Kitabı oku: «Vollmilchschokolade und Todesrosen», sayfa 3
Das tut irgendwie gut.
Webhexe, Blogeintrag vom 16. August
4.
Leute, die man kennt, sehen immer irgendwie anders aus als die Leute, die einem fremd sind.
Wie ich das meine? Ich könnte zum Beispiel gar nicht sagen, ob meine Schwester Tabita hübsch ist. Weil ich sie täglich sehe. Oder wie mein eigenes Gesicht auf andere wirkt – keine Ahnung. Wenn ich es auf einem Foto sehen würde und für einen Moment vergessen könnte, wer das ist – ja, dann könnte ich vielleicht beurteilen, ob ich attraktiv bin oder nicht.
Manchmal versuche ich, mich mit fremden Augen zu sehen. Aber so richtig gelingt mir das nie. Mir fällt dann bloß auf, was peinlich ist. Es muss nur ein ganz kleiner Pickel sein, aber ich stelle mir vor, dass alle nur darauf starren.
Unsinn, ich weiß.
Aber so bin ich nun mal. Sobald ich jemanden kenne, ist er nicht mehr hübsch oder hässlich, sondern einfach nur normal. Außer Tom natürlich. Aber den kenne ich ja auch nicht richtig. Ich sehe ihn immer nur von weitem und er sieht gleichbleibend umwerfend aus. Im Vergleich mit Tom kommen mir alle anderen Jungs einfach nur langweilig und uninteressant vor.
Bis dieser recht große, blonde Junge über unseren Schulhof marschiert.
Wir sind eine große Schule und der Hof wird auch vom Gymnasium und der Hauptschule benutzt. Man kann gar nicht alle kennen, aber die meisten sind einem vom Sehen her vertraut. Da gibt es keinen Zweifel: Wir sind uns sofort alle einig, dass dieser Blonde neu ist.
»Den habe ich ja noch nie hier gesehen.« Kim zieht die Stirn kraus. »Gehört der zu uns oder zum Gymnasium?«
Wir sehen ihm nach, wie er sich durch die Massen an Schülern schiebt.
»Gymnasium«, meint Steffi und seufzt. »Bestimmt. Wir gehen immer leer aus.«
»Der ist sowieso zu alt, um noch auf die Realschule zu gehen«, finde ich. »Bestimmt ist er in der Oberstufe.«
»Mr. Right«, schmachtet Steffi. »Endlich mal einer, der groß genug ist für mich. Herrje, es geschehen noch Wunder. Ich danke dir, lieber Gott!«
»Ein paar Schuhnummern zu groß für dich«, sagt Kim, ohne irgendjemand Bestimmtes anzusprechen. Vermutlich meint sie mich. Wie gemein. Ob jemand von uns sein Typ ist, kann man ja nicht wissen. Wenn der Blonde zwei, drei Jahre älter ist als wir, sind wir ihm wahrscheinlich zu jung. Aber auch das ist schließlich bloß eine Vermutung.
»He!« Ich beschließe, mich zu wehren. Kim ist nicht immer die Netteste; wenn man nicht aufpasst, bekommt man von ihr so einiges ab. Verbal zurückschlagen ist gefährlich, denn sie hat recht wenig Humor. Doch wenn man alles einsteckt, verliert sie jeden Respekt vor einem und hört gar nicht mehr auf. »Wer sagt das? Du willst ihn wohl für dich, wie?«
»Ach Messie, an den traust du dich ja doch nicht heran«, meint sie.
»Du wirst ja sehen«, sage ich.
»So wie bei Tom?«
Dazu schweige ich. Trotz aller ihrer Sticheleien habe ich es immer noch nicht fertig gebracht, auch nur ein einziges Wort zu ihm zu sagen. Kein Wunder, dass Kim glaubt, ich wäre generell zu feige, um mit Jungs zu sprechen. Sie ist nicht dabei gewesen, als Steffi und ich herumgealbert haben. Kim würde mir das gar nicht zutrauen. Sie denkt pausenlos, ich wäre zu feige für alles und jedes. Das bin ich nicht! Nur bei Tom – das ist etwas anderes. Eine Abfuhr von Tom würde ich nicht so schnell verkraften. Bei Tom bekomme ich weiche Knie. Solange er nichts davon weiß, kann ich wenigstens ungestört von ihm träumen. Mandy hat mich zwar gewarnt, aber Träume sind hartnäckig und lassen sich nicht einfach abstellen.
