Kitabı oku: «Vollmilchschokolade und Todesrosen», sayfa 2
2.
»Da bist du ja endlich, Miriam. Deck schon mal den Tisch, wir essen gleich.«
Ich verziehe das Gesicht und seufze. Da kommt man gerade hundemüde aus der Schule und muss gleich mithelfen. Na toll.
Missmutig knalle ich die Teller hin. Sechs Personen. Ich bin nicht nur mit einem Vater geschlagen, der meistens mittags zu Hause isst, mit einer Mutter, die uns unbedingt gesund ernähren will, sondern auch mit zwei Geschwistern, bei denen es sich mit Abstand um die nervigsten Blagen der Welt handelt. Silas ist neun und hat die dumme Angewohnheit, einen pausenlos vollzuquatschen. Für Tabita mit ihren elf Jahren bin ich leider nicht das große Vorbild – obwohl ich ab und zu versuche, sie dazu zu bringen, dass sie mir gehorcht. Sie denkt jedoch nicht daran. Sie beobachtet mich bloß sehr scharf und ist eine gnadenlose Petze.
Der einzige Lichtblick bei der täglichen Mittagsfolter ist Goliath, ich meine Michael, Papas Praktikant. Er ist lang und dünn, seine Beine passen kaum unter den Tisch, aber irgendwie ist er witzig. Da haben wir schon ganz andere Praktikanten erlebt. Michael kann man auch gut nachmachen. Ich bin inzwischen eine Expertin im Michael-Imitieren.
»Die Messer müssen so liegen, mit dem Scharfen nach innen«, sagt Tabita und vergewissert sich, dass ich auch alles richtig gemacht habe. »Und du hast die Servietten vergessen.«
»Na und? Sonst noch was?«, fahre ich sie an. Ich bin wirklich nicht in bester Stimmung. Der Vorfall nach der Schule geht mir nicht aus dem Kopf. Der kleine Harry oder wie er heißt. Tut er mir leid? Kim würde mit ihrer ätzendsten Stimme sagen: Ach, er tut dir leid, der arme Kleine ... Na so was ... Stimmt, Hendrik war der Name. Aber Harry Potter passt noch besser. Ich bin ganz gut im Erfinden von Spitznamen. Wer braune Haare hat und eine runde Brille, muss sich da echt nicht wundern.
»Na, Miriam, wie war dein Tag?«
Mein Vater poltert herein und wuschelt mir durchs Haar. Ich habe ihm schon tausend Mal gesagt, dass ich das nicht leiden kann, aber es ist zwecklos. Einfach jeder in unserer Familie beharrt auf seinen nervigen Angewohnheiten. Manchmal träume ich davon, Mandys Eltern würden mich adoptieren. Die sind wenigstens cool. Nicht so wie meine. Hände hoch – wer möchte gerne einen Pastor zum Vater? Im Angebot: der wunderbare, unvergleichliche Pastor Manfred Weynard! Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten ... was, wirklich niemand? Die letzte Gelegenheit. Niemand? Ach.
Tja, niemand meldet sich. Ich hätte es auch nicht getan. Aber mich hat ja niemand gefragt, in was für eine Familie ich hineingeboren werden möchte.
»Hi, Miriam.« Michael duckt sich unter der Lampe hindurch. Ein gläsernes Schirmchen hat er bereits auf dem Gewissen. Ich find’s nicht schlimm. Die Lampe ist sowieso potthässlich gewesen, und er ist so süß, wenn ihm etwas peinlich ist. Dann wird er knallrot. Sogar sein Ziegenbärtchen fängt an zu glühen. Sehenswert. Gut, dass ich nicht die Einzige bin, der es so geht. (Aber schlecht, dass das Rotwerden nicht unbedingt aufhört, wenn man erwachsen ist. Das muss doch irgendwann besser werden!)
Wir setzen uns an den Tisch. Silas beginnt mit seinem Redeschwall, Tabita weist mit penetrant lauter Stimme daraufhin, dass ich die Messer falsch hingelegt habe. »Wir beten«, bestimmt mein Vater und spult sein Lieblings-Tischgebet herunter. »Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns gegeben hast. Amen.«
»Es heißt aber eigentlich: was du uns bescheret hast«, verbessert Tabita. »Und Onkel Johannes sagt immer: aus Gnaden. Was du uns aus Gnaden bescheret hast.«
»Onkel Johannes hat ein Motorrad«, weiß Silas und beglückt uns mit seinen Zukunftsplänen, in denen er ein Profi-Motorradfahrer ist. Papa und Michael setzen ein Gespräch fort, das sie im Büro begonnen haben – irgendwas mit dem Gottesdienst am nächsten Sonntag.
