Kitabı oku: «O du fröhliche, o du grausige», sayfa 2

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5

»Papa, ich muss kurz weg. Kommst du zurecht?«

Josef Blum richtete seinen hageren Körper auf. Eben noch hatte er über Diethards Tablet gebeugt eine Netflix-Serie angesehen.

»Natürlich, Melanie.«

Sie setzte sich neben ihn. »Bella.«

»Ach. Bella.« Ein Lächeln leuchtete auf. »Meine Lieblingstochter. Wo ist denn Melanie?«

»In Bamberg. Sie studiert, Papa, und hat ihre eigene Studentenbude.«

»Stimmt, stimmt.« Josef strich sich über die Stirn, als geriete er ins Schwitzen bei dermaßen vielen Informationen. »Wann kommt sie denn heim?«

»Vielleicht am Wochenende«, wich Bella aus, wohl wissend, dass ihr Vater die Antwort bald vergessen haben würde. Ihre Tochter Melanie probierte sich gerade in ihrem eigenen Leben aus, hatte einen Freund, einen gewissen Ed, ein schlaksiger Knabe, der seinen Pubertätspickeln noch nicht ganz entwachsen war. Manches Mal hatte Bella Melanie gebeten, bei ihrem Großvater nach dem Rechten zu sehen, vielleicht ein- oder zweimal die Woche, aber selbst dazu war Melanie sich zu fein gewesen.

»Am Wochenende.« Josef Blum blickte auf seinen Arm. »Warum habe ich den Gips?«

»Das ist nur eine Schiene, Papa, keine Sorge. Die kommt bald weg. Nur um deine Knochen zu stabilisieren, verstehst du?«

Josef hatte sich vor zwei Wochen die Hand gebrochen. Die anschließende Operation inklusive Narkose hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. So sehr, dass Bella ihn zu sich nach Hause holte, wo er nun in Melanies Zimmer wohnte und zunehmend die Orientierung verlor.

»Wann werde ich eigentlich operiert?«

Er fragte ab und zu nach. Dabei war er längst operiert. Bella brach es das Herz, wenn er sie so konfus und ängstlich ansah, als fürchte er sich jedes Mal neu vor dem Eingriff.

»Du hast es schon hinter dir. Vor 14 Tagen. Weißt du noch?« Bella hatte jede freie Minute bei ihm in der Klinik verbracht, weil er extrem abbaute und seine Verwirrung sich nur legte, wenn er seine Tochter bei sich hatte. Ihren Redakteur hatte sie mit permanenter Abwesenheit auf die Palme gebracht und ihre Artikel nach diversen Abendterminen in tiefer Nacht getippt.

»Ach so? Wie gut!« Erleichtert wandte der alte Mann sich wieder dem Tablet zu.

»Schau dir in Ruhe deine Serie an!« Bella küsste ihn auf die stoppelige Wange. »Ich bin nur kurz weg, in Ordnung?« Für Momente überlegte sie, ob sie ihre Nachbarin Hilde bitten sollte, ihrem Vater Gesellschaft zu leisten, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Hilde nervte auf ganzer Linie und stellte ohnehin dermaßen viele Ansprüche an Bella, dass sie besser unsichtbar blieb. Wenn sie daran dachte, dass sie ab Sonntag für den dörflichen Weihnachtsmarkt eingespannt war, wurde ihr blümerant. Wie jedes Jahr erwartete Hilde Kaminsky und mit ihr die Dorfgemeinschaft, dass jeder sich mit allen seinen Mitteln und Kräften für den Weihnachtsmarkt engagierte. Bella hatte bereits daran gedacht, Diethard zu bitten, seinen Jahresurlaub auf die Vorweihnachtszeit zu legen, um dieser Verpflichtung zu entkommen. Aber Hilde war unerbittlich. Als nicht berufstätige Vollzeitmutter ans Haus gefesselt, welches ihre beiden pubertierenden Söhne Tim und Simon täglich in wildes Chaos verwandelten, suchte sie sich Bestätigung im Organisieren des Dorflebens. Der Weihnachtsmarkt war darin der uneingeschränkte Mittelpunkt, sozusagen Epizentrum des wahren und rechten Lebens.

Josef war bereits in seinen Film vertieft.

Rasch schlüpfte Bella in ihren Anorak und glitt aus dem Haus.