Und manchmal sind Träume eben doch ein guter Ersatz für die harte Wirklichkeit, die einen unweigerlich einholen wird. Ich bin sechzehn und kein Kind mehr. Dass sie einem einreden, man könnte alle seine Träume verwirklichen, wenn man nur fest genug daran glaubt – tja, mit mir nicht.
Die Welt ist viel dunkler und geheimnisvoller als das. Und es gibt keine Macht, die einen auf einen Schlitten setzt und durch den Schnee zieht.
Manchmal stelle ich mir vor, wie das wäre. Man sitzt also auf dem Schlitten und Gott, eine Papafigur mit weißem Bart, eingehüllt in einen dicken Mantel mit Pelzkragen und einer russischen Pelzmütze, zieht einen durchs Leben.
Und wenn man während der Fahrt aufsteht, fällt man mit dem Gesicht in den Schnee. Weich.
Das ist das, was Papa sonntags predigt. Dass wir schon mal fallen, aber nie tiefer als in Gottes Hand.
Woher will er das wissen? Es klingt gut, aber wenn ich mir vorstelle, dass ich falle, ist da gar nichts. Nur kalter Schnee, als würde man von einer Horde johlender Jungs über den Schulhof gejagt und eingeseift.
Man weint. Und die Lehrer kümmert es nicht. Für die Lehrer ist man unsichtbar.
So ist das Leben.
Jedenfalls kommt es mir meistens so vor.
»Aber du hast ja himmlischen Beistand«, spottet Kim und grinst. Kim, die einen Kopf kleiner ist als ich und trotzdem so stark, dass sich kein Junge an sie herantraut. Bestimmt haben sie alle Angst davor, ihr Exfreund zu sein.
Außerdem kann man bei ihr für einen dummen Anmachspruch buchstäblich eins auf die Schnauze bekommen.
»Gilt das auch für mich?«, fragt Steffi lauernd. Sie ist ja, wie gesagt, besonders empfindlich, was Bemerkungen über ihr Äußeres angeht. »Glaubst du, ich brauche himmlischen Beistand?«
Kim lacht bloß. »Jetzt bin ich aber gespannt, wer schneller ist, Mädels.«
Kim tut immer so, als würde ihr überhaupt niemand gefallen, dabei weiß ich genau, dass das nicht stimmt. Sie hat mir einmal anvertraut, dass sie heimlich Schlager hört. Deutsche Liebeslieder, bei denen sie den Text mitsingt. Ich ziehe sie natürlich nicht damit auf. Sie kann boxen, das vergesse ich nie.
»In der Mensa könnt ihr euch ja auf ihn stürzen«, sagt Mandy trocken. Mandy, die in letzter Zeit auffällig wenig sagt. Geht es ihr nicht gut?
Manchmal denke ich, ich sollte nicht so genau hinsehen. Das Leben ist leichter, wenn man nicht so viel sieht. Wenn man Scheuklappen anlegt und einfach losmarschiert. Sonst kommt man nie irgendwo hin.
Die Pausenglocke ruft uns zurück ins Klassenzimmer, und ich habe den hübschen Neuen eigentlich schon wieder vergessen. Bis er in der Mensa plötzlich vor mir steht. Wie immer ist dort ein einziges Gedränge und Geschiebe. Der Lärm könnte von einem Rudel Löwen stammen, die in eine schmerzhafte Falle geraten sind. Zusätzlich, überlege ich, hat man ein Dutzend Affen in die Grube geworfen, die keine Lust haben, als Löwenfutter zu enden, aber auch nicht die steilen Wände hochkommen. Und als Gratis-Dreingabe noch ein paar an den Schwänzen zusammengebundene Katzen und Hunde.
So in etwa. Jedenfalls verursacht mir das Getöse Kopfschmerzen, und ich habe keine Lust, mich wie meine Freundinnen in der Schlange für Spaghetti Bolognese anzustellen. Da ich mir nur einen Salat genommen habe, suche ich schon nach einem Tisch mit vier freien Plätzen. Da hinten ist alles besetzt. Die Gänse-Clique labt sich an Salat ohne Öl. Typisch. Lisa-Marie sieht halb verhungert aus. Gut, ich werde zwar auch bloß einen Salat essen, aber wenigstens mit einer richtigen Soße. Ohne ist es nur Grünzeug und schmeckt nach nix. Aber ich habe auch nicht vor, Kalorienzählen und Diättipps zu meinem einzigen Gesprächsthema zu machen.
»Na, hast du dich verirrt?«, fragt Lisa-Marie höhnisch.