Ich konzentriere mich auf meinen Teller und versuche, den Geräuschpegel auszublenden, aber als ich irgendwann doch hochsehe, begegne ich dem Blick meiner Mutter. Sie lächelt.
»Na, Miriam, wie ist es mit der Englisch-Arbeit gelaufen?«
Ich zucke die Achseln. »Geht so.«
»Hattest du nicht geübt?«
»Let’s speak English together«, schlägt Michael vor. »What about an English – äh, Predigt, on Sunday?«
»Sermon«, meint Tabita. »Oh Mann, ich bin erst elf und ich kann besser Englisch als du.«
»Then you may help me.«
»Oh wie schrecklich«, stöhnt sie. »Du bist ein hoffnungsloser Fall, Michi.« Sie ist die Einzige, die ihn Michi nennt. Die meisten anderen finden wohl, dass ein Mann, der zwei Meter misst, auch einen eindrucksvollen Namen verdient.
Aus diesem Grund nenne ich ihn Goliath, wenn er nicht dabei ist.
»Ich kann auch Englisch«, ruft Silas dazwischen und beginnt, alles in seiner Reichweite zu benennen, wobei Tabita ihn ausdauernd verbessert.
Es nützt nichts, schneller zu essen als die anderen. Papa erwartet, dass wir sitzen bleiben, bis alle fertig sind. Danach werde ich dazu verdonnert, die Spülmaschine einzuräumen – warum eigentlich immer ich? Kann mir das jemand mal verraten? –, und dann ist es endlich vorbei.
Mehr oder weniger.
Nicht einmal in meinem Zimmer habe ich wirklich Ruhe. Silas hört Musik, Tabita übt Klarinette, und mein kleines Reich liegt natürlich genau dazwischen. Wieder einmal bereue ich, dass ich mir diesen Raum habe aufschwatzen lassen, nur weil er ein bisschen größer ist als die anderen. Ich hätte lieber die Kammer auf dem Dachboden nehmen sollen, die urgemütlich ist und weit weg vom Rest der Familie. Aber die hat jetzt meine Mutter und benutzt sie für ihr Mittagsschläfchen. Echt ungerecht ist das – schlafen kann man bei mir jedenfalls nicht. Es ist nur zu ertragen, wenn man sich Stöpsel in die Ohren steckt. Mama will nicht, dass ich die benutze – sie meint, man könnte davon schwerhörig werden. Ach ja, Mama mit ihrem Gesundheitsfimmel. Sie ist, wen wundert’s, natürlich auch gegen Handys. Wegen der Strahlung und so. Ich war die Letzte in der Klasse, die eins bekommen hat. Dafür habe ich eins, das wasserdicht ist und als Taschenlampe benutzt werden kann. Papa fragt mich manchmal, ob ich die Kerzen damit anzünden kann oder ob auch eine Nagelfeile dabei ist. Das findet er überaus witzig. Aber man kann mit meinem Handy tatsächlich auch telefonieren.
»Messie? Bist du da?«
»Klaro. – Was?«
Selbst meine Mutter kann nicht verhindern, dass ich mit meinen Freundinnen wichtige Gespräche führe – aber meine Geschwister leider schon. Nicht Handys sind schädlich. Kleine Brüder und Schwestern sind viel gefährlicher für die Gesundheit. Wegen dieser Blagen werde ich irgendwann noch einen Nervenzusammenbruch kriegen. Ich kann Mandy bei dem schrillen Gepiepse, das Tabita mit ihrer Klarinette veranstaltet, kaum verstehen.
»Was? Moment mal.« Ich hämmere gegen die Wand. »Ruhe da! – So, was ist?«
»Wir treffen uns gleich«, sagt Mandy. »Im Park.«
»Ich kann nicht«, gebe ich zu. »Muss noch Hausaufgaben machen.«
»Ich hab meine schon längst fertig.« Das liegt nicht etwa daran, dass sie superschlau ist, sondern dass sie sich ihre Hausaufgaben immer von Steffi machen lässt. Steffi ist die Schnellste von uns vieren, was das Lernen angeht. Kim macht sowieso nie etwas, aber Mandy ist schon einmal sitzengeblieben und will auf keinen Fall, dass das noch mal passiert. Sie will mit mir und Steffi aufs Gymnasium wechseln, nach diesem Schuljahr, und muss dafür einen ordentlichen Abschluss hinlegen.
