Kitabı oku: «Hinterfragen und Handeln», sayfa 4
Nach 1989: Von der Not- zur Aufbauhilfe
Schwieriger Neuanfang
Mit dem Sturz des Regimes wurde an Weihnachten 1989 ein erster Brocken aus dem überaus steinigen Weg zu einem Neuanfang in Rumänien weggeräumt. Mit der Exekution des Ehepaars Ceauşescu am ersten Weihnachtstag, nach einem |40| rechtlich mehr als problematischen Kurzprozess, ganz im Muster sowjetischer Schauprozesse durchgezogen, entledigte man sich der wichtigsten Symbolfiguren vergangener Leiden und offensichtlichen Unvermögens. Vieles wies überdeutlich darauf hin, dass hinter den Dezember-Ereignissen auch wichtige Leute der kommunistischen Staatspartei unter Führung von Ioan Iliescu standen, welche den Volksaufstand für ihre eigene politische Agenda usurpierten: Die Macht der Partei mit ihren Privilegien für den Apparat sollte erhalten bleiben, die unmittelbare Führungsclique mit und um Ceauşescu aber brachial entsorgt und dem im Zusammenhang mit den radikalen Umwälzungen 1989 in fast allen Staaten Mitteleuropas entstandenen Willen der Bevölkerung, das eigene Schicksal in die Hände nehmen, in einem begrenzten Mass entsprochen werden. Verschiedene Faktoren weisen auf diese wahrscheinlichste Variante der Interpretation der rumänischen Revolution hin: Noch im Dezember entstand aus dem Nichts die Nationale Front – Frontul national – mit dem gelb-blau-roten Armbändel als Kennzeichen.
Die These, dass der rumänische Aufstand von den reformbereiteren Mitgliedern der staatstragenden Partei für die eigenen Ziele (und materiellen Interessen) missbraucht worden ist, wird durch viele Ereignisse im ersten Halbjahr 1990 gestützt. Überraschende und intransparente Privatisierungen erlaubten es skrupellosen Kader- und Securitate-Leuten, sich grosse wirtschaftliche Werte unter den Nagel zu reissen – die Basis für die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten wuchernde Mafia. Zur aufgeheizten Stimmung in den ersten Wochen und Monaten nach Weihnachten 1989 gehörten auch die seit Jahren gängigen und auch nach den Dezember-Ereignissen besonders gepflegte Manipulation von Menschenmassen zur Unterstützung der herrschenden Parteikader und gegen vermeintliche Feinde des Fortschrittes. So wurden im März 1990 die rumänischen Kleinbauern aus dem Hinterland von Târgu Mureş gegen die ungarischsprachige Bevölkerung der nahen Stadt aufgestachelt, die nach Jahren der Unterdrückung und Zurücksetzung endlich eine Anerkennung der eigenen Kultur und Sprache einforderte und auch durchsetzte. Die Bauern wurden nach Târgu Mureş gekarrt, die Ungarn übernähmen die Macht, der alte Feudalismus wolle sich durchsetzen, es könne wieder zu Vertreibungen kommen, wie so oft im 20. Jahrhundert. Târgu Mureş brannte, es gab Tote, die Polizei schaute mehr oder weniger zu, und es waren letztlich Zigeuner, welche die randalierenden Bauern vertrieben und so die Ordnung in der Stadt wiederherstellten. Oder: Im ersten Halbjahr nach dem Dezember-Umsturz wurden die relativ privilegierten Minenarbeiter aus dem Schiltal (rumänisch Valea Jiului) in den südlichen Karpaten gleich mehrere Male zu Demonstrationen nach Bukarest gerufen und transportiert, Speerspitzen gegen demonstrierende Studentinnen und Studenten und generell gegen die urbanen Intellektuellen in Bukarest. Ich erinnere |41| mich an einen Tag im Juni 1990, einzelne Gebäude der Hauptstadt standen in Flammen, der Verkehr war fast ganz zum Erliegen gekommen. Ich wartete im Nordbahnhof auf einen Transport nach Braşov, als plötzlich ein Zug an einem Perron einfuhr und sich in Windeseile entleerte: Über tausend Minenarbeiter aus den Karpaten, die mit Uniformen, bei denen selbst die Stirnlampen nicht fehlten, und schweren Schuhen in Takt und Laufschritt durch die Bahnhofhalle dröhnten. Solch paramilitärische Auftritte sollten die Bevölkerung Bukarests einschüchtern.