Zu denen setze ich mich bestimmt nicht. Ich drehe mich um und da taucht der Neue plötzlich auf. Aus der Nähe besehen ist er – und das kommt echt selten vor, glaube ich – sogar noch attraktiver. Und jünger. Viel älter als ich kann er eigentlich nicht sein. Seine Augen sind graublau. Oder doch eher blau?
Warum schaue ich ihn überhaupt an? Um es Steffi nachher zu erzählen? Um Kim zu beweisen, dass ich keine Angst habe? Ich habe sowieso nicht vor, ihn anzusprechen. Nicht im Traum.
Zu dumm, dass ich in Tom verliebt bin, denke ich. Der hier könnte mir auch gefallen.
»Miriam? Ich hab ja gleich gewusst, dass du es bist.«
Meint er mich? Hat er gesprochen, Mr. Traumprinz? Ich starre ihn an und merke, wie ich rot werde. Vor Schreck. Was fällt diesem Typen ein, mich zu kennen?
»Äh ...?«, mache ich hilflos und versuche, irgendetwas Bekanntes an ihm zu entdecken.
»Daniel«, stellt er sich freundlich vor und grinst. In seinen Wangen erscheinen kleine Grübchen. Ich starre ihn hingerissen und vermutlich reichlich blöde an und kapiere immer noch nichts. »Daniel Hartmann. Weißt du nicht mehr, wir waren im Kindergottesdienst in derselben Gruppe. Und haben uns nach Kräften geärgert.«
Ich forsche in meinem Gedächtnis nach einem Daniel, der mich vor vielen Jahren geärgert haben könnte, und finde einen blonden, verstrubbelten Zehnjährigen, der nicht stillsitzen konnte und die nervöse Kinderstundentante, die uns biblische Geschichten erzählen wollte, regelmäßig in den Wahnsinn trieb.
»Der Daniel? Du hast deine Kaugummis in meine Haare geklebt!«, stammele ich. »Du warst das? Ich meine, du bist das?«
»Daran erinnerst du dich noch?« Er lächelt. »Und ich habe gehofft, meine Schandtaten wären in Vergessenheit geraten.«
»Du hast immer am meisten Bibelverse auswendig gekonnt und die Belohnung gekriegt – die ich haben wollte!«
Dieses Lächeln. Wie kann aus einem unausstehlichen Bengel so etwas werden – wie das da? Ich bin damals wirklich froh gewesen, als seine Familie weggezogen ist, und habe ihn keine Sekunde vermisst.
»Wenigstens konnte ich sie wirklich auswendig. Du hast dir den Vers in die Hand geschrieben und abgelesen.«
Er ist es wirklich. Ich kenne ihn von früher. Und – es ist merkwürdig, aber ich habe ja erzählt, wie es mit mir und Gesichtern funktioniert – sobald ich weiß, dass ich ihn kenne, ist er auf einmal gar nicht mehr so attraktiv. Er ist immer noch blond und groß und an seinem Lächeln hat sich nichts geändert. Aber schlagartig hört er auf, sexy zu sein.
So ist das bei mir. Manchmal habe ich Angst, was passiert, wenn ich Tom jemals besser kennenlerne. Werde ich dann auch aufhören, ihn attraktiv zu finden, und er wird ganz normal und durchschnittlich auf mich wirken?
»Also dann, wir sehen uns«, sagt Daniel und verschwindet in der Menge.
Mit ihren Tabletts in den Händen erscheinen meine Freundinnen. Sie sehen an mir hoch und runter, als hätte ich mich in der Zwischenzeit in ein Gespenst oder sonst etwas Unheimliches verwandelt.
»Du baggerst Mr. Hübsch und Blond an?«, fragt Kim fassungslos.
»Ich dachte, du bist unsterblich in Tom verliebt«, rügt Steffi streng.
»Bitteschön, du kannst ihn haben«, sage ich. »Er heißt Daniel.«
»Hast du ihn auch nach seiner Handynummer gefragt?«
Ich könnte es ihnen erzählen. Dass ich ihn von früher kenne. Dass er mich angesprochen hat und nicht ich ihn. Aber eigentlich gefällt es mir ziemlich gut, wenn sie mich für mutiger halten, als ich bin. Manchmal finde ich es ganz schön schwer, mit ihnen mitzuhalten. Da muss ich ja nicht herausposaunen, dass dieser Daniel mir vor ein paar Jahren Kaugummi in die Haare geklebt hat. Meine Mutter hat es herausschneiden müssen und es hat zig Monate gedauert, bis die Strähne nachgewachsen ist.