Natürlich habe ich jetzt ein tierisch schlechtes Gefühl. Wenn Mandy einen dabei haben will, sagt man nicht nein. Man kann ruckzuck wieder unsichtbar werden, wenn man nicht aufpasst. Ich weiß das.
»Wartet ihr auf mich? Ich beeil mich.«
»Tja«, sagt Mandy nur, und das kann ein Ja sein oder ein Nein oder einfach nur: Find’s raus.
Für mich heißt das auf jeden Fall, dass ich mich wirklich beeilen muss.
Tabita hat aufgehört, selber Musik zu machen, doch gerade als ich Gott dafür danken will, dreht sie ihr Radio lauter.
Jetzt reicht es wirklich. Ich stürme aus meinem Zimmer, reiße ihre Tür auf und schreie: »Spinnst du?«
Meine Schwester liegt bäuchlings auf dem Bett und schiebt hastig ein Buch unters Kopfkissen. Als ob ich sie ertappt hätte.
»Kannst du nicht anklopfen? Das macht man eigentlich«, sagt sie mit ihrer Oberlehrerinnenstimme, die mich wie immer zur Weißglut treibt.
Ich schalte das Radio aus und wende mich ihr zu.
»Was liest du da?«
»Nichts. Geht dich nichts an.«
Ihre Nasenspitze beginnt zu glühen. Oh, ich erkenne ein schlechtes Gewissen.
»Was denn?«
Ich schnappe mir das Kissen, in das sie sofort ihre kleinen Hände krallt.
»Hau ab!«
»Das ist aber nicht nett, wie du mit mir sprichst«, sage ich. »Also wirklich, Tabita, wo bleibt deine Höflichkeit?«
Ich werfe mich über sie und ziehe sie von der Matratze auf den Boden, und dann, mit einem Hechtsprung, bin ich selbst auf dem Bett und schleudere das Kissen weg.
Darunter liegt ein ziemlich dickes Buch mit einem Cover in Pastelltönen und dem erstaunlichen Titel: »Das Geheimnis des Grafen.«
»Gib das her!«, kreischt sie.
»Das Geheimnis des Grafen?«, frage ich, immer noch überrascht. Mir wäre nie im Leben in den Sinn gekommen, dass meine kleine Schwester, die allseits korrekte Tabita, Bücher mit solchen Titeln liest. Ich schlage es auf und lese den ersten Satz, auf den mein Blick fällt, laut vor: »Mary schluchzte laut. Der Graf hielt ihr ein seidenes Tüchlein hin, in das sein Wappen und seine Initialen gestickt waren. ›Hier, bitte‹, flüsterte er, und als sie das Tuch nahm, berührten sich ihre Fingerspitzen. – Das ist ja süß.«
»Hör auf zu lachen«, faucht Tabita wütend.
»Du liest Liebesromane? Bist du nicht ein bisschen jung dafür?« Ich halte es hoch, als sie danach greifen will. »Wo hast du das überhaupt her?«
Tabita macht ein finsteres Gesicht.
Ich schlage die erste Seite auf und finde dort nicht etwa den Stempel einer Bücherei. Sondern in feiner Handschrift den Namen: Dorothea Illner. Mamas Mädchennamen.
»Das gehört Mama! Du klaust Mamas Buch?«
»Ich klau sie nicht! Ich – leih sie mir nur aus.«
Ich kann es nicht fassen. Kopfschüttelnd blättere ich weiter. »Sie? Dann gibt es also noch mehr davon? Das wievielte ist es denn? Wo hast du sie her? Aus ihrem Schlafzimmerschrank?«
Meine Schwester starrt mich grimmig an. »Du sagst kein Wort. Wehe!«
»Oh, hier!« Ich kann ein Kichern nicht unterdrücken. »Hier fahren sie mit einer Kutsche durch den Schnee. Wie romantisch! – Der Graf nahm ihre kleine, zarte Hand in seine. Mary wagte kaum, ihn anzusehen. – Warum nicht? Ist er so hässlich? – ›Ich bin von meiner Familie ausgestoßen worden‹, sagte er. ›Ich habe kein Geld. Alle diese Reichtümer gehören gar nicht mir.‹ ›Das macht mir nichts aus‹, hauchte sie.«
Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lachen.
Tödlich beleidigt dreht Tabita sich weg.
