amerika ist das gang und gäbe. Und was macht es den großen Zeitungen denn auch aus? Während bei uns mit der alten Nazi-Justiz. Das sind alles alte Nazis. Da sitzen welche, die saßen wahrscheinlich auch in dem Ausschuß, der die Frauen nach ihrer Gebärfähigkeit untersucht hat. Und fotografiert, nicht zu vergessen. Was glauben Sie, wieviel anderen Frauen es auch so geht wie Ihnen? Wie viele Fotos da kursieren. Und wie viele Frauen tagein tagaus zittern und sich gar nicht mehr trauen, die Zeitung aufzuschlagen. So was kann immer wieder bei einem Redakteur landen, der eben keine Skrupel kennt. Und dann …“

Klara Rhäs wollte über die Sache nicht reden. Sie wollte das alles vergessen. Sie konnte und wollte sich keine anderen Frauen vorstellen. Es gab nur die Fotos von ihr. Es gab nur ihre Scham, und die wollte sie vergessen. Der Journalist sprach die spätere Ausbildung von Hugo an. Ein Handwerksberuf, vielleicht sogar ein Studium. Aber erstmal die Schule. Das kostet schon was. Klara Rhäs konnte sich nicht vorstellen, daß Siegfried sich nicht mehr um seinen Sohn kümmern würde. Er hatte sich jetzt zwar einige Wochen nicht gemeldet, aber das würde auch wieder anders werden. Wenn sie nur wüßte, wo er steckte.

„Sehen Sie, wenn man das ganze einfach mal aufrollen würde. Ich weiß, ich weiß, ein fürchterlicher Gedanke, aber ich habe immer wieder erlebt, daß es einen befreit, wenn die Fakten auf den Tisch kommen. Wenn man mit einem Mal seine Unschuld beweisen kann, Sie sich selbst, Ihrem Fleischer, Ihrem Kaufmann, Ihrem Ehemann nicht zu vergessen, und hier dem kleinen Hugo natürlich, auch wenn er jetzt noch nichts versteht, aber später, was glauben Sie, wenn er in die Schule kommt. Irgendwann tauchen Fragen auf, und dann stehen Sie immer allein da. Und alles, was Sie dann zu Ihrer Verteidigung vorbringen, hat schnell den Beigeschmack von fauler Ausrede. ‚Die muß sich verteidigen‘ heißt es dann. Aber vor einem Gericht, da zählen Fakten. Nur die Fakten. Und die Fakten sprechen für Sie. Eindeutig. Ein richtiger Anwalt, der bläst den Nazi-Richtern schon den Marsch. Und außerdem zeigt man selbst, daß man nichts zu verbergen hat. Man geht in die Offensive. Aber ich kann natürlich vollstens verstehen, wenn Sie davon nichts mehr wissen wollen.“

Das war der zweite Besuch. Der dritte Besuch verlief fast ähnlich. Hugo bekam einen Anhänger für das Auto. Klara Rhäs war nicht mehr verheult. Sie sah irgendwie frischer aus. Der vierte Besuch war überraschend. Der Journalist kam mit der Nachricht, er habe einen Anwalt für die Sache gefunden. Dieser sei mehr als interessiert. Die Aussichten auf Erfolg gleichermaßen vielversprechend. Es gehe jetzt allerdings um zwei Dinge.

„Da müssen wir uns drum kümmern. Zum einen: Klärung der Beweislage. Zum anderen: Geld. Natürlich brauchen wir Geld. Ganz umsonst macht es der Anwalt selbstverständlich nicht.“ Klara Rhäs nickte. Sie wußte nicht genau, zu was sie nickte, aber sie nickte. Beweise und Geld. Beides besaß sie nicht. Und beides mußte beschafft werden.

„Aber das ist kein Problem. Wir schaffen das schon. Für das Geld habe ich auch schon eine Idee. Wir machen einfach eine große Reportage über Sie, über die Untersuchung, die Fotos, den ganzen Fall. Eine Bildreportage. Über mehrere Folgen. Das gibt genug Geld. Da können Sie den Anwalt bezahlen und Hugo auf die Schule schicken.“ Und während der durch und durch sympathische Journalist weiter über das Thema sprach und Klara Rhäs zwischendurch immer wieder zum Lachen brachte, verflüchtigten sich ihre Bedenken, und schließlich willigte sie ein.

