Kitabı oku: «Internationales Strafrecht», sayfa 10
2. Grundsatz der freien Kommunikation mit dem Gerichtshof
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Der Bf. hat das Recht auf ungehinderte Kommunikation mit dem Gerichtshof. Er darf weder bei der Einlegung der Individualbeschwerde noch im Laufe des anschließenden Verfahrens vor dem EGMR durch den betroffenen Staat an der effektiven Geltendmachung eines Konventionsverstoßes gehindert, geschweige denn zur Änderung oder gar Rücknahme der Beschwerde angehalten werden (Art. 34 Satz 2 EMRK). Weder auf den Bf. noch auf seine Angehörigen und Rechtsvertreter[251] darf von staatlicher Seite Zwang ausgeübt werden. Unzulässig sind unmittelbare Zwangswirkungen, Einschüchterungsversuche und sonstige unangemessene, indirekte Einflussnahmen, die den Bf. von der Einlegung oder Aufrechterhaltung einer Beschwerde abhalten sollen.[252]
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„Dabei ist mit ‚Druck‘ nicht nur unmittelbarer Zwang und krasse Einschüchterung gegenüber Bf., ihren Familien oder ihren Anwälten zu verstehen, sondern auch andere unzulässige indirekte Handlungen oder Kontakte mit dem Ziel, Bf. davon abzuhalten oder sie zu entmutigen, eine Beschwerde nach der Konvention zu verfolgen. Ob Kontakte zwischen den Behörden und einem Bf. oder einem möglichen Bf. unter dem Gesichtspunkt von Art. 34 EMRK unzulässig sind, ist unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles zu entscheiden. In dieser Hinsicht sind die Verletzbarkeit des Bf. und seine Anfälligkeit für eine Beeinflussung durch die Behörden zu berücksichtigen.“[253]
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Die Verletzung der staatlichen Pflicht aus Art. 34 Satz 2 EMRK kann im Rahmen der Individualbeschwerde (eigenständig) geltend gemacht werden;[254] einen Verstoß gegen Art. 8 und Art. 34 EMRK stellen bei inhaftierten Bf. sowohl gezielte Verzögerungen bei der Weiterleitung der Beschwerde als auch das (systematische) Öffnen und Kontrollieren der Korrespondenz mit dem Gerichtshof dar.[255] Den ungehinderten Schriftwechsel inhaftierter Beschuldigter mit dem Gerichtshof muss die Vollzugsanstalt durch die Bereitstellung von Papier, Briefumschlägen und Briefmarken sicherstellen.[256]
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Im Gegensatz zum allgemeinen Schriftwechsel (mit Ausnahme der Verteidigerkorrespondenz) werden Schreiben eines Strafgefangenen an den EGMR nicht überwacht (§ 29 Abs. 2 Satz 2 StVollzG; Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BayStVollzG; § 30 Abs. 3 Satz 2 NJStVollzG; § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 JVollzGB III; § 42 Abs. 3 Satz 2 BbgJVollzG; § 30 Abs. 3 Nr. 2 HmbStVollzG; §§ 35 Abs. 2, 33 Abs. 4 HStVollzG i.V.m. § 119 Abs. 4 Satz 2 Nr. 9 StPO; § 34 Abs. 3 Satz 2 StVollzG M-V; § 34 Abs. 3 Satz 2 SLStVollzG; § 41 Abs. 3 Satz 2 LJVollzG-Rh-P; §§ 34, 33 Abs. 4 Satz 2 SächsStVollzG; § 42 Abs. 3 Satz 2 ThürJVollzG; § 34 Abs. 3 Satz 2 BrStVollzG; § 26 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7 StVollzG NRW; § 41 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 JVollzGB LSA). Voraussetzung ist allerdings, dass die Schreiben an den EGMR gerichtet sind und den Absender zutreffend angeben.