»Bitteschön«, wiederhole ich, während ich mich zu einem Tisch durchschiebe, an dem gerade ein paar Plätze frei werden, »tu dir keinen Zwang an.«
In der Klasse spricht Steffi von nichts anderem als dem schönen Blonden. Sie geht einem geradezu auf die Nerven damit und kritzelt seinen Namen auf die Tischplatte, mit tausend Kringeln und Herzchen und so. DANIEL. Ich könnte ihr seinen Nachnamen verraten, mache ich aber nicht.
Herzchen. Kringel. Herzchen. Kringel. Schleife.
»Muss das sein?«, fragt Mandy genervt.
Ich entdecke einen Radiergummi auf dem Boden und bringe ihn sofort zum Einsatz, obwohl Steffi mitleiderregend seufzt. Aber Herzchen auf dem Tisch? Ich bin ja durchaus romantisch veranlagt, aber das geht zu weit. Obwohl ich es vielleicht auch übertreibe, was Tom angeht – meine Gedichtmappe ist ebenfalls von oben bis unten verziert -, lasse ich die anderen wenigstens nicht mitleiden. So etwas würde ich nie tun.
Der Lehrer vorne erzählt irgendwas und ich schweife in Gedanken ab und ertappe mich dabei, dass ich ein Gesicht auf den Heftrand zeichne. Allerdings kann ich nicht besonders gut zeichnen und man erkennt nicht, wer es sein soll.
Ein Glück.
Nach einem anstrengenden Sportprogramm will ich nach Hause fahren und muss feststellen, dass meine Reifen platt sind. Lernt dieser miese kleine Hendrik denn gar nichts? Und dabei habe ich ihn heute und gestern und überhaupt seit wer weiß wie vielen Tagen verschont! Weil ich es vergessen habe. Vielleicht auch, weil ich es vergessen wollte. Das habe ich jetzt davon!
»Ich habe eine Pumpe«, sagt Steffi. Aber die nützt mir nichts. Der Reifen ist zerstochen. Auch das noch. Wie kann er es wagen! Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu schieben. Hundemüde und viel zu spät komme ich zu Hause an und lande wie immer in einem Tollhaus, wo sämtliche Geschwister herumschreien und Lärm machen. Es hört sich an, als wären es zehn Kinder und nicht zwei.
Ich überlege, ob ich Tabita mit ein paar dezenten Andeutungen über ihre Lesegewohnheiten erschrecken soll, entscheide mich aber dagegen. Das spare ich mir lieber für eine Situation auf, in der es nützlicher ist. Ich verkrümele mich in mein Zimmer, doch der Hunger treibt mich in die Küche. Der Salat ist wohl doch etwas wenig gewesen. Ich habe mir vorgenommen, etwas abzunehmen, um vielleicht so Gnade vor Toms Augen zu finden. Nur ein oder zwei Kilo, mehr nicht.
Meine Mutter putzt gerade das Küchenfenster und singt dabei. Ich kann mir eigentlich keinen Grund vorstellen, warum man beim Putzen singen sollte. Außer vielleicht, man ist verliebt. Aber bitte, sie und Papa sind seit achtzehn Jahren oder so verheiratet. Ihre Ehe ist quasi volljährig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir nach einer solchen Ewigkeit noch zum Singen zumute wäre.
»Ach, Miriam«, sagt sie. »Du erinnerst dich doch noch an die Hartmanns aus unserer Gemeinde? Die sind wieder da.«
Erzähl mir was, was ich noch nicht weiß.
»Ach«, meine ich.
»Du weißt doch noch, dieser Junge mit dem Kaugummi?«
»Wie könnte ich das jemals vergessen«, knurre ich, während ich den Kühlschrank nach einer essbaren Jogurtsorte durchsuche. Blaubeere? Pfirsich-Maracuja? Gibt es keinen Schokoladenjogurt? Ich beschließe, mir einen Toast zu machen.
»Also, die sind wieder zurück. Dietmar wurde versetzt. Die Firma hat den anderen Standort wieder dichtgemacht.«
»Aha«, sage ich.
»Die Tochter macht zurzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr, frag mich nicht wo.«
Als wenn ich das vorgehabt hätte.
»Und der Junge ... Mist, jetzt habe ich vergessen, wie er heißt.«
»Daniel«, werfe ich hilfsbereit ein.