6

Bella bremste den Mini ab. Es schneite aus grauen Wolken. Friedfertiges Grauweiß bedeckte die »Narbe«. Von Seiten des Dorfes war der Flurbereinigungsweg durch Flatterband gesperrt. Vermutlich auch von der Siedlungsseite. Ein Wagen parkte direkt vor dem Band. Bella hielt daneben, setzte ihre rote Pudelmütze auf, kramte ihren Presseausweis aus der Seitenablage und marschierte los.

Ein Mann in einem dicken Parka stand an der Stelle, wo Bella die Frau gestern gefunden hatte, und starrte verdrießlich auf den Boden. Unbeholfen ging er in die Hocke.

»Grüß Gott!«, rief Bella gegen den Wind.

»Hier ist gesperrt. Haben Sie zufällig das Band gesehen?«

»Bella Graukorn. Ich schreibe für die Tageszeitung.« Sie zog ein Päckchen Mentos aus der Tasche. »Möchten Sie?«

»Von mir aus.« Er nahm eins. »Sind das nicht die lebensgefährlichen Kaubonbons? An denen man stirbt, wenn man sie mit Cola isst?«

»Dann trinken Sie halt kein Cola dazu.«

Er steckte den Drops in den Mund. »Danke für den Rat.«

»Sind Sie von der Polizei?«

Der Mann knurrte etwas Unverständliches.

»Ich habe die Frau gestern Abend gefunden.«

»Ach, Sie waren das? Ich habe Ihre Zeugenaussage gelesen. Wir werden Sie vielleicht noch einmal reinbestellen müssen.«

»Haben Sie schon …«

»Nein, ich habe noch nicht.«

Du glaubst doch wohl nicht, dass ich mir von patzigen Mitmenschen den Schneid abkaufen lasse!

»Der Unfallfahrer muss das Opfer auf den Acker geschleudert haben. Sie hat sich dann noch zum Weg zurückgeschleppt«, brachte sie ihr Wissen vor.

Der Mann stemmte sich hoch, stülpte zum Schutz vor dem Schnee die Kapuze über den spärlich behaarten Kopf.

»Was wollen Sie hier?«

»Mein Trauma bewältigen.« Bella streckte die Hand aus. »Und meine Arbeit machen. Schließen Sie Frieden mit mir, ich bin kein Sicherheitsrisiko.«

»Oberkommissar Köhler. Werner.« Er schlug ein. Eiskalte Pranke. »Der Schnee hat die Spuren zugedeckt, aber sehen Sie diese Vertiefung da im Acker?« Er deutete hin. »Da ist sie aufgeschlagen. Der Aufprall hat sie durch die Luft geschleudert. Die Spurenlage war gestern Nacht noch ein bisschen besser. Wir haben Fotos. Sie ist dann tatsächlich bis hierher gekrochen.«

»Wo ich sie gefunden habe. Ich dachte zuerst, da liegt ein Stück Holz oder was weiß ich.« Bella schob fröstelnd die Hände in die Anoraktaschen. »Wissen Sie, wer sie ist?«

»Noch nicht. Sie?«

»Ich habe sie nicht erkannt. Das Gesicht sah schrecklich aus. Irgendwie kam es mir leidlich bekannt vor. Aber ihre Züge waren verzerrt, und sie hatte schwarze Flecken unter den Augen.«

»Wohnen Sie da drüben?« Köhler wies auf das Dorf.

»Ja. Seit gut 20 Jahren.«

»Stammt das Opfer aus dem Dorf?«

»Nicht, dass ich wüsste. Wie gesagt, ihr Gesicht war ex­trem entstellt.« Bella wies mit dem Kinn zur Siedlung. »Vielleicht stammt sie von der dunklen Seite.«

»Sie machen wohl Witze.«

»Nein, die beiden Ortsteile sind einander nicht grün.«

»Ach?« Köhler funkelte Bella an. »Ihr mögt euch nicht? Dabei waren Sie doch gestern dort drüben, wenn ich die Aussage richtig gelesen habe.«

»Beruflich. Infoveranstaltung. Ich muss drüber schreiben.«

»Und jetzt auch noch über den Unfall.«

»Genau.«

»Der ist natürlich viel interessanter.«

»Trifft zu.«

Köhler grinste. »Sie sind wenigstens ehrlich.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe kein Problem mit der Siedlung. Ich kaufe sogar im Bioladen ein.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Aber es gibt Hardliner.«

»Da bin ich ja froh, dass ich nur in Sachen Fahrerflucht ermitteln muss.«

»Was wissen Sie über den Wagen?«, hakte Bella sofort ein.