»He«, sage ich. »Ich lache nicht über dich. Nur, das ist so – so schrecklich kitschig!«
Tabita setzt sich auf ihr Bett und nimmt ihr Kissen auf den Arm. »Na und!«
»Ist das überhaupt für dein Alter geeignet?«, frage ich. »Was machen die denn, außer Händchenhalten?«
Sie wird dunkelrot und sagt nichts.
Ich blättere mich durch den Roman, aber außer einem glühenden Kuss am Ende scheint nichts zu passieren. Kein Sex. Nur ein paar verschämte Küsschen zwischendurch, vor dem Mega-Wahnsinns-Schlussakkord-Kuss, bei dem Mary dahinschmilzt. Ich gebe meiner tomatenfarbigen Schwester das Buch zurück.
»Wirst du das Mama sagen?«, fragt sie kleinlaut.
»Nein«, sage ich. »Aber damit hab ich jetzt was bei dir gut, ja? Die Musik bleibt aus. Ich muss Hausaufgaben machen.«
Es ist immer von Vorteil, wenn man noch einen Trumpf übrig hat. Gerade bei Tabita, die ständig so tut, als sei sie der heiligste Mensch auf Erden.
3.
Ich bin natürlich spät dran, trotzdem hoffe ich, die anderen sind noch da und haben auf mich gewartet.
Haben sie aber nicht. Die Bank am Park, unser Treffpunkt, ist verlassen. Ich gebe mich nicht der Hoffnung hin, dass meine Freundinnen hier irgendwo in der Nähe sind.
Wohin jetzt? Ich setze mich auf die Lehne, die Füße auf der Sitzfläche, und höre ein bisschen Musik. Gleich wieder nach Hause zu fahren, darauf habe ich wirklich keine Lust. Dabei habe ich mich so beeilt!
»Hi, Messie!«
Steffi bremst ihr Klapprad ab und grinst mich erleichtert an. Sie ist wohl ziemlich schnell gefahren, ihr Gesicht gerötet, Schweißflecken unter den Armen.
»Sind wir zu spät?«
Ich grinse. »Scheint so.« Fast hätte ich ihr erzählt, dass ich noch Silas’ Hausaufgaben nachsehen musste. Alternativ hätte ich auch im Garten Unkraut zupfen können, aber das hätte noch länger gedauert. Silas erledigt seine Aufgaben mindestens so schnell, wie er redet, und meistens ist ungefähr die Hälfte falsch, aber wenn man nur kontrolliert, ob er sie gemacht hat, statt jede Aufgabe einzeln nachzugucken, ist das eine Sache von zehn Minuten. Aber das interessiert Steffi sowieso nicht. Ihr Stiefbruder Chris ist älter als sie, also kann sie sich gar nicht vorstellen, was ich durchmache.
Sie seufzt, lehnt ihr Rad gegen die Bank und setzt sich neben mich.
»Guck nicht so. Die wird schon nicht zusammenkrachen«, fährt sie mich an.
»Das hast du jetzt gesagt.«
Steffi kann es absolut nicht leiden, wenn man Bemerkungen über die Schwerkraft und ihre Folgen macht.
Sie seufzt wieder. »Du weißt, was Mandy vorhat, oder?«
»Klar«, lüge ich, obwohl ich absolut keine Ahnung habe. Es gibt mir einen Stich, dass Steffi da mehr wissen sollte als ich. Nun, immerhin ist sie schon viel länger Mandys Freundin. Die beiden kennen sich noch aus dem Kindergarten. Auf den ersten Blick passen sie überhaupt nicht zusammen. Mandy, so schlank und hübsch und mit diesem Blick, der selbst Lehrer einschüchtert ... und Steffi, die von den Ausmaßen her recht ... gewaltig ist, um es freundlich auszudrücken. Sie ist gar nicht so schrecklich dick, aber da sie sehr groß ist und breite Schultern hat, wirkt sie viel mächtiger und auffälliger, als wenn sie bloß klein und mollig gewesen wäre.
»Sie will rausfinden, wo der Winkelmann wohnt«, erklärt Steffi freundlicherweise. »Er will ihr ’ne Fünf verpassen. Damit kann sie sich zu Hause nicht blicken lassen.«
Den Winkelmann haben wir in Französisch. Mandy hasst dieses Fach. Auch Steffis Hausaufgabenbeistand nützt nichts bei Vokabeltests und Abfragen in der nächsten Stunde.
»Und was will sie machen, wenn sie das rausgefunden hat?«, frage ich.