Hemmungslose Gewalt von oben, aber auch das durch die jahrzehntelange Unterdrückung bedingte Fehlen einer auf allen Ebenen funktionierenden Zivilgesellschaft erschwerten die ersten Schritte des nun neuen Rumäniens. Die im Laufe der Zeit eingeübte und weit verbreitete Praxis von Korruption und Diebstahl am Staatseigentum – man nahm nach Hause, was man brauchen konnte – sowie die Tendenz, immer gegen den Staat zu entscheiden, erschweren bis heute notwendige Veränderungen. Es spricht für die Stärke Rumäniens mit seinen Volksgruppen, dass aber auch positive Kräfte da waren, die in der ersten Zeit nach der Wende das Land mitgestalteten. Zu ihnen gehörten Intellektuelle, die sich dem System verweigert hatten, Dichter, Philosophen. Ich lernte einen Nuklearphysiker kennen, der als Wissenschaftler kaltgestellt in den späten achtziger Jahren C. G. Jung, eine verbotene psychologische Richtung, übersetzte und mit Maschinendurchschlägen verbreitete. «Als Dissidenter kannst du keinen Teilchenbeschleuniger betreiben, Psychologie braucht weniger Platz und ist doch explosiv», meinte er lakonisch und bescheiden. Zu ihnen gehörten aber auch Vertreterinnen und Vertreter der sprachlichen Minderheiten, Deutsche und Ungarn, die immer Kontakt zu Gedanken und Entwicklungen ausserhalb Rumäniens gepflegt hatten und so das eigene Denken und Handeln kritisch hinterfragen konnten. Und zu ihnen gehörten wohl wichtige Teile der Kirchen, insbesondere der protestantischen. Christliche Ethik fordert von den Einzelnen Ehrlichkeit, Wahrheit und Mitmenschlichkeit. Dies stand und steht im Gegensatz zur sowjetischen Ethik, die zwar ebenfalls Gerechtigkeit fordert, dem Staat, der Gemeinschaft, letztlich wohl dem Apparat alles dienstbar macht und persönliche Integrität zu opfern bereit ist.
Dass HEKS mit seinen reformierten und teils lutherischen Partnern beim Neuanfang gute Voraussetzungen hatte, zeigte sich schon beim ersten Hilfstransport. Das Privileg der tüchtigen und vertrauenswürdigen Partner wurde zunehmend wichtig, entwickelte sich die Lage in Rumänien doch rasch chaotisch: Die Machtverteilung blieb unklar, über die politischen Ziele bestand weit und breit kein gesellschaftlicher Konsens, der alte Apparat behinderte wie geschildert positive Entwicklungen, und aus dem Ausland fielen gutmeinende Helfende wie Heuschrecken über das Land. |42|
Schweizer Hilfswerke arbeiten zusammen
Die internationale Liga der Rotkreuzgesellschaften versuchte in der zweiten Januarhälfte 1990 etwas Ordnung in die Hilfsaktionen zu bringen, indem sie die verschiedenen rumänischen Bezirke den westlichen Rotkreuzgesellschaften zuteilte. Die Zusammenarbeit unter den etablierten Schweizer Hilfswerken funktionierte, nicht zuletzt dank der gemeinsamen Sammelaktion im Rahmen der Glückskette, recht gut. Das Schweizerische Rote Kreuz konnte sich die Bezirke Covasna und Braşov zuteilen lassen. In den letzten Januartagen machte man sich bereit für eine gemeinsame Erkundungsreise – heute: factfinding mission – der Schweizer Hilfswerke mit Delegierten der Schweizerischen Katastrophenhilfe, heute Sektion Humanitäre Hilfe der DEZA16, ins zugeteilte Projektgebiet. Ich konnte vor dieser Reise den beiden Partnern und Freunden in Braşov und Covasna per Telegramm mitteilen, wir kämen mit einer Delegation bestehend aus Caritas, Arbeiterhilfswerk SAH (heute: Solidar Suisse), Rotem Kreuz, Katastrophen-Hilfskorps und HEKS und möchten die entsprechenden Partner auf Bezirksebene zu einer Konferenz treffen. Nur ein Telegramm und es funktionierte. Die oben vorgestellten Freunde Béla Kató und Miklós Ménessy konnten zu beiden Treffen in den Bezirken Covasna und Braşov die politischen Verantwortlichen, die wichtigen und zuverlässigen Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen, der Wirtschaft, der medizinischen Versorgung und der Bildung zusammentrommeln. Schon nach wenigen Stunden waren die entscheidenden Kontakte zwischen den verschiedenen rumänischen Partnern und den Schweizer Delegierten geknüpft und die nächsten Arbeitsschritte vereinbart. An den nun folgenden Tagen besuchten wir getrennt die dem Hilfswerksprofil entsprechenden Projektgebiete. Spät am Abend trafen wir uns jeweils, von ganz verschiedenen Orten kommend, informierten uns gegenseitig, tauschten aus und machten erste Planskizzen. Nach zehn Tagen kehrten wir in die Schweiz zurück. Die Werke wussten nun, in welche Richtungen sie ihre Hilfsprogramme ausbauen würden. Ein Vertreter der DEZA, als Koordinator der Schweizer Hilfe in dieser Region, blieb gleich in Braşov zurück. Bis zur Tsunami-Nothilfe nach 2003 habe ich nie mehr eine ähnlich konsequente Koordination der humanitären Hilfe aus der Schweiz erfahren – leider.