»Stimmt. Daniel. Den wirst du ja dann heute Abend im Life and Hope treffen. Du gehst doch hin?«
»Ich bin so müde. Ich hab echt keine Lust auf so eine langweilige Jugendgruppe. Ich wollte mich eigentlich mit Mandy und den anderen Mädels treffen.«
»Langweilige Jugendgruppe?« Sie zieht die Brauen hoch. »Du überraschst mich, Miriam. Das wird bestimmt spannend.«
Meine Mutter kann sich nicht vorstellen, wie man eine kirchliche Jugendgruppe langweilig finden könnte. Dass Goliath, der Englisch-Checker, die Gruppe »Life and Hope« genannt hat, ändert nichts daran, dass man herumhockt, zu Gitarrengeklimpere öde Lieder singt und sich eine staubtrockene Bibelarbeit anhören muss.
Es ist mir schon mehrmals gelungen, nicht hinzugehen, indem ich Müdigkeit und schulische Überarbeitung vorgeschützt habe. Doch bei einem Pastor als Vater wird von einem erwartet, dass man dabei ist, und wenn ich keinen Ärger haben will, kann ich die Life and Hope-Folter nicht zu oft ausfallen lassen.
Manchmal überlege ich, wie es wohl ankommen würde, wenn ich hingehe und zu allem und jedem meine ehrliche Meinung sagen würde. Nicht nur irgendwas, weil es grad passt. Sondern wirklich das, was mir auf der Seele brennt.
Woher wollt ihr wissen, dass es Gott wirklich gibt? Und wenn, dass er so ist, wie ihr ihn euch vorstellt? Glaubt ihr wirklich, er ist der Weihnachtsmann, der eure Gebete um gutes Wetter erhört, und dass ihr mit göttlicher Hilfe eine Zwei schreibt?
Wie das ankommen würde? Nicht so gut. Also lasse ich es. Manchmal stauen sich die frechen Fragen, die ich ungesagt herunterschlucke, so an, dass ich mir wie ein Staudamm vorkomme, der jede Sekunde bersten könnte.
WOHER WISST IHR DAS?
Ich frage es nicht. Denn dann kämen alle anderen Fragen sofort hinterher. Etwas Schlimmeres kann gar nicht passieren.
Fragen-Hochwasser. Eine richtige Fragen-Überschwemmung. Und alle ihre vorgefertigten Antworten würden weggeschwemmt werden.
Habe ich Angst davor?
Vielleicht habe ich ja auch bloß Mitleid.
Ich streiche mir dick Sandwich-Creme auf mein Toastbrot und versuche, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich meine alte Kindergottesdienst-Bekanntschaft möglicherweise heute dort treffe. Ändert das etwas?
»Ich habe Mandy versprochen ...«, fange ich an, aber auf die Schnelle fällt mir nicht ein, was ich ihr versprochen haben könnte.
Meine Mutter wringt ihren Putzlappen aus.
»Das kannst du auch ein anderes Mal. Der kleine Daniel freut sich bestimmt, ein bekanntes Gesicht zu sehen.«
Der kleine Daniel? Sie hat ja keine Ahnung, wie er jetzt aussieht. Einen Kopf größer als ich! Und dabei ist er erst – sechzehn? Siebzehn? Ich bin mir nicht sicher. Ist er ein Jahr älter als ich? Oder nur ein paar Monate? Für meine Mutter ist er immer noch der kleine Junge, der so frech gegrinst hat. Wenn ich mich recht erinnere, hat er die Kinderstundentante – wie hieß sie doch noch? – dazu gebracht, mit ihrer Mitarbeit in der Gemeinde aufzuhören. Als die Familie Hartmann die Stadt verlassen hat, ist sie mit einem Seufzer der Erleichterung wieder eingestiegen.
Es wird einige Leute geben, die sich über seine Verwandlung wundern werden. Das darf ich eigentlich auf keinen Fall verpassen. Außerdem will ich Goliath noch fragen, ob er mein Fahrrad reparieren kann.
Du drängst dich an mir vorbei. Ich spüre deine spitzen Ellbogen in meiner Seite.
Immer musst du dich vordrängeln.
Du stiehlst. Und du merkst es nicht einmal. Oder freust du dich über deine Beute?
Wenn du dir nimmst, was mir gehört?
Ich kann kaum atmen, wenn ich dich sehe. Aber du bemerkst das natürlich nicht.
Dreht sich irgendetwas in deinem Kopf mal nicht um dich? Na klar, ich bin ja auch unsichtbar. Wie kann ich auch erwarten, dass du etwas mitbekommst davon, was in anderen Leuten vor sich geht!