229
Das Gleiche gilt für Schreiben des EGMR an einen Strafgefangenen, wenn die Identität des Absenders (EGMR) zweifelsfrei feststeht (§ 29 Abs. 2 Satz 3 StVollzG; Art. 32 Abs. 2 Satz 3 BayStVollzG; § 30 Abs. 2 Satz 3 NJStVollzG; § 24 Abs. 3 S.2 JVollzGB III; § 42 Abs. 3 Satz 2 BbgJVollzG; § 30 Abs. 4 HmbStVollzG; §§ 35 Abs. 2, 33 Abs. 4 Nr. 3 HStVollzG i.V.m. § 119 Abs. 4 Satz 2 Nr. 9 StPO; § 34 Abs. 3 Satz 4 StVollzG M-V; § 34 Abs. 3 Satz 4 SLStVollzG; § 41 Abs. 3 Satz 4 LJVollzG; §§ 34, 33 Abs. 4 Satz 4 SächsStVollzG; § 42 Abs. 3 Satz 4 ThürJVollzG; § 34 Abs. 3 Satz 4 BrStVollzG; § 26 Abs. 4 Satz 2 StVollzG NRW; § 41 Abs. 2 Satz 3 JVollzGB LSA). An die berechtigte Annahme entsprechender Zweifel sind insgesamt hohe Anforderungen zu stellen. Der EGMR geht nur von einem geringen Risiko dahingehend aus, dass eine Person außerhalb der Anstalt offizielle Briefumschläge des EGMR kopiert und auf diese Weise verbotene Substanzen, Handys usw. in die Haftanstalt bringt.[257]
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Für Untersuchungsgefangene enthalten §§ 146 Abs. 1 Satz 2, 30 Abs. 3 Satz 3 NJVollzG eine entsprechende Regelung, letztere allerdings nur für den Schriftwechsel mit der am 31.10.1999 aufgelösten EKMR (Nr. 30 Abs. 2; 34 Abs. 3 UVollzO). Die Vorschrift ist auf die Korrespondenz mit dem EGMR entsprechend anzuwenden. Dabei ist zu beachten, dass ein Verstoß gegen Art. 14 EMRK vorliegt, wenn Untersuchungshäftlinge gegenüber Strafgefangenen ohne objektiven und sachlichen Grund ungleich behandelt werden.[258]
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Für die übrigen Bundesländer: § 17 Abs. 3 Satz 2 JVollzGB II; § 37 Abs. 3 Satz 3 UVollzG Bln; § 42 Abs. 3 Satz 3 BbgJVollzG; § 37 Abs. 3 Satz 4 BrUVollzG; § 25 Abs. 4 HmbUVollzG; § 25 Abs. 4 Nr. 3 HUVollzG i.V.m. § 119 Abs. 4 Satz 2 Nr. 9 StPO; § 37 Abs. 3 Satz 4 UVollzG M-V; § 37 Abs. 3 Satz 4 LUVollzG; § 37 Abs. 3 Satz 4 SLUVollzG; § 37 Abs. 3 Satz 4 SächsUHaftVollzG; § 37 Abs. 3 Satz 4 UVollzG LSA; § 37 Abs. 3 Satz 4 UVollzG S-H; § 37 Abs. 3 Satz 4 ThürUVollzG; Art. 19 Abs. 3 BayUVollzG i.V.m. Art. 32 Abs. 2 Satz 3 BayStVollzG
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › IX. Wiederholte Überprüfung (res iudicata)/Litispendenz
IX. Wiederholte Überprüfung (res iudicata)/Litispendenz
232
Der Gerichtshof befasst sich nicht mit einer Individualbeschwerde, die im Wesentlichen mit einer schon früher vom Gerichtshof geprüften Beschwerde übereinstimmt (Identität von Beschwerdegegenstand, dazu sogleich Rn. 237) oder bereits einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden ist (Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK).
233
Für die Unzulässigkeit nach Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK wegen der Identität mit einer bereits vom EGMR geprüften Beschwerde genügt es, wenn ein inhaltsgleiches Gesuch bereits früher Gegenstand einer Sachentscheidung war. Dies ist auch der Fall, wenn die Beschwerde als offensichtlich unbegründet oder als unvereinbar mit der EMRK ratione materiae und damit als unzulässig i.S.v. Art. 35 Abs. 3 EMRK zurückgewiesen wurde, da die vorgenannten Abweisungsgründe eine summarische Sachentscheidung miteinschließen.[259] Hingegen kann nach einer Abweisung aus rein formalen Gründen, etwa wegen Nichterschöpfung des nationalen Rechtswegs oder wegen sonstiger formaler Mängel oder wegen des Beschwerderechts, die Beschwerde erneut eingelegt werden, sobald das Hindernis beseitigt wurde.[260] Insbesondere bei Nichtdurchlaufen des nationalen Rechtswegs wird der noch nicht ergriffene nationale Rechtsbehelf aber mittlerweile regelmäßig verfristet sein.