»Keine Ahnung.« Steffi zuckt die Achseln. »Ein Drohbrief?«
»Dann weiß er doch sofort, dass sie es war. Das wird sie nicht tun.« Ich ziele mit dem Zeigefinger auf Steffis Brust. »Geben Sie mir eine Vier, ich flehe Sie an! Eine Vier, oder ich schieße!«
Steffi runzelt die Stirn und sieht mich streng an. Sie zieht sogar eine Augenbraue halb hoch, wie es Herr Winkelmann auch immer macht. »Oh Mandy, dieser Versuch rührt mich zu Tränen. Der Kampf um eine gute Note soll nicht unbelohnt bleiben. Nur noch dieses eine: Übersetze das Ganze in Französisch.«
»Oh nein!«, schreie ich theatralisch. »Alles, nur nicht das!«
Ich kippe filmreif von der Bank und röchele mein Leben aus.
Jemand klatscht. Ein anderer imitiert Gejohle – leider nicht laut genug, um echt zu klingen. Beschämt rappele ich mich schnell auf.
Wir haben Zuschauer bekommen. Ein paar Jungs, mit denen Mandy früher öfter rumgehangen hat, bevor ich zu ihrer Clique gestoßen bin. Ich kenne sie vom Sehen.
»Hi, Steffi«, sagt der eine. Er hat ein rundes, pickliges Gesicht und streichholzkurze Haare. Ein Typ der Marke »Was bin ich nur für ein cooler Checker«. Er trägt eine kaputte Jeans, die aussieht, als hätte er sie so zerrissen gekauft, ein schwarzes Shirt und eine goldene Kette. Auch seine Schuhe müssen tierisch teuer gewesen sein, soweit ich das beurteilen kann.
Ich hasse Jungs mit Goldkettchen. Irgendwie sehen die immer nach Drogendealern aus.
»He, Basti. Was machst du denn hier?« Steffi verzieht angewidert das Gesicht. »Und wo hast du die Trantüten her?«
Er nickt seinen Kumpels zu. »Ach die, die gab’s im Sonderangebot.«
»So sehen die auch aus«, meint Steffi nicht unfreundlich.
Er bietet uns was zu rauchen an. Ich muss dankend ablehnen.
»Ach«, meint er. »Pastor Weynards Tochter darf nicht, oder wie?«
Wenn ich nicht Steffis Freundin wäre, hätte ich nie im Leben mit diesen Kerlen gesprochen. Sie sehen gefährlich aus, aber eigentlich sind sie ganz nett. Ich will auf keinen Fall, dass sie mich für brav und langweilig halten. Aber was soll ich machen? Wenn ich nach Rauch stinkend heimkomme, ist die Hölle los.
Das sage ich auch so.
»Dann ist die Hölle los. In der Kirche. Kannst du dir das vorstellen?« Das sage ich mit meiner feierlichsten Pastorenstimme. Ich muss nur ein bisschen die Schultern hochziehen und sehe aus wie eine Nonne.
Bastian findet das unglaublich lustig. »Ne, echt? Im Ernst? In der Kirche ist die Hölle los. Ha! Ha! Ha!«
Ich werfe Steffi einen zweifelnden Blick zu. »Ist der noch ganz dicht?«
»Ist eben Basti.«
Wir verbringen einen vergnüglichen Nachmittag mit Bastian und seinen Kumpels. Dabei gewinne ich den Eindruck, dass dieser coole Typ ein bisschen in Steffi verknallt ist.
Steffi, der Fels in der Brandung. Eigentlich kaum zu glauben, aber andererseits – warum nicht? Geschmäcker sind verschieden.
Und dann bekommt die Gruppe Zuwachs. Nach und nach werden es immer mehr, was daran liegt, dass die anderen fast jeden kennen, der hier vorbeikommt. Ich will eigentlich schon nach Hause, als Tom auftaucht. Einfach so. Er begrüßt die Jungs und nickt uns ganz flüchtig zu, und ich denke: Er sieht mich nicht, Mist, aber trotzdem, egal, was soll’s.
Er scheint besonders Bastian ganz gut zu kennen, sie reden und reden, über Musik und Filme und was weiß ich, und ich steh nur dabei und bin glücklich.
Das hier wäre nie, nie im Leben passiert, wenn ich noch unsichtbar wäre. Das weiß ich.
»He, du kannst doch schauspielern«, sagt Basti plötzlich, und ich erschrecke mich so, als er plötzlich auf mich zeigt, dass ich fast hintenüber kippe.
»Was? Äh, wieso?«, stammele ich, als ich merke, dass Tom mich das erste Mal so richtig anschaut, als würde er erst jetzt merken, dass es mich gibt.