Webhexe, Blogeintrag vom 19. August
5.
Daniel ist gar nicht da.
Mist. Jetzt habe ich mich extra aufgerafft und bin ins Gemeindehaus gestiefelt und es sind sowieso nur dieselben da wie immer. Die Verteilung der Gruppenmitglieder ist ziemlich genauso wie in meiner Klasse. Es gibt ein paar Außenseiter, merkwürdige Gestalten, die kaum ein Wort herausbringen, und auch eine kleine Gänseschar – perfekt gestylt, für den Fall, hier den Partner fürs Leben zu treffen. Die Gänse sind diejenigen, die sich immer hervortun wollen. Sie wissen alles und sie kennen sämtliche Lieder auswendig und sie können stundenlang darüber diskutieren, ob es einen Unterschied macht, wenn man beim Singen die Hände in die Luft streckt oder nicht. Hier in der Kirche bedeutet »Gans sein« nicht bloß, wunderschön sein zu wollen. Es bedeutet, perfekt zu tun. Ganz zu sein. Und nie, nie, niemals irgendwie zerrissen zu wirken. Tine ist in unserer Kirche die Obergans. Die Superfromme. Sie ist über alles und jedes schockiert und man kann sie herrlich nachahmen. Sie erinnert mich an meine Schwester Tabita, die ja auch immer alles besser weiß.
Dann sind da noch die »Normalen«. Natürlich sind die Normalen, die in die Kirche gehen und am Donnerstag Abend eine Jugendgruppe besuchen, die auf den inspirierenden Namen Life and Hope hört, nicht so normal wie die Normalen an der Schule. Das wunderbar Normale an ihnen ist, dass sie nicht so recht wissen, was sie hier wollen und warum sie eigentlich hergekommen sind. Außer um Spaß zu haben, natürlich.
Das Gänseleben ist mir vertraut. Ganz ehrlich. Ich kenne alle Bibelstellen auswendig und mit diesen Liedern bin ich groß geworden. Ich weiß alles und kann alles und ich lasse mir nicht anmerken, dass mich das alles nicht die Bohne interessiert.
So sind Gänse nun mal. Außen alles voller schöner weißer Federn.
Ich könnte mich auch zu den Normalos zählen, denn so wie die weiß ich nicht, warum ich hier bin. Was würde passieren, wenn ich anfange, meine Fragen zu stellen? Zu sagen, was ich wirklich denke? Würde der gutmütige, immer freundliche Riese Goliath mich dann vor die Tür setzen?
Doch ich bilde hier meine eigene Gruppe: »Tochter vom Pastor.«
»Schön, dass du auch mal wieder da bist, Miriam«, sagt Michael zu mir, und ich grinse schief und denke: Wenn du wüsstest ...
Aber vielleicht tut er das ja? Ich meine, nicht, dass er Gedanken lesen könnte, aber vielleicht hat er ja tatsächlich eine Antwort.
WOHER WISST IHR DAS?
Und er würde antworten: ... keine Ahnung, was.
Weil man das halt so glaubt, in der Kirche. Oder weil man so tut, als würde man das glauben. Oder weil ...
»Heute sprechen wir über das Gebet«, sagt er.
Die Gänse-Fraktion kichert, wie über alles, was er sagt. Ich versuche zu erkennen, ob Michael irgendwie gut aussieht, aber es ist wie bei diesen verschlüsselten 3D-Bildern. Manchmal überkommt einen dieser Moment von Klarheit, wenn man bis in die Tiefe sehen kann. Und manchmal ist alles nur voller Hieroglyphen und man erkennt gar nichts.
Ehrlich – ich weiß es nicht.
»Darüber, dass wir Gott alles anvertrauen können. Unsere Sorgen und Nöte ...«
Nöte. Das ist Bibelsprech. Wer sagt denn heutzutage: Ich habe Nöte?
Ich kenne jedenfalls keinen.
»Ja, Miriam? Du siehst aus, als fändest du das lustig.«
»Äh, nein«, versichere ich schnell. »Ganz und gar nicht. Das ist sehr, ähm, ernst.«
Er schüttelt lächelnd den Kopf. Ich sehe rasch zu Tine hinüber, wie sie darauf reagiert. Mag sie ihn oder nicht? Aber ich kann nichts in ihrer steinernen Miene erkennen.
»Wer möchte was zum Thema erzählen?«
Die Perfekten sind wie immer ganz versessen darauf, ihre Wunder mitzuteilen.