234
Dieselbe Angelegenheit darf außerdem weder parallel durch eine andere internationale Kontrollinstanz geprüft werden, noch geprüft worden sein. Das Kumulationsverbot („una via electa“) soll verhindern, dass mehrere internationale Menschenrechtsschutzinstanzen neben- oder nacheinander mit der gleichen Sache, also bei Übereinstimmung von Beschwerdeführer, Sachverhalt und Beschwerdegegenstand, befasst werden. Die Anforderungen an die Instanzen hat der EGMR in seiner Rechtsprechung konkretisiert: Die Verfahren müssen zwischenstaatlich sein und zugleich nicht durch private Institutionen eingerichtet. Das Entscheidungsgremium muss unabhängig sein und die Anforderungen an ein „Gericht“ nach den Vorgaben der Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllen.[261] Das Verfahren muss adversatorisch sein, die Entscheidungen müssen begründet, den Parteien zugestellt und veröffentlicht werden. Das Verfahren darf weder (nur) präventiver Natur noch vertraulich sein. Die Parteien müssen zumindest in irgendeiner Weise an dem Verfahren selbst beteiligt werden. Der Spruchkörper muss die Befugnis haben, Verantwortung festzustellen und der Verletzung ein Ende zu setzen. Zudem muss das Verfahren effektiv sein.[262]
235
Als solche Instanzen gelten der UN-Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee – HRC), die UN-Antifolterausschuss (Committee Against Torture – CAT) und die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen.[263] Dagegen kann das Verfahren vor dem UN-Menschenrechtsrat (Human Rights Council)[264] parallel bzw. nach dem Abschluss des Individualbeschwerdeverfahrens vor dem EGMR beschritten werden.[265]
236
Die Prüfung durch eine andere internationale Instanz steht der Individualbeschwerde nach Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK vom Beginn der Anhängigkeit an und auch noch nach Erledigung des dortigen Verfahrens[266], also dauerhaft entgegen (Verfahrenshindernis), nicht aber, wenn sie dort vor einer Sachentscheidung zurückgenommen worden ist.[267]
237
Eine Beschwerde betrifft inhaltlich denselben Gegenstand, wenn Sachverhalt, Beschwerdegegenstand und Beschwerdeführer identisch sind. Ob eine weitere Beschwerde zulässig ist, bestimmt sich nach einem Vergleich der zugrunde liegenden Sachverhalte. Die Sachlage zum Zeitpunkt der ersten Entscheidung muss sich gegenüber derjenigen zum Zeitpunkt der erneuten Beschwerdeeinlegung verändert haben, also neue Tatsachen enthalten (neue rechtliche Ausführungen und Argumente genügen dagegen nicht).
238
Es genügt aber nicht, wenn nur Tatsachen ergänzt werden, die der Bf. auch schon vorher hätte vortragen können. War dem Bf. die Kenntnisnahme von Tatsachen vor Einlegung der (ersten) Beschwerde nicht möglich, handelt es sich zwar noch um denselben Sachverhalt, jedoch kann dann ein Antrag nach Rule 80 (siehe Rn. 536) gestellt werden.
239
An der Übereinstimmung mit einer bereits vorher behandelten Beschwerde fehlt es, wenn verschiedene Personen wegen des gleichen Sachverhalts eine Verletzung ihrer eigenen Konventionsrechte geltend machen.[268]
240
Ob ein Verfahren vor einer anderen internationalen Instanz entgegensteht bzw. ob ein Fall im Wesentlichen mit einer bereits behandelten Beschwerde übereinstimmt, prüft der Gerichtshof von Amts wegen.[269] Schon bei Einreichen der Beschwerde hat sich der Bf. dazu zu äußern bzw. Stellung zu beziehen (Rule 47 Abs. 2 lit. b).