»Macht das doch noch mal vor«, meint Basti und grinst Steffi an. Ich wusste doch, er mag sie. »Das mit dem Winkelmann.«
Das finde ich jetzt wirklich peinlich, aber Steffi kennt da nix und spielt ihre Rolle, so wie wir es vorhin gemacht haben, und da denke ich: Mensch, Messie, hab dich nicht so. Du bist nicht schüchtern. Du hast keine Angst, vor niemandem. Du bist nicht mehr unsichtbar.
Und da spiele ich mit und vergesse einfach, wer alles zuschaut. Wir übertreiben noch viel mehr als vorhin, und bauen noch ein paar Lehrer mit Wiedererkennungswert ein, und dass die Jungs lachen, schmeichelt mir gewaltig. Ich werfe Tom einen vorsichtigen Blick zu, als ich aufstehe. Er lacht nicht so laut wie die anderen, aber er lächelt, und seine Augen sind so schön, dass ich heulen könnte.
»Du könntest echt im Fernsehen auftreten«, meint Basti, und auf einmal dreht er sich um und sagt: »Oh, oh.«
Denn da kommt Mandy.
Tom verliert sein Lächeln. Nun sieht er vorsichtig aus, als würde ein Hund auf uns zustürmen, der vielleicht bissig ist. Und da denke ich: Ob er sie wohl immer noch liebt? Aber wie gute Freunde kommen sie mir nicht vor, obwohl Mandy zu strahlen beginnt, als wäre sie radioaktiv.
»He, Mädels, was ist denn hier los?«
Ich glaube, Mandy kann es nicht so gut haben, dass wir uns auch ohne sie amüsieren, denn sie zieht sofort die Aufmerksamkeit auf sich und redet noch viel lauter und schneller als sonst und wedelt mit den Händen, fast wie Frau Doggermann.
Ich komme in Versuchung, Mandy nachzumachen, aber das würde sie mir nie verzeihen, also lasse ich es. Aber mein Blick schweift über die anderen und da merke ich, dass Tom sich heimlich verzogen hat. Er ist schon da hinten zwischen den Bäumen, ich sehe nur noch seinen Rücken, und er geht schnell, als könnte er gar nicht rasch genug von hier wegkommen.
Später schlendern wir zu zweit durch die Straßen. Steffi ist schon gefahren, aber ich schiebe mein Rad, weil Mandy zu Fuß ist. Es wird schon dunkel und ich müsste längst zu Hause sein, aber es ist warm draußen und die Luft riecht nach Sommer, und oben auf den Dächern flötet eine Amsel. Ich bin so verliebt, dass ich kaum atmen kann.
»Du, Mandy«, sage ich und nehme dabei all meinen Mut zusammen. Ich hoffe, dass meine Stimme nicht zittert, aber es klingt gar nicht so schlimm, wie ich mich fühle. »Was ist eigentlich mit dir und Tom? Er fährt immer noch ab auf dich, oder?«
»Hey«, sagt Mandy und bleibt stehen. Sie lacht leise. »Du bist doch wohl nicht in ihn verknallt?«
Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Mädchen nicht in Tom verknallt ist, aber das sage ich natürlich nicht.
»Vergiss es«, meint sie. »Das ist voll der Loser. Er sieht zwar ganz gut aus und all das, aber – ich meine, im Grunde kommt es darauf gar nicht an.«
Sie wirkt nachdenklich, und während die Amsel sich die Seele aus der Brust singt, sieht Mandy auf einmal nicht mehr wie die absolute Gewinnerin aus, die sie sonst immer ist, sondern traurig.
»Vergiss Tom«, sagt sie noch einmal.
»Warum hast du Schluss gemacht?«, frage ich trotzdem, obwohl ich fühle, dass sie nicht darüber reden möchte. Dass es ihr wehtut. Aber mir tut es auch weh. Ich möchte nicht aufhören, von ihm zu träumen. Ich möchte auf keinen Fall, dass sich das vielleicht gar nicht lohnt. »Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst«, füge ich schnell hinzu, denn ihr Gesicht sieht so still und jung aus, und mir fällt ein, dass sie nur ein Jahr älter ist als ich. Dabei kommt sie mir die meiste Zeit viel erwachsener vor als wir anderen.