Die Gründe für die erfolgreiche Zusammenarbeit in Rumänien sind vielfältig und lehrreich: Der erste Hilfstransport, den zu leiten ich das Privileg hatte, konnte mit Delegierten aller Werke einigermassen erfolgreich und trotz des herrschenden |43| Chaos geordnet durchgeführt werden, während der zweite durchgezwängte Hilfstransport im Fiasko endete. Die Schweizer Werke und die humanitäre Hilfe des Bundes akzeptierten die Zuteilung der Bezirke Braşov und Covasna für das SRK auch als Schwerpunktsregionen für ihre eigenen Aktivitäten. HEKS verfügte über langjährige und bewährte Partnerschaften in diesen Bezirken und stellte diese, wie oben dargestellt, ohne Bedingungen in den Dienst der gemeinsamen Anstrengungen. Die Beteiligten fanden ihre je geeignete Rolle; die DEZA koordinierte die Aktivitäten und stellte Fachleute wie Architekten zur Verfügung, das SAH konzentrierte sich auf Schulen und später zivilgesellschaftliche und gewerkschaftliche Strukturen, das Rote Kreuz auf Gesundheit, HEKS auf Landwirtschaft und KMU sowie zusammen mit SRK auf Behindertenarbeit. Daneben pflegten natürlich alle Beteiligten ihre besonderen institutionellen Beziehungen. Die DEZA war Türöffner bei staatlichen Stellen, SRK unterstützte die Rotkreuzgesellschaften auf dem Weg von der kommunistischen Zwangsorganisation zu engagierten Sektionen, HEKS und Caritas pflegten die Beziehungen zu den Kirchen. Dies alles vorerst im Sinne von Nothilfe, bald aber schon in der Planung und Durchführung von Rehabilitations- und Aufbauprogrammen. Das Besondere der Schweizer Zusammenarbeit in der Rumänienhilfe lag wohl darin, dass nicht nur alle in der konkreten Arbeit ihre Rolle fanden, sondern den andern auch Wichtigkeit zustanden – und dass lokale Partner von Anfang an als gleichwertige Akteure einbezogen wurden.
Die Sache mit den Kinderheimen
Zu den Dingen, über die vor 1990 kaum geredet wurde, und wenn, dann nur im kleinsten Kreis und zu spätnächtlichen Stunden, gehörten die staatlichen Heime, Häuser für Betagte, Behinderte und Kinder sowie «Kliniken» für psychisch Kranke. Man wusste, dass es solche Einrichtungen gab, dass Pfarrer oder andere Besucher keinen Zutritt hatten und dass kaum Fachleute da arbeiteten, weil individuelle Psychologie oder Heilpädagogik als bourgeoise Disziplinen vernachlässigt und allein das Technische, Messbare gefördert wurde. Im Januar 1990 aber wurden diese verschwiegenen Orte entdeckt und einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht. Überfüllte und teils verwahrloste Heime für behinderte Kinder, Alte oder psychisch Kranke wurden angetroffen. Anlässlich unserer Januar-Mission kam die Delegierte des SRK ganz erschüttert vom Besuch im Behindertenheim von Timişu de Sus zurück an unsere Besprechung. Dennoch erschienen mir die Berichte, die in westlichen Medien erschienen, zu marktschreierisch. Sie rechneten erbarmungslos mit den zuständigen Behörden und vor allem dem Personal der Heime ab, die oft als krankhafte und völlig desinteressierte |44| Wärter dargestellt wurden. Solche Urteile mögen in manchen Fällen zutreffend gewesen sein, vor allem auch in Bezug auf die privilegierten Direktorinnen und Direktoren dieser Institutionen. Oft aber verkannten sie, dass es auch Frauen und Männer gab, die in Heimen und Sonderschulen unter den sehr misslichen Verhältnissen das ihnen Mögliche getan hatten, oft im Versteckten und vielleicht gegen offizielle Weisungen.