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › X. Offensichtliche Unbegründetheit
X. Offensichtliche Unbegründetheit
241
Der für den Verteidiger brisanteste Fall einer (drohenden) Unzulässigkeit der Beschwerde ist deren offensichtliche Unbegründetheit (Art. 35 Abs. 3 EMRK; „manifestly ill-founded“, sog. „mif“-cases). Hinter dieser Formulierung verbirgt sich ein Zulässigkeitserfordernis, das angesichts der stetig ansteigenden Arbeitsbelastung des EGMR zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die offensichtliche Unbegründetheit muss sich dabei nicht bereits beim ersten Anschein aufdrängen. Der Gerichtshof lässt es genügen, wenn die Unbegründetheit der Beschwerde erst in einem späteren Verfahrensabschnitt nach Überprüfung aller Aspekte des Falles erkennbar wird. Die Praxis des Gerichtshofs zieht diese Grenze ziemlich weit. Auch nach einer Verfahrensdauer von mehreren Jahren besteht die Gefahr, dass der Bf. ein einseitiges Schreiben erhält, in dem – ohne jede weitere Begründung – die Beschwerde als „unzulässig“ (mutmaßlich: offensichtlich unbegründet) eingestuft wird.
242
Damit seine Beschwerde die Hürde der „offensichtlichen Unbegründetheit“ sicher nimmt, muss der Bf. den behaupteten Konventionsverstoß und die ihn stützenden Tatsachen sowie seine rechtlichen Ausführungen klar strukturiert, nachvollziehbar und vor allem substantiiert geltend machen.
243
Die Entscheidung, in der eine Beschwerde als offensichtlich unbegründet und daher unzulässig eingestuft wird, ist wie jede andere Entscheidung des Gerichtshofs über die Zulässigkeit der Beschwerde unanfechtbar. Die Begründung der ablehnenden Entscheidung beschränkt sich mitunter auf eine knappe Pauschalformel,[270] die als sog. „global formula“ auch benutzt wird, wenn dadurch andere Fragen der Zulässigkeit mit abgedeckt werden sollen.[271]
244
In Einzelrichterentscheidungen findet sich meist nur die Formulierung: „[…] dass der Gerichtshof entschieden hat, die Beschwerde für unzulässig zu erklären“ oder „Soweit die Beschwerdepunkte in seine Zuständigkeit fallen, ist der Gerichtshof der Gerichtshof aufgrund aller zur Verfügung stehenden Unterlagen zu der Auffassung gelangt, dass die in Artikel 34 und 35 der Konvention niedergelegten Voraussetzungen nicht erfüllt waren“.
245
Solche inhaltsleeren Begründungen, die nicht einmal den speziellen Grund der „Unzulässigkeit“ einer Beschwerde näher aufschlüsseln, bewegen sich an der Grenze der Rechtsstaatlichkeit und sind auch vor dem Hintergrund einer enormen Arbeitsbelastung des Gerichtshofs (Rn. 28 ff.) menschenrechtlich nicht akzeptabel. Ein Rechtsbehelf gegen diese Unzulässigkeitsentscheidungen steht gleichwohl nicht zur Verfügung, worauf der EGMR in seinem „Pauschal-Schreiben“ auch sehr deutlich hinweist (unter Ablehnung jeder weiteren Korrespondenz).
246
Ebenso wie die Urteile haben auch die – bisher meist durch einen Ausschuss, künftig aber sicherlich auch immer häufiger von Einzelrichtern, ergehenden – Entscheidungen über die Einstufung einer Beschwerde als offensichtlich unbegründet trotz fehlender Bindungswirkung faktisch eine erhebliche Aussagekraft, weil sich in ihr ebenfalls Tendenzen und Strukturen bezüglich der Auslegung einzelner Konventionsgarantien abzeichnen.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › XI. Rechtsschutzbedürfnis/Missbrauch des Beschwerderechts
XI. Rechtsschutzbedürfnis/Missbrauch des Beschwerderechts
247
Ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis ist für Individualbeschwerden grundsätzlich nicht erforderlich. Insbesondere hängt die Zulässigkeit der Beschwerde (vgl. aber jetzt Rn. 2.) Vgl. aber zum „mehrheitlichen Nachteil“ Rn. 252 ff. nicht von einer gesondert festzustellenden Schwere der behaupteten Konventionsverletzung ab.)