Ihr ganzer Alltag ist von Wundern gepflastert.
Eine Zwei in Latein, obwohl Nele nicht geübt hat – wow!
Katis Vater hat endlich einen Job. Super! (Das ist eine recht häufige Gebetserhörung von Kati. Nur, dass ihr Vater immer bloß Zeitverträge bekommt und nach ein paar Monaten wieder auf der Straße sitzt.)
»Ist es eine feste Stelle?«, frage ich.
»Erst mal auf Probe«, sagt sie und druckst ein bisschen herum.
Die wundersame Heilung einer Grippe nach zwei Wochen Krankheit.
Eine Eins im Biologietest. (Maren schreibt nur ausnahmsweise mal eine Note, die schlechter ist als eine Zwei plus.) Oh Wunder, oh Wunder!
Victoria schießt den Vogel ab: Sie hat ihre Uhr wiedergefunden, die sie vor einigen Tagen verloren hatte, nachdem sie eine Eingebung gehabt hat, wo sie sein könnte. Nämlich in ihrer Jacke, die im Schrank hing.
So was aber auch!
»Miriam?«, fragt Michael. »Hast du auch etwas mit Gott erlebt? Willst du uns daran teilhaben lassen?«
Sei ein braves Mädchen, beschwöre ich mich. Hör auf. Sei still. Du wirst deine Meinung NICHT sagen.
Wann habe ich aufgehört, ein braves Mädchen zu sein?
»Das ist doch lächerlich«, platze ich heraus. »Meint ihr, den anderen, die nicht beten, passiert das nicht? Wo bitte ist da der Unterschied?«
»Ich gebe die Frage weiter«, sagt Michael, was ich nicht ungeschickt von ihm finde. »Wo ist der Unterschied? Was meint ihr?«
»Ähm.« Maren, die Einser-Schülerin, runzelt die Stirn. »Ich bin immer total aufgeregt vor einer Arbeit. Wenn ich bete, bin ich nicht ganz so nervös. Aber das heißt natürlich nicht, dass ich nicht lernen würde.«
»Ich hab nichts getan«, gibt Nele zu. »Ich hatte es vergessen, dass wir den Test hatten, ehrlich. Und dann hab ich gebetet, dass trotzdem alles gut geht. Nächstes Mal werde ich dafür ackern, versprochen!«
»Wirst du nicht«, behaupte ich, und sie grinst verräterisch.
»Mein Vater ist total fertig«, erzählt Kati leise. »Und Mama sagt, wenn wir uns nicht auf Gott verlassen könnten, wüsste sie gar nicht, was wir tun sollten.«
Gleich muss ich heulen – nein, nicht wirklich.
»Aber ihr betet und betet und es geschieht kein Wunder«, sage ich. »Ihr denkt bloß immer, dass es kommt, aber es passiert überhaupt nichts.«
Michael mustert mich mit einem feinen Lächeln. Ich möchte denken, dass ihm dieses Lächeln schwerfällt, dass es ihn ärgert, was ich sage, aber sein Lächeln wirkt echt und wird immer breiter. Aus welchem Grund auch immer, er ist sehr zufrieden mit dem, was ich von mir gebe.
»Glaubst du nicht, dass Gott uns hilft?«, fragt er. Es klingt nicht wie eine Frage, auf die es nur eine einzige, richtige Antwort geben darf.
»Doch«, versichere ich schnell, »aber nicht so.«
Wann habe ich aufgehört, an Wunder zu glauben? War es hier, in der Jugendgruppe, als ich mir den tausendsten Bericht darüber anhören musste, wie Gott einen Schnupfen geheilt hat oder für eine Zwei plus gesorgt hat?
»Vielleicht gibt es Wunder. Aber das sind keine.«
»Vielleicht?« Tine schnappt nach Luft.
Was würde sie erst sagen, wenn ich damit herausrücke, was ich wirklich denke? Darüber zu diskutieren, wie Gott ist, bringt sie schon auf die Palme. Darüber zu sprechen, ob es ihn überhaupt gibt, wäre zu viel für die Life and Hope-Leute. Das weiß ich natürlich. Vor allem, wenn die Frage von mir kommt. Wenn wir jetzt hier einen von »draußen« sitzen hätten, jemanden, der noch nie den Fuß in eine Kirche gesetzt hat, und der würde fragen: Woher soll ich denn wissen, ob Gott wirklich existiert?, dann würden sie sich riesig freuen über die Gelegenheit, alle Gottesbeweise aufzuzählen, die ihnen nur einfallen. Aber ich bin die Tochter vom alten Weynard. Ich kenne alle Argumente. Was soll man mit jemandem tun, der das alles kennt und trotzdem nicht überzeugt ist?