Den Schweizer Hilfswerken war nach dem Bericht des SRK klar, dass hier eine unaufschiebbare Aufbauarbeit gestartet werden musste. Erste Massnahmen wurden in Timişu ergriffen, kleine Renovationen und neue Ausrüstung. Heime in Codlea, Bod und andern Orten in den uns zugeteilten Bezirken folgten. HEKS und SRK arbeiteten dabei eng zusammen, das Rote Kreuz – in Zusammenarbeit mit der DEZA – vor allem beim Neubau und der Ausrüstung von Behindertenheimen, HEKS eher im Bereich der Aus- und Fortbildung von Personal, insbesondere von Heilpädagoginnen. Mit dem Heilpädagogischen Seminar Zürich, der heutigen Hochschule für Heilpädagogik, wurden in der Folge viele Kurse in Rumänien und in der Schweiz organisiert. Es entstanden Austauschprogramme und in den beiden Bezirken Braşov und Covasna eine Struktur für die Weiterbildung. Neben den Fachkräften aus der Schweiz, eine Heilpädagogin war mehrere Jahre in Braşov stationiert, stützte sich unsere Arbeit vor allem auf Fachleute in Rumänien. Das war wohl der entscheidende Faktor unserer heilpädagogischen Arbeit: Wir gingen nicht von Versagen oder gar kriminellem Verhalten zu Lasten der Betreuten, etwa Diebstahl von Lebensmitteln für die eigene Familie aus den knappen Beständen der Heime aus, sondern von politisch verordnetem Vernachlässigen. Deshalb konnten wir eine gute Beziehung zu Betreuerinnen, Lehrpersonen und andern Fachleuten aufbauen. Die vorerst mangelhafte Bereitschaft zu lernen wich bald einem intensiven Bedürfnis, besser zu werden; ein Durchbruch in einer Gesellschaft, in der Angst, Fehler zu machen, das berufliche Leben geprägt hatte. Ein banales Beispiel: Hilfeleistende hatten die Not der Säuglinge und Kinder erkannt und brachten nun in den Hilfstransporten sinnvolles Spielzeug in grossen Mengen mit, um bei einem nächsten Besuch empört festzustellen, dass diese kostbaren Spielsachen ungenutzt und abgeschlossen in Kästen, an einzelnen Stellen in eigentlichen Vitrinen verräumt worden waren. Nur, niemand hatte das Personal eingeführt, niemand hatte es durch zusätzliche Mitarbeitende entlastet (wenn Kinder spielen, fällt viel mehr Arbeit an) und vor allem hatte keiner der Helfenden erklärt, dass Spielsachen auch kaputtgehen können und dürfen. Die Pflegenden in den Heimen lebten gleichsam unter den wachsamen Argusaugen gutmeinender Leute aus dem Westen. Im Kontakt mit ihnen hatten sie längst verstanden, bisher offenbar alles falsch gemacht zu haben. Gut gemeinte Hilfe führte zuweilen zu Lähmung statt zu Ermutigung. |45|
In der HEKS-Zeitung stellten wir 1991 bewusst eine junge Lehrerin und Heilpädagogin vor: Marianne Lenghel, Tochter einer deutschen Mutter und eines ungarischen Vaters, verheiratet mit einem Rumänen.17 Sie hatte schon vor dem Sturz Ceauşescus in einem Kinderheim gearbeitet und konnte sich weiterbilden. Sie übernahm nach der Wende viel Verantwortung im heilpädagogischen Programm, vor allem im Aufbau eines heilpädagogischen Vereins im Bezirk Braşov. Sie nahm dankbar Unterstützung an, sie lernte und lehrte. Doch auch schon vor 1989 arbeitete sie mit der gleichen Einstellung: engagiert, empathisch zu schwachen, lernbehinderten Kindern, bereit, sich in den Institutionen einzugeben und das System zu verbessern. «Wir waren enttäuscht, dass man im Westen nur die schlechten Seiten von uns gezeigt hatte», sagte sie im Interview. Wie recht sie hatte.