»Der ist nichts für dich«, sagt Mandy streng, und jetzt bin ich auch traurig, weil sie es ist und weil ich damit angefangen habe und weil ich doch wissen muss, was mit Tom los ist, und weil ich ihre Freundin bin und sie mir nicht so sehr vertraut, dass sie mir alles anvertraut. Aus allen diesen Gründen bin ich traurig und dieser Sommerabend im August kommt mir vor wie ein Schauspiel, das die Natur für uns aufführt, sodass man für eine Weile glaubt, dass die Welt schön ist und voller Liebe und dass Träume in Erfüllung gehen können. Ich weiß plötzlich, dass dies der schönste Sommer meines Lebens ist, und das ist mehr, als ich ertragen kann. Tja, manchmal habe ich solche Anwandlungen.
Wenn ich ein Gedicht darüber schreibe, geht es mir besser. Meistens jedenfalls.
Mandy seufzt, und einen Moment lang bin ich mit ihr zusammen über Tom enttäuscht. Sie ist so hübsch und liebenswert und es ist kaum zu fassen, dass ein Junge ein solch tolles Mädchen gehen lässt. Ein paar Meter lang bin ich für sie traurig und nicht für mich, und ich wünsche ihr, sie wäre noch mit ihm zusammen. Obwohl es ja trotz allem ein Glücksfall für mich ist, dass sie es nicht ist.
Wir kommen am italienischen Eiscafé vorbei, wo immer noch Leute sitzen und Lärm machen. Der Abend ist zu schön, um laut zu sein. Ich will eigentlich nur ganz still dasitzen und horchen und die Luft einatmen, die nach Straße riecht, nach Staub und nach Blumen, aber Mandy ist schon wieder munter und man sieht ihrem Gesicht nicht mehr an, dass sie eben noch traurig war.
»He, frag mich, worauf ich Appetit habe.«
»Erdbeereis«, sage ich, denn das ist es, was mir gerade so einfällt.
Sie grinst. »Stell dein Fahrrad ab. Da ist noch ein Tisch frei.«
Wir setzen uns und ich denke daran, dass ich zu Hause anrufen müsste, um Bescheid zu sagen, dass ich mich verspäte. Aber dann würde Mama sagen: Kommt gar nicht in Frage, morgen ist Schule, du bist in fünf Minuten da, kapiert? Und weil ich das nicht will, rufe ich lieber gar nicht an.
Hier zu sitzen und mit Mandy Eis zu essen, so was habe ich früher nie getan. Als ich noch unsichtbar war. Ich war eigentlich meistens zu Hause in meinem Zimmer und habe mich gelangweilt. Habe Musik gehört und Gedichte geschrieben und mich mit Tabita gestritten.
»Weißt du was, Messie«, sagt Mandy und taucht den Löffel in die Sahne, »so müsste das Leben immer sein.«
»Finde ich auch«, sage ich. Dies ist eindeutig der schönste Sommer meines Lebens. Ich werde ihn genießen, solange er dauert, das verspreche ich.
»Guck mal, wie die dort isst, mit dem Kinn fast im Teller.« Sie beginnt glucksend zu kichern. Also mache ich die Frau am Nebentisch nach, und Mandy filmt heimlich mit ihrem Handy erst sie und dann mich, damit ich sehen kann, wie gut ich das hinbekomme.
»Jetzt du«, sage ich. »Das Paar dort hinten an der Scheibe. Kannst du so sitzen wie der Typ?«
Unsere Freundschaft ist noch nicht so weit, dass ich Mandy sagen kann, was sie tun soll. Das heißt, früher hätte ich mich das nicht getraut. Aber heute, nach unserem Gespräch über Tom, ist es irgendwie anders. Jetzt bin ich schon eine Stufe weiter. Deshalb schlage ich das vor und sie lacht und sagt: »Du, das kann ich nicht«, aber dann macht sie es doch und hängt so im Plastikstuhl wie der Eisesser da hinten, die Arme über die Lehne, den Kopf nach hinten, als würde er gleich einschlafen. Wir lachen uns halbtot, aber so unterdrückt, dass nicht alle hersehen.
Ich filme Mandy und zeig es ihr und sie lacht. Ja, sie kann auch über sich lachen.
»Mit dir macht alles so viel Spaß«, sagt sie zu mir. »Und dabei dachte ich, als ich in eure Klasse gekommen bin, dass mit dir nichts los ist. Noch so eine fromme Spinnerin, hab ich gedacht.«
Autsch. »Ich kann doch nichts dafür, was mein Vater für einen Beruf hat«, sage ich.