Mich vor die Tür setzen – arme, verstockte Sünderin?
Ich verlege mich lieber auf die andere Diskussion. Darüber, wie Gott ist.
»Für euch«, sage ich, »ist Gott doch nur der Weihnachtsmann. Der euch auf dem Schlitten durch die Gegend zieht. Und wenn ihr quengelt, dreht er sich um und gibt euch ein paar Kekse, damit ihr still seid.«
»Aber ...« Tine öffnet den Mund und bringt kein Wort heraus.
»Interessanter Vergleich«, findet Michael und nickt anerkennend.
»Wir müssen selber gehen«, sage ich. »Wir werden nicht gezogen. Wir müssen selbst durch den Schnee.« Meine Stimme versagt. Wir werden nasse Füße bekommen, will ich hinzufügen. Und frieren. Und stolpern. Und fallen. Aber wir müssen selbst gehen. Wir müssen selbst gehen!
»Als ich meine Uhr gesucht habe«, fängt Victoria an, »habe ich überall nachgeschaut. Ich habe mich nicht hingesetzt und darauf gewartet, dass sie mir aus einer Wolke in den Schoß fällt.«
»Ist es ein Wunder, wenn man etwas findet, dass man lange gesucht hat?«, fragt Michael in die Runde.
»Für mich war es eins«, meint Victoria etwas lauter. Sie ist beleidigt, weil ich nicht begeistert bin, was ihr tolles Wunder angeht.
Langsam macht mir diese Stunde Spaß. Nicht, weil Victoria beleidigt ist und Tine nach Worten sucht. Oder ... na ja, ein bisschen doch.
»He, da kommt ja noch jemand«, sagt Michael plötzlich. Durch die milchige Glastür sieht man eine hochgewachsene Gestalt, die im Vorraum ihre Jacke aufhängt. Unwillkürlich schlägt mein Herz schneller, denn ich weiß, wer das ist.
Michael kann sein Glück kaum fassen, dass noch jemand zu seinem kleinen, erlesenen Life and Hope-Stamm gestoßen ist. Zu seinem Gitarrengeklimpere, den öden Liedern und der traubstockenen – äh, staubtrockenen Bibelarbeit. Und unserer spannenden Diskussion über die kleinen Wunder des Alltags.
»Ein neues Gesicht«, strahlt er entzückt.
»Hi«, sagt Daniel lässig.
Ich hätte nicht so ruhig bleiben können, wenn zwanzig Leute einen neugierig anstarren. Ich wäre mindestens rot geworden. Oder ich wäre vor allen gestolpert. Dann hätte ich mich auf einen der Stühle gesetzt, niemanden angeschaut und gehofft, dass sie mich vergessen.
Falsch, Messie, rüge ich mich. Früher bist du so gewesen. Fräulein Pink. Fräulein Unsichtbar. Aber das ist schon lange her. Und außerdem bin ich hier in der Kirche nie so unsichtbar gewesen wie in der Schule. Das ist ein Heimspiel für mich. Ich weiß, wie man hier punkten kann.
Inzwischen bin ich viel selbstsicherer, wenn ich es nicht gerade vergesse. Was gerade jetzt, als Daniel mir gegenüber im Stuhlkreis Platz nimmt, der Fall ist. Himmel, ich fühle mich wie damals im Kindergottesdienst, als ich mit Schrecken darauf gewartet habe, welche Streiche er sich einfallen ließ, um Tante Dings ... ich komme nicht auf den Namen! ... zu ärgern.
Daniel betrachtet neugierig die kleine Versammlung. Es sind natürlich fast alles Mädchen. Tine blinzelt und sagt halblaut: »Kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken.«
Wetten, dass sie ihn noch nicht erkannt hat?
Ich versuche, mir darüber klar zu werden, ob Tine hübsch ist oder nicht, aber bei ihr ist das besonders schwer. Leute, die lächeln, sind eigentlich fast immer schön, aber Tine lächelt so gut wie nie. Dann gibt es aber auch die besonders Attraktiven, die haben es nicht nötig zu lächeln. Der Typ »eiskalte Schönheit«. Das sind die, die von den Jungs von ferne angeschmachtet werden. Das wäre ich gerne. Ich meine, wär doch cool, wenn alle in einen verliebt sind, ohne dass man irgendetwas dafür tun muss.
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