»Ein ziemliches Kaliber. Leider ist mit den Reifenspuren nicht viel anzufangen. Zu nass, und dann sind ja andere auch noch über den Weg gefahren.«

»Ich zum Beispiel. Verdammt, warum konnten wir sie nicht retten?«

»Das fragt man sich immer.« Köhler seufzte. »Allzu oft findet sich keine befriedigende Antwort. Wir haben keine Hinweise bei der Toten gefunden. Keinen Ausweis, nichts.«

»Keine Handtasche?«

»Das hätte mich glücklich gemacht.«

»Was trug sie für Kleidung?«

»Allerweltssachen. Nichts besonders Teures, nichts besonders Billiges.«

»Spazierengehen würde eine Frau nicht bei diesem Wetter. Nachts um 22 Uhr. Bei Schneetreiben.«

»Meine Leute haben Fußspuren ausgemacht, die zu ihr passen. Sie kam von da drüben.« Er zeigte genau in den Scheitelpunkt am nördlichen Ende des Ortes, wo beide Gemeindeteile beinahe zusammenwuchsen. »Dort oben ist der ›Dorfkrug‹. Wir haben herumgefragt. Sie wurde dort nicht gesehen. Ehrlich gesagt, die Spuren sind nicht allzu aussagekräftig.«

Bella knetete ihre Unterlippe. »Wäre auch wenig wahrscheinlich. Wenn sie im Wirtshaus war, warum ging sie dann nicht direkt ins Dorf oder in die Siedlung? Sondern hier raus auf den Acker?«

»Liebeskummer?«

»Hat mein Bruder gerade.«

Köhler stampfte mit den Füßen, um warm zu werden. Es sah aus wie ein bäriger Steptanz. »Sie wollte vielleicht allein sein. Nur mal Luft schnappen.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Jedenfalls war sie nicht im Wirtshaus. Der Wirt kannte sie gar nicht.«

»Haben Sie ihm ein Foto von der Toten gezeigt? Dann wundert’s mich nicht.« Bella grub ihren Notizblock aus der Anoraktasche. »Was kann ich schreiben? Dass niemand sie kennt? Dass sie nicht im ›Dorfkrug‹ war? Dass es Fußspuren gibt? Die fehlende Handtasche, dass sie keinen Ausweis dabei hatte?«

Köhler hob die Schultern. »Von mir aus. Rufen Sie mich an, wenn Sie Fragen haben.« Er reichte Bella eine Visitenkarte.

»Danke.« Sie gab ihm ihre. »Was haben Sie hier eigentlich gesucht?«

»Eine Inspiration. Und Sie?«

»Wahrscheinlich das Gleiche.«

Bella stapfte zum Flatterband zurück. Als sie gerade in ihr Auto steigen wollte, fuhr ein Pick-up vor. Der Fahrer drückte kurz auf die Hupe.

»Hier geht’s nicht durch.« Bella wies auf das Band. »Hallo, Ferdinand.«

Der grobschlächtige Mann hinter dem Steuer ließ das Fenster herunter. »Was ist das denn für eine Sauerei!«

»Wolltest du in die Siedlung?« Bella grinste in sich hinein. Ferdinand Weißgerber, ein eingefleischter Dörfler, mied die Neubausiedlung wie Pest und Cholera.

Er schlug mit der Pranke auf sein Lenkrad. »Dass so etwas bei uns passiert! Fahrerflucht! Sauerei.«

Bella nickte. »Ganz meine Meinung.«

»Dem breche ich alle Knochen, der das gemacht hat.« Er ließ das Fenster hoch und wendete, dass der Schnee nur so spritzte.

7

Zufrieden klickte Bella auf »senden«. Ihr Artikel für die morgige Ausgabe würde noch rechtzeitig in der Redaktion sein. Nach dem mühsamen Mittagessen mit ihrem Vater, der wie ein trotziges Kind das Gemüse auf dem Teller herumschob, hatte sie ihn dazu gebracht, sich hinzulegen. Eine geschenkte Stunde, in der sie sich abgemüht hatte, die wenigen Informationen zu einem Bericht zusammenzustellen, der genügend Fragen beantwortete, aber auch noch Raum für Neugierde ließ. Der Todesfahrer musste wahrscheinlich jemand aus dem Dorf oder der Siedlung gewesen sein. Bei dem Aufprall war in der Karosserie des Wagens mit Sicherheit eine Delle entstanden. Früher oder später fiele das auf. Bella rieb sich die Hände. Wie in den beiden Jahren vor Melanies Geburt, als sie für das damals gerade stark gewordene Lokalradio als Reporterin arbeitete, genoss sie das fiebrige Gefühl, an einem Rätsel dran zu sein, das verzwickt, aber dennoch zu knacken war. Wie das Kreuzworträtsel freitags in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Diethard abonniert hatte.