248
Weder die EMRK noch die Rules of Court sehen die Verhängung einer Gebühr als Sanktion für die missbräuchliche Einlegung einer Beschwerde vor. In Extremfällen kann der Gerichtshof eine Individualbeschwerde jedoch für unzulässig erklären, wenn sie einen Missbrauch des Beschwerderechts erkennen lässt (Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK). Ein Missbrauch des Beschwerderechts kann in einem Prozessverhalten (formeller Missbrauch) des Bf. liegen, aber auch in einem von dem Bf. verfolgten Zweck (materieller Missbrauch).[272] Ein formeller Missbrauch liegt etwa vor, wenn der Bf. bewusst wahrheitswidrige Tatsachen vorträgt (knowingly based on untrue facts)[273], entscheidungsrelevante Tatsachen verschweigt oder unvollständige und damit irreführende Angaben, insb. zum Verfahrensgang macht; unvollständige, irreführende Angaben können vor allem dann als missbräuchlich iSv Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK eingestuft werden, wenn sie den Kern der Rechtssache betreffen und nicht hinreichend, d.h. plausibel erläutert worden ist, warum diese Auskunft nicht erteilt worden ist.[274]
249
Missbräuchlich ist auch die Beleidigung von Mitgliedern des Gerichtshofs (dazu zählen auch die Mitarbeiter der Kanzlei)[275] bzw. die Äußerung unangemessener Kritik (contempt of court)[276].
250
Auch Verstöße gegen die Verfahrensordnung können dazu führen, dass eine Beschwerde als missbräuchlich eingestuft wird, etwa wenn gegen das Gebot der Vertraulichkeit der Verhandlungen über eine gütliche Einigung verstoßen wird.[277]
251
Schließlich kann der mit einer Beschwerde verfolgte Zweck diese als missbräuchlich erscheinen lassen (materieller Missbrauch): Missbräuchlich in diesem Sinne ist der offensichtlich zweckwidrige Einsatz des Beschwerderechts, der die ordnungsgemäße Arbeit des EGMR sowie den geordneten Ablauf des Verfahrens selbst behindert.[278] Das kann etwa dann der Fall sein, wenn eine gefälschte Vollmacht vorgelegt wird,[279] ebenso wenn die Inanspruchnahme internationalen Rechtsschutzes in einem Missverhältnis zum geltend gemachten Interesse steht[280] oder die Beschwerde ausschließlich zu Propaganda- oder Reklamezwecken eingelegt wurde.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › XII. Unerheblicher Nachteil
XII. Unerheblicher Nachteil[281]
252
Eine Beschwerde kann seit dem Inkrafttreten des 14. P-EMRK auch als unzulässig eingestuft werden (Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK), wenn der Bf. keinen erheblichen Nachteil erlitten hat (significant disadvantage), der Fall bereits von einem nationalen Gericht gebührend geprüft wurde (duly considered; diese Voraussetzung wird nach Inkrafttreten des 15. Protokolls zur EMRK gestrichen) und keine menschenrechtliche Besonderheiten aufweist (unless respect for human rights … requires an examination). Damit wurde auf Zulässigkeitsebene neben der Feststellung einer offensichtlichen Unbegründetheit der Beschwerde eine weitere Möglichkeit der materiellen Filtrierung eingeführt.[282]
253
Der Begriff des „erheblichen Nachteils“ enthält einen beträchtlichen Interpretationsrahmen, der dem Gerichtshof mehr Flexibilität bei der Zulässigkeitsprüfung ermöglichen soll. Seiner Rechtsprechung obliegt es daher auch, diesem Begriff Konturen zu geben. In dieser Hinsicht ist auf die Übergangsvorschrift in Art. 20 Abs. 2 des 14. P-EMRK hinzuweisen. Danach soll Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK in den ersten beiden Jahren nach Inkrafttreten des Protokolls nur von den Kammern und der Großen Kammer angewandt werden, damit diese konkrete Fallgruppen für den neuen Unzulässigkeitsgrund bilden können.
254
Nach einer Studie der Kanzlei des Gerichtshofs[283] soll bei der Verletzung der Art. 2, Art. 3 EMRK (Recht auf Leben und Verbot der Folter pp.), Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit),[284] Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit), Art. 7 EMRK (nulla poena sine lege) und Art. 13 EMRK (Nichtvorhandensein eines effektiven Rechtsbehelfs) grundsätzlich ein erheblicher Nachteil angenommen werden. Bei den übrigen Konventionsbestimmungen soll es darauf ankommen, was für den Bf. auf dem Spiel steht. Zum Beispiel wird bei einer Rüge hinsichtlich der Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK bei Strafverfahren, in denen Freiheitsentzug droht, stets ein erheblicher Nachteil anzunehmen sein, während in Zivilprozessen Kriterien wie der Einfluss auf die Anstellung des Betroffenen bzw. auf dessen Ruf oder seine Familie eine Rolle spielen sollen.[285] Zudem wird vorgeschlagen, dass bei einem Streitwert unter 500 € grundsätzlich kein erheblicher Nachteil angenommen wird.[286] Auch bei Beschwerden bezüglich der Art. 8-12 EMRK sollen die für Art. 6 EMRK entwickelten Grundsätze anwendbar sein. Hinsichtlich einer Verletzung des Art. 14 EMRK soll es auf den Grad der Diskriminierung ankommen.