Das tägliche Brot: Aus Fehlern lernen
Am 28. Dezember 1989 luden wir, wie beschrieben, mit der Nothilfe der Schweizer Hilfswerke kistenweise Büchsen mit ungarischem Gulasch in die Kirchen von Târgu Mureş aus; eine Gedankenlosigkeit. In den folgenden Monaten gingen wir daran, die guten Vorsätze von jenem Tag einzulösen und in «unsern» Bezirken Braşov und Covasna der Ernährungssicherung nachzugehen. Rumänien hatte den Export von Lebensmitteln nach der Jahreswende 1989 gestoppt. Es gab, zumindest kurzfristig, genug zu essen, zumindest für Begüterte, und mit kleinen finanziellen Mitteln konnten auch Arme verpflegt werden. Die Zukunft aber sah schwieriger aus. Die rumänische Landwirtschaft war bis auf gewisse – ohnehin unrentable – Berggebiete kollektiviert, zusammengefasst in Riesenbetrieben mit studierten Agronomen und einem Heer von Billigarbeitern ohne Wurzeln und Erfahrung in der Landwirtschaft. Die zwangskollektivierten Grundbesitzer wollten nun so rasch wie möglich ihr Land zurück, sei es, um dieses selber zu bewirtschaften, vorübergehend in Pacht abzugeben oder einfach versteppen zu lassen. Eine umfassende und tiefgreifende Strukturänderung stand an, mit der Gefahr von Produktionseinbrüchen, aber auch mit grossen Chancen.
Ein erster Versuch misslang kläglich: In Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirchen in Deutschland wurden Familienpackungen mit Saatgut für Gemüse und auch etwas Blumen zusammengestellt und mit deutschen, ungarischen und rumänischen Beschreibungen an Grund- und Gartenbesitzer verteilt. Im ersten Jahr gedieh manches prächtig, vieles |46| wurde auch geerntet und verzehrt, anderes, weil ungewohnt, stehengelassen. Im nächsten Jahr dann die Katastrophe; die Leute hatten aus den Produkten neue Samen gewonnen, die aber, wie heute üblich und von den Saatgutfirmen gewollt, für eine nächste Pflanzengeneration untauglich waren. Nichts als Enttäuschung.
Ohne diese negativen Erkenntnisse zu kennen, waren wir bereits einen Schritt weiter gegangen. Im Juni 1990 reiste der damalige HEKS-Präsident und Spezialist für landwirtschaftliche Entwicklung, Jörg Wyder, ins Gebiet. Er skizzierte erste Massnahmen zugunsten eines nachhaltigen landwirtschaftlichen Entwicklungsprogramms und so übernahm der Bündner Agronom Leo Meyer, vorgeschlagen durch ihn, die Ausgestaltung und Betreuung dieses Programms. Dies erwies sich als Glücksfall. Leo Meyer hat in wenigen Jahren im Bezirk Covasna ein Landwirtschafts-, Dorfentwicklungs- und KMU-Programm begleitet, das richtungsweisend bis heute werden sollte. Es begann mit einer Dorfbäckerei und einer vorgelagerten Getreidemühle, um so das Monopol der staatlichen Mühle mit der unweigerlich damit verbundenen Korruption zu brechen, sowie mit Kleinkrediten an Bauern für die Beschaffung von Geräten, Maschinen und Tieren. Ab 1991 absolvierten jedes Jahr ein paar Dutzend rumänische Jungbauern, Agronomen oder Veterinäre viermonatige Praktika im Kanton Graubünden. Die Elite der Landbevölkerung lernte dabei neue Produktionsmethoden und Arbeitsmöglichkeiten kennen. Sie setzten diese Erfahrungen bald zuhause um; Käsereien, Metzgereien wurden aufgebaut und Bauernhöfe modernisiert. Die rumänischen Praktikantinnen und Praktikanten wurden nach ihrer Zeit im Bündnerland zu Motoren und Leistungsträgern der ländlichen Entwicklung im Bezirk Covasna.