Der Journalist war gleich am nächsten Tag wieder zur Stelle, um so etwas wie einen Schlachtplan auszuarbeiten. Sieben Folgen müßte man einer Illustrierten schon anbieten. Aber sieben Folgen mußten erst einmal gefüllt werden. Vor allem mit Fotos. Er war schon in dem Krankenhaus gewesen. Aber das sah mittlerweile alles ganz anders aus da, und mit den Alliierten, die stellen sich immer gleich so an mit Genehmigungen und Papieren, bis man da die erste Aufnahme im Kasten hat …

„Und Ihre Fotos, die liegen ja nun mal leider bei der Bonbonniere. Noch, sage ich nur. Da kommen wir nicht ran. Auch so eine Sauerei. Aber so ist das nun mal. Das hat alles seine rechtlichen Hintergründe. Dafür führen wir ja den Prozeß. Trotzdem brauchen wir Material. Was wir brauchen, ist Material.“ Nachdem er diesen Satz noch einige Male wiederholt hatte, verschwand der Journalist. Und tauchte auch erst einmal nicht mehr auf. Klara Rhäs saß am Küchentisch und wartete auf das Klingeln. Aber es passierte nichts. Es wirbelten ihr alle möglichen Gedanken im Kopf herum. Der Prozeß. Die Reportage. Hugo. Siegfried. Vielleicht würde Siegfried ja auch zu ihr zurückkommen, wenn alles erst einmal von einem Gericht richtiggestellt und entschieden war. Sie überlegte, wie sie die Arbeit des netten Journalisten unterstützen könnte. Aber wie sehr sie sich auch den Kopf zermarterte, es wollte ihr nichts einfallen.

Nach zehn sehr langen Tagen stand der Journalist an einem Freitagabend endlich vor der Tür. Er schien verändert, das bemerkte Klara Rhäs gleich. Irgendetwas mußte vorgefallen sein. Aber was? Er war ruhiger als sonst, sprach weder vom Prozeß noch von der mehrteiligen Bildreportage, sondern überreichte Klara Rhäs fast wortlos einen kleinen Strauß Blumen. War das etwa der Abschied? Eine Weile saßen sie sich in der Küche gegenüber. Klara Rhäs fiel nichts ein, was sie ihn hätte fragen können. Und er sagte auch nichts. Schließlich wollte er ganz unvermutet wissen, ob Hugo nicht ein paar Stunden bei der Nachbarin bleiben könnte? Er würde sie nämlich gern zu einem Essen einladen. Eine Kleinigkeit, wirklich nichts Besonderes. Klara Rhäs war erleichtert. Wahrscheinlich hatte sie sich gleich zuviel Gedanken gemacht. Er war vielleicht nur müde von seiner Arbeit. Beim Essen würden sie das weitere Vorgehen besprechen.

Sie brachte Hugo zur Nachbarin, zog sich das beige Kleid mit den großen Tulpen an und ging mit dem Journalisten in den Ratskeller essen. Sie aß ein Kotelett und trank zwei Gläser Wein und noch eins. Der Journalist erklärte ihr während des Essens ganz sachlich, ganz so wie ein Chirurg einen nötigen Eingriff bespricht, daß man einfach alle Bilder nachstellen müsse. Das sei so üblich bei der Presse. Irgendwelche Anhaltspunkte bräuchte man einfach. Material eben. Dann brachte er Klara Rhäs heim. Oder wollte sie sein Atelier einmal sehen? Er hatte nämlich schon etwas aufgebaut. Also machten sie vor dem Haus wieder kehrt und gingen zusammen zu seinem Atelier. Klara Rhäs hatte sich einen lichtduchfluteten Raum mit großen schrägen Fenstern vorgestellt, aber es handelte sich um zwei Kellerräume in einem leerstehenden Haus ohne Dach.

„Als Fotograf ist so viel Licht gar nicht gut.“ Ja, das war verständlich. In dem einen Raum entwickelte er seine Bilder. Im anderen machte er seine Aufnahmen. Ein alter Zahnarztstuhl stand in der Ecke. Ein Paravent. Ein paar Schüsseln.

„Na, sieht das nicht schon ganz aus wie in einer Arztpraxis?“ Klara Rhäs nickte. Sie war angeheitert, aber jetzt bekam sie mit einem Mal einen trocknen Mund. Als hätte er es erraten, bot ihr der Journalist etwas von der halben Flasche Wein an, die er noch da hatte. Klara Rhäs trank schnell. Dann stellten sie die Fotos nach.

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