Doch jetzt begann das Modul »Freizeit«.

Die bestand darin, nach ihrem Vater zu sehen. Josef kam mit seiner verbundenen Hand gut zurecht, und auch sonst war er mobil genug, um im ganzen Haus umherzutrotten und mitunter Dinge von ihrem angestammten Platz zu einem anderen zu bringen. Bella und Diethard versuchten sich anzugewöhnen, Portemonnaies, Schlüssel und Handys samt Ladekabeln im Schlafzimmer unter Verschluss aufzubewahren. Natürlich vergaß einer von beiden das meistens. Erst gestern Morgen hatte es eine Krise gegeben, weil Diethard seinen Autoschlüssel nicht finden konnte. Sein Schwiegervater hatte ihn in der Gästetoilette auf einer Ersatzklorolle deponiert.

Bella stand vom Stuhl auf, das Ziehen im Kreuz ignorierend. Sie musste sich dringend um einen besseren Schreibtischstuhl kümmern, das alte Ding würde ihr noch das Rückgrat brechen. Die meisten Möbel in ihrem winzigen Studio stammten aus vergangenen Dekaden: Schreibtisch, Rollschrank und Aktenablage hatte sie von ihrem Vater abgestaubt, als der in Pension ging und keinen Wert mehr darauf legte, täglich Stunden in einem Arbeitszimmer zu verbringen.

Auf dem Flur knipste sie das Licht an. Draußen war es schon fast wieder dunkel. Hatte sie doch länger als gedacht hier gesessen? Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen.

»Papa?«

Stille im Haus.

Nicht nervös werden, Bella.

»Papa?«

Nichts. Sie sah rasch in die Zimmer im ersten Stock, ließ auch das Bad nicht aus, flitzte dann nach unten. Das Wohnzimmer: leer. Küche: leer. Gästetoilette: leer. Diele: leer. Josefs Winterstiefel standen ordentlich auf der Abtropfmatte.

Fuck!

Wenn er ausgerückt ist und draußen zu Schaden kommt, verzeihe ich mir das nicht.

Hektisch schnappte Bella ihren Anorak, stieg in ihre Boots und griff nach der Taschenlampe.

Kann das sein, dass er weg ist und ich nichts gemerkt habe?

Der verdammte Artikel hatte sie total in Beschlag genommen. Bella riss die Haustür auf. Es regnete. Oder graupelte. Irgendwas zwischen Regen und Schnee. Rasch sah sie auf die Uhr. Halb vier. Ihr fiel auf, dass die Beleuchtung nicht ansprang. Wahrscheinlich stimmte etwas mit dem Bewegungsmelder nicht. Sie betätigte den Schalter. Das Außenlicht warf einen milchigen Lichtkegel in den düsteren Garten.

»Papa?« Bella lief ums Haus herum.

Bitte, liebes Universum, sorg dafür, dass er wenigstens hier im Garten ist.

Auf der Terrasse wartete die Gartengarnitur auf den Frühling. Das konnte noch dauern. So ungefähr vier Monate, rechnete Bella resigniert nach. Ihr Mund war ganz trocken. Sie warf einen Blick über die Buchsbaumhecke. Drüben bei den Kaminskys brannte das Terrassenlicht. Die Jungs hatten sich an einem Schneemann versucht, der mittlerweile schlapp in den Seilen hing. Mit 14 mochte man sich noch auf den Winter freuen. Später war alles nichts als Mühsal. Winterreifen, Streusalz, Stürze, Auffahrunfälle, Winterdepression. Sie kniff die Augen zusammen. War das nicht …

»Papa!«, rief sie nun lauter.

Ihr Vater stand auf der Terrasse der Kaminskys und spähte ins Wohnzimmer, beide Hände um die Augen gelegt. Bella schwankte zwischen Erleichterung, ihren alten Herrn auf dem Radar zu haben, und Ärger, dass er sich ausgerechnet bei den Kaminskys herumtrieb. Nun würde sie in Hildes Fänge geraten und …

Die Terrassentür drüben wurde geöffnet.