Zwei wichtige Elemente ergänzten das Programm: Die Unternehmerinnen und Unternehmer in all den verarbeitenden Betrieben sowie die Bauernfamilien brauchten für ihre Investitionen finanzielle Mittel, welche ihnen mittels Krediten zur Verfügung gestellt wurden – keine Geschenke, sondern Geschäftskredite, deren Rückzahlung konsequent eingefordert wurde. Zusätzlich sollte die Schulung und Beratung von Bauern und Kleinunternehmenden nicht mehr allein in der Schweiz, sondern vor allem in Rumänien erfolgen. Eine Stiftung wurde gegründet: LAM – Landwirtschaft, Agricultura, Mésögaszdaság, deutsch, rumänisch, ungarisch – mit Sitz in Ilieni/Illyfalva, dem Dorf des initiativen Pfarrers Béla Kató, der auch Präsident der Stiftung wurde. Leo Meyer und Béla Kató arbeiteten so erfolgreich zusammen, dass wenige Jahre später die DEZA HEKS bat, das in Eigenregie in Reghin, im Nordosten von Târgu Mureş, aufgebaute und wegen personeller Probleme etwas serbelnde Programm der Stiftung FAER zu übernehmen. Es klappte.
Heute sind die Stiftungen in Covasna und Reghin nicht mehr von Hilfe aus der Schweiz abhängig. Sie können grössere Kredite internationaler Organisationen |47| aufnehmen. Tüchtige Mitarbeitende, meist jung und enthusiastisch, realisieren Projekte, sie erwirtschaften bescheidene Gewinne, die für Sozialprojekte – eine Art Spitexdienst der reformierten Diakonie – eingesetzt werden können. Ich denke, wir haben allen Grund bei HEKS, dankbar zu sein für das Gelungene. Nicht Schweizer Tüchtigkeit, nicht Konzepte oder Leitbilder sind dafür entscheidend gewesen, sondern die grosse Fachkompetenz der am Programm Beteiligten aus Rumänien und der Schweiz sowie deren hohe Integrität. Die Programme strauchelten nicht über die landesübliche Praxis von Bestechung und Korruption. Allein ins Programm im Bezirk Covasna sind Millionen Schweizer Franken geflossen, auch Mittel der DEZA und der Glückskette. Hunderte von Bauern und Unternehmer sind unterstützt worden. 20 000 Arbeitsplätze seien dabei geschaffen worden, sagt die heutige Direktorin von LAM. Das ist in einem Bezirk mit rund einer Viertelmillion Einwohnern eine bedeutende Anzahl. Ähnliches lässt sich vom FAER-Programm in und um Reghin sagen. Auch dort wird wieder produziert und Menschen haben Arbeit. Dass durch das Programm auch ein Atelier und eine Fabrik für Saiteninstrumente (in den Wäldern hinter Reghin findet sich das dafür geeignete Holz) ein Startkapital von FAER erhalten haben und dass heute von hier aus Geigen oder Cellos in die ganze Welt exportiert werden, freut mich ganz besonders. Am wichtigsten aber: Menschen haben Arbeit und Würde – ein Traum ist wahr geworden.
Am Beispiel der ersten Bäckerei lässt sich gut aufzeigen, dass es mit Maschinen und Krediten allein nicht getan ist. In Ilieni gab es schon vor den Dezember-Ereignissen eine Verkaufsstelle für Brot. Die Kunden bekamen das von ihnen Gewünschte durch eine kleine Durchreiche in der Wand, welche den Kundenbereich vom Vorratsraum trennte. Niemand konnte sehen, ob es da noch Brot oder andere Backwaren gab oder nicht. Kein Brot heute, sei die häufige Antwort auf die Bitte nach einem Laib Brot gewesen, und erst mit dem Nachschieben von ein paar Münzen konnte dann doch noch etwas gefunden werden – die kleine Korruption der kleinen Leute. In der Bäckerei in Ilieni wurden 1990/91 leistungsfähige Backöfen installiert und zwei tüchtige Pächter als Bäcker gefunden. Vielleicht am wichtigsten aber war, dass die Trennwand herausgeschlagen, eine Ladentheke und Gestelle für alle Backwaren eingebaut wurden, einsehbar für alle Kundinnen und Kunden. Nun gab es immer und ohne Zuschlag genug Brot. Es ist wohl überflüssig zu betonen, dass niemand von uns Schweizern je auf diese Problemlösung gekommen wäre. Die Leute in Ilieni hatten es selber oft genug erlebt – leider kein Brot heute. |48|
Ein Plan wird umgesetzt
Die ganze HEKS-Rumänienarbeit baut letztlich auf der an sich völlig unspektakulären zwischenkirchlichen Hilfe, heute «Kirchliche Zusammenarbeit» auf. Viel war vor 1989/90 meist nicht möglich, aber das wenige wurde getan, längst bevor ich selber meine Arbeit aufnahm: Wiederaufbau von Kirchen nach dem Erdbeben von 1977, Lieferung von Büchern für das Vereinigte Protestantisch-Theologische Institut in Cluj, ein paar Gäste konnten in die Casa Locarno, einem gemeinsam von HEKS und dem Ökumenischen Rat der Kirchen geführten Begegnungshaus im Tessin, eingeladen werden. In den frühen siebziger Jahren studierten ein paar Schweizer Theologen an der Orthodox-Theologischen Fakultät in Bukarest. Vor allem aber besuchten wir immer wieder Gemeinden, Pfarrer und kirchliche Institutionen. Kurz vor der Revolution 1989 konnte sogar nach zähen Verhandlungen mit rumänischen Staatsstellen ein kirchlicher Neubau in Târgu Mureş mit unserer finanziellen Unterstützung errichtet werden, eine richtige Kirche, mit grossem Raum, Turm und Glocken. Ich feierte das als beglückenden Erfolg – zuhause, weil mir das Einreisevisum verweigert worden war.