255
In dem ersten Verfahren, in dem der Gerichtshof dieses neue Kriterium angewandt hat, war Art. 6 EMRK im Rahmen eines zivilrechtlichen Verfahrens als verletzt gerügt worden. Der Streitwert des nationalen Verfahrens betrug allerdings lediglich 90 €. Die Beschwerde wurde als unzulässig abgewiesen, wobei der Gerichtshof darauf hinwies, dass die finanziellen Auswirkungen der Streitfrage ein taugliches Kriterium zur Bestimmung des Nachteils seien.[287]
256
Inzwischen liegen auch erste Unzulässigkeitserklärungen vor, in denen ein unerheblicher Nachteil unabhängig vom finanziellen Nachteil beurteilt wurde: Einige Beschwerden betrafen das Verfassungsbeschwerdeverfahren in der Tschechischen Republik. Der tschechische Verfassungsgerichtshof hatte den Bf. die Stellungnahmen der ordentlichen Gerichte nicht zugestellt, so dass diese nicht Stellung nehmen konnten. Der EGMR stellte fest, dass die Gerichte lediglich auf ihre Urteile verwiesen hatten und der VerfGH auf diese nicht eingegangen ist. Der Gerichtshof ging deswegen davon aus, dass die Urteile auch ohne die Stellungnahmen so ausgefallen wären. Zudem hatten die Bf. nicht ausgeführt, was sie hätten vortragen wollen, wenn ihnen die Stellungnahmen zugestellt worden wären. Sie hätten in ihrem Recht, angemessen am Verfahren teilzunehmen, deswegen keinen erheblichen Nachteil erlitten.[288]
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Der EGMR darf aber, auch wenn ein erheblicher Nachteil nicht festgestellt werden kann, die Beschwerde nur dann für unzulässig erklären, wenn nicht die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und in den Zusatzprotokollen dazu anerkannt sind, eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde erforderlich macht. Der Wortlaut ist angelehnt an Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EMRK (Rn. 351).[289] Nach dem Explanatory Report zum 14. P-EMRK soll sich diese Klausel gerade auf solche Beschwerden beziehen, die schwerwiegende Fragen hinsichtlich der Anwendung oder Auslegung der Konvention bzw. hinsichtlich des nationalen Rechts aufwerfen.[290] Über diese Schutzklausel kann der EGMR also sicherstellen, dass ihm nicht diejenigen Beschwerden entgehen, die zwar für den Betroffenen keinen erheblichen Nachteil begründen, anhand derer der EGMR aber gemeineuropäische Menschenrechtsstandards entwickeln kann.
258
Die Ablehnung der Prüfung aufgrund des Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK ist darüber hinaus nur möglich, wenn ein nationales Gericht die Beschwerde bereits gebührend geprüft hat. Der Gerichtshof wird hier sicherlich eine pragmatische Herangehensweise wählen, um zu verhindern, dass bereits in der Zulässigkeitsprüfung eine Einarbeitung in die Details der Beschwerde erforderlich wird. Ob die nationale Instanz, die zunächst mit der Rechtssache befasst war, den Ansprüchen des Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK an ein „innerstaatliches Gericht“ genügt, beurteilt sich nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK.
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Das Erfordernis der gebührenden Prüfung stellt sicher, dass jedem Individuum ein effektives Recht auf rechtliches Gehör gewährt wird, primär auf nationaler Ebene, im Notfall aber auch auf supranationaler Ebene, selbst wenn der Nachteil, den der Betroffene erlitten hat, objektiv als gering einzuschätzen ist. Nicht möglich ist deswegen die Anwendung des neuen Unzulässigkeitskriteriums, wenn kein Zugang zu einem nationalen Gericht eröffnet war, wie auch in Fällen der überlangen Verfahrensdauer bei letztinstanzlichen Gerichten.[291] Das Kriterium der gebührenden Prüfung durch ein nationales Gericht wird nach Inkrafttreten des 15. Protokolls zur EMRK künftig wegfallen und es damit dem Gerichtshof weiter vereinfachen, die Annahme einer Individualbeschwerde abzulehnen.