Sie lächelt entschuldigend. Nein, sie lächelt gar nicht mich an. Sondern den jungen Mann am Nebentisch, der dort mit seiner Freundin Eis schleckt. Seine Begleitung ist hübsch, aber natürlich nicht so hübsch wie Mandy.
»Ich finde es ganz okay, dass du eher ruhig bist«, meint Mandy. »Bei Kim muss immer was los sein, das nervt manchmal echt.«
Nochmals autsch. Ich hasse es, wenn man mir sagt, dass ich ruhig bin. Ich meine, was soll das bedeuten? Dass ich unsichtbar bin, obwohl ich mich doch so anstrenge, es nicht zu sein? Dass ich wenig spreche? Das stimmt gar nicht. Manchmal habe ich mir die Mühe gemacht und extra gezählt, wie viel die anderen sagen und wie viel ich sage. Ich liege da eigentlich ganz gut im Mittelfeld. Man muss ja nicht pausenlos quatschen, oder? Deswegen weiß ich immer noch nicht, was es heißen soll, dass ich angeblich ruhig bin. Ich hasse es! Weil es einfach nicht stimmt. In mir ist immer jede Menge los. Wenn ich alles sagen würde, was ich denke – dann müssten sich die anderen wohl die Ohren zuhalten.
»Ich find’s gut«, sagt Mandy. »Du wirkst so harmlos, aber du hast es faustdick hinter den Ohren.«
Weil es so nett klingt, weiß ich nicht, ob ich mich ärgern soll oder nicht. Ja, es ärgert mich, weil ich es SCHON IMMER schrecklich fand, wenn jemand das sagt. Harmlos und ruhig. Brav. Die fromme Pastorentochter. Und doch – bei ihr klingt es irgendwie anders. Und ich bin hier, mit ihr, und es wird dunkel und ich bin glücklich.
»He«, sagt Mandy und beugt sich vor. »Siehst du das?«
Da geht der Winkelmann, mit einer Frau im Arm. Schlendert an den Tischen vorbei.
»Schnell«, zischt Mandy, »mach ein Foto. Los!«
Ich habe mein Handy noch in der Hand, deshalb ist das kein Problem. Ich fotografiere die zwei, die schon im nächsten Moment an uns vorüber sind.
»Schick es mir«, sagt Mandy. Sie ist ganz aufgeregt. Versonnen betrachtet sie das Bild.
»Jetzt bekomme ich die Qualifikation fürs Gymnasium«, sagt sie. »Meine Franze-Note ist gerettet.«
»Warum?«, frage ich. »Weil du ein Foto vom Winkelmann hast?«
»Besser«, meint sie und grinst. »Ein Foto von ihm mit seiner Freundin.«
»Und?« Ich bin nicht schwer von Begriff, aber bei mir ist der Groschen immer noch nicht gefallen.
»Er ist verheiratet«, sagt sie. »Wusstest du das nicht?«
»Vielleicht war das seine Frau?«, vermute ich. Ich schau mir das Bild noch mal an. Die Blondine, die da am Arm unseres Lehrers hängt, ist ziemlich jung. »Oder seine Tochter?«
Mandy ist glücklicher und aufgeregter, als ich sie je erlebt habe. »Ich weiß, wie seine Frau aussieht.« Sie strahlt über beide Ohren. »Und seine Tochter ist neun oder zehn. Das ist definitiv seine Freundin. Ha, erwischt!«
»Was hast du denn jetzt vor?«, frage ich.
Definitiv die falsche Frage. Sie schaut mich an, als wäre ich vollkommen blöd.
»Ja, was wohl?«, fragt sie zurück. Ein bisschen schroff. Doch sofort wird ihr Lächeln wieder weich. »Das war ein echter Glückstreffer«, meint sie. »Ich glaube, du bringst mir Glück, Messie.«
Ich habe euch zusammen gesehen. Wie zufrieden du bist, wie laut du lachst.
Manchmal wünsche ich mir, ich könnte auch so lachen. Aber ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Ich habe es versucht, doch leider funktioniert es nicht. Eine Kleinigkeit, würdest du sagen. Du würdest es nicht verstehen.
Solche wie du verstehen gar nichts.
Eine Kleinigkeit? Aber für mich ist es das nicht. Es ist mein ganzes Leben, kapierst du das nicht?
Und wenn ich dein Leben nehme und in den Staub trete? Was sagst du dann? Wenn wir den Spieß einmal umdrehen? Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn du tot wärst.
Ich sehe auf dich herunter und das Lachen ist dir endlich vergangen. Dein Gesicht ist still und friedlich. Weiß und reglos.