Ab Dezember 1989 war nun alles ganz anders. Politisch stand nun der Zusammenarbeit nichts mehr im Wege. Wir hatten genügend finanzielle Mittel gesammelt. Seit dem Besuch bei István Juhász 1983 wussten wir ja um die prioritären Projekte der Kirche. Jetzt galt es rasch und entschlossen zu handeln, denn niemand wusste, ob die relative Freiheit auch wirklich hinhalten würde.
Zuoberst auf der Prioritätenliste stand die Ausbildung von kirchlichen Mitarbeitenden, Pfarrerinnen und Pfarrern, Organistinnen und Organisten, Katechetinnen. Nach Jahrzehnten der staatlich verordneten Zulassungsbeschränkungen am Vereinigten Protestantisch-Theologischen Institut in Cluj befanden sich 1990 die protestantischen Kirchen, allen voran die reformierte, in einem eigentlichen Personalnotstand. Dessen Behebung wurde nun durch die Kirche sofort und energisch angepackt. Die Rolle von HEKS bestand vornehmlich in der finanziellen Unterstützung: Es brauchte mehr Hörsäle, eine Mensa mit neuer Küche und vor allem Schlafräume für die vielen neuen Studierenden. Dazu Bücher, Bücher, Bücher, am besten selbst und mithin billig gedruckte: also eine Druckerei. Dieses Unternehmen gelang trotz einiger Fehler. So konnte die Kirche in den neunziger Jahren ihr Personal aufstocken und den Unterricht deutlich verbessern.
Ganz anders die Situation in Ilieni, im Zentrum «unseres» Bezirks Covasna. Hoch über dem Dorf lag weithin sichtbar eine seit dem Erdbeben von 1977 weitgehend verfallende Kirchenburg, eine Ringmauer mit fünf Bastionen und ein zweiter Ring. Die Kirche selber war notdürftig wiederaufgebaut worden. Béla Kató, der Ortspfarrer, gründete in den ersten Monaten des Jahres 1990 ein |49| kleines Bauunternehmen und eine Schreinerei, kaufte bei serbelnden Betrieben gut erhaltene Maschinen zu günstigen Preisen, mietete sich in Liegenschaften ein und sorgte sofort für Bauaufträge. Das rasche Vorgehen bewährte sich, beide Betriebe konnten in den folgenden Jahren rentabel und doch zu günstigen Preisen Neubauten und Renovationen in und um das Dorf übernehmen. Dazu gehörte der Wiederaufbau der für die ungarische Kultur in der Gegend so wichtigen Burganlage. Statt diese aber zum sterilen historischen Denkmal herzurichten, wurde ein integriertes Begegnungshaus aufgebaut: am Fuss des Burghügels ein neues Hauptgebäude mit Zimmern, Tagungsräumen und der notwendigen Infrastruktur und in den fünf renovierten Bastionen auf dem Burghügel Massenlager für Kinder und Jugendliche. Das Zentrum hat bis heute eine grosse Ausstrahlung weit über Dorf und Bezirk hinaus. Zehntausende von Menschen, Verantwortliche in Kirchen und Gesellschaft, Kirchenpflegen, Jungbäuerinnen und Jungbauern, Studierende und Kinder haben sich seit 1992 hier getroffen – ein Ort für die Entwicklung einer neuen Zivilgesellschaft. Später kamen unter anderem Wohnhäuser für Pflegefamilien, ein landwirtschaftlicher Schulungsbetrieb, das lokale Gesundheitszentrum sowie Sitz und Schulräume der Stiftung LAM dazu. Das Tagungszentrum sowie die Wohnhäuser werden seit 1991 durch die eigens gegründete kircheneigene diakonische Stiftung KIDA geführt. Die neunziger Jahre waren in Rumänien geprägt durch eine ausserordentliche Inflation. Dank hoher Fachkompetenz und entschlossenem Vorgehen waren die beiden Stiftungen LAM und KIDA der Teuerung immer ein paar Schritte voraus.
Wieder anders war die Lage in der nahen Grossstadt Braşov. Hier hatte die Verwaltung in den sechziger Jahren einen Stadtteil abgerissen, um ein grosses Hotel in einer schönen Anlage zu erstellen. Zu den zerstörten Gebäuden gehörte die grosse reformierte Stadtkirche, errichtet im 19. Jahrhundert, als Siebenbürgen zu Ungarn gehörte. Mit einem Kirchenneubau, den schon István Juhász in seinem Papier 1983 gefordert hatte, sollte diese historische Ungerechtigkeit endlich ausgeglichen werden. Hier machte sich Miklós Ménessy sofort ans Werk, auch hier liess er so schnell bauen, dass man der Inflation voraus war, und auch hier ging es nicht einfach um einen sakralen Bau: Die Kirche wurde in einer vernünftigen, keineswegs protzigen Architektur erstellt, dafür konnten in einem Anbau zusätzlich Tagungsräume und Gästezimmer eingerichtet werden sowie ein grosser Speisesaal mit Küche. Hier treffen sich die Intellektuellen der Stadt, hier entstand ein Zentrum für Frauenarbeit, Konferenzen werden durchgeführt, Konzerte, kurz: hier formiert und sammelt sich die Zivilgesellschaft und zugleich auch die Kirche der Zukunft.
Die Bauten in Braşov und Ilieni gehörten mit dem Protestantisch-Theologischen Institut in Cluj zu den Projekten, die zwar nach 1989 realisiert werden konnten, die aber bereits früher weit oben auf der Prioritätenliste der Partnerkirche |50| in Rumänien und damit des HEKS standen. Sie alle sind kirchlich eingebunden, wirken aber weit in die Gesellschaft hinein. Die in der kommunistischen Zeit gepflegte Trennung von Kirche und Gesellschaft wurde dadurch etwas überwunden. Unsere Partner waren bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Nochmals in Oradea
Ich habe über unsern Besuch beim damaligen reformierten Bischof in Oradea geschrieben. Acht Jahre später sind wir im gleichen Bischofsamt, diesmal ist es voller Menschen, ein Kommen und Gehen, Französisch, Ungarisch, Englisch. Wir besuchen in diesen frühen neunziger Jahren den neugewählten Bischof László Tőkés, den Helden der Revolution in Timişoara, der mit der Weigerung, seine Pfarrstelle zu verlassen, 1989 die Dezember-Ereignisse ausgelöst hatte. Wir sind mit einer kleinen Gruppe für ein Gespräch bei ihm angemeldet. Vorerst warten wir lang über die vereinbarte Zeit hinaus. Endlich empfängt uns László Tőkés mit sonorer, dennoch merkwürdig kraftloser Stimme. Ein paar Belanglosigkeiten und schon werden wir unterbrochen, weil die Leute vom amerikanischen Sender von vorhin noch eine Frage zu stellen vergessen hätten. Damit sind Rhythmus und Regeln des Gesprächs festgelegt: Wir stellen kaum Fragen, ein Monolog, wobei Tőkés immer wieder bei den Rumänen, ihrer Orthodoxen Kirche landet – leider, leider sei da alles noch im Denken der Voraufklärung verfangen. Dann weitere Gesprächsunterbrüche, einmal braucht es ein paar Weisungen an den Sekretär, dann ein paar Unterschriften, Shakehands, dann wieder ein Kleinstvortrag an uns über Balkan, Rumänen, die Serben und die ungarische Tragödie. Merkwürdig, Herr Bischof schaut an uns vorbei ins Leere. So nehmen wir schliesslich mit Erleichterung wahr, wie es zum Ende des Gesprächs kommt. Tőkés offeriert uns einen bischofsamtlichen Taxidienst ins grenznahe ungarische Bihárkeresztes. Wir nehmen dankbar an. Mit einem seltsam schlaffen Händedruck verabschiedet sich László Tőkés. Habe ich ihm Unrecht getan? Ist er einfach müde, ein erschöpfter Held?
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