»Aber Herr Blum!«, flötete eine Stimme.

Bella machte, dass sie sich durch die Hecke quetschte.

»Papa!«, rief sie. »Hilde! Entschuldige bitte!«

Ihre Nachbarin stand in der Terrassentür, blinzelte betont verwirrt in Bellas Richtung und schaffte es, gleichzeitig Josef anzustrahlen, der ohne Jacke und in Hausschuhen nun die Hand ausstreckte und Hildes schüttelte. Hilde Kaminsky lachte. Das blonde Haar, das nach neuer Farbe und einer Feuchtigkeitsspülung förmlich schrie, stand in alle Richtungen ab.

»Meine Güte, Herr Blum, schön, dass Sie mal reinschauen! Ich freue mich immer über Besuch! Sie wissen doch, ich bin den ganzen Tag mit den Buben allein, und bis Herbert abends nach Hause findet …«

»Ja, wir Männer sind Rabenväter.« Josef grinste spöttisch.

Womit er nicht ganz falsch liegt, wenngleich er sich selbst wahrscheinlich nicht dazurechnen würde, dachte Bella. Die Alltagsprobleme hatte Josef in ihrer Kindheit gern seiner Frau überlassen, um dann bei besonderen Anlässen hart durchzugreifen. Seine Autorität als Familienoberhaupt klarzumachen. Obwohl Bella als sein Liebling kaum ins Fadenkreuz geraten war.

»Kommt doch rein! Hallo, Bella!« Hilde zwinkerte ihr zu.

»Danke, Hilde, wir müssen heim, ich habe das Abendessen auf dem Herd.«

Gelogen. Sie weiß es wahrscheinlich. Egal. Ich will jetzt nicht bei Kaminskys auf dem Sofa hocken.

»Nur kurz, bitte, Bella. Dein Vater ist ganz durchgefroren.«

Verdammte Schuldgefühle.

Mein Vater, der seinen Sohn im Winter ausgesperrt hat. Um es ihm mal zu zeigen.

Genervt streifte Bella die Stiefel und mit ihnen die de­­struktiven Erinnerungen ab und folgte ihrem Vater in Hildes Wohnzimmer. Das wohlorganisierte Tohuwabohu einer Familie mit 14-jährigen Zwillingsjungen umfing sie. Technikkram lag herum, Zeitschriften, Radhelme, Parkas.

»Ich mache uns einen Tee. Nicht wahr, ein Tee tut jetzt gut, oder Herr Blum?«

Josef sah seine Tochter Hilfe suchend an.

»Zu spät«, flüsterte sie ihm zu.

Er grinste, als habe sie einen schlüpfrigen Witz gemacht.

Er ist immer noch mein Vater. Der sich für mich nie fiese Strafen ausgedacht hat. Anders als für seinen Sohn.

Hilde war schon in Aktion. Die Kaminskys hatten im vergangenen Sommer umgebaut, Mauern durchbrochen und eine Kücheninsel ins Wohnzimmer gesetzt. Bella mochte das. Hilde nicht.

»Setzt euch!«

Bella schob ihren alten Herrn auf einen Barhocker direkt neben dem Frühstücksboard.

»Mach’s dir bequem, Papa.« Entmutigt warf Bella einen Blick auf seine vom Schnee durchweichten Pantoffeln. Sie würde ihm neue kaufen müssen.

»Die Hocker wollte Herbert unbedingt haben. Ich vermisse meine gemütliche Küchenecke«, verkündete Hilde.

Josef Blum zwinkerte seiner Tochter verschmitzt zu und griff nach der Zeitung, die aufgeschlagen auf dem Board lag.

»Die Jungs sind mit Schulfreunden auf die Eisbahn nach Haßfurt gefahren. Hoffentlich toben sie sich da mal so richtig aus.« Hilde sah Bella scheel an. »Stimmt das«, fragte sie halblaut. »Du hast die Tote entdeckt?«

Die wesentlichen Informationen hatten sich also bereits im Dorf herumgesprochen.

»Sie war noch am Leben, als ich sie gefunden habe, kurz darauf starb sie.« Bella schluckte.

»Wie schrecklich!« Hilde streute Kräuter in eine Kanne. »Weißt du, wer sie ist?«

»Nein. Wolters hat mir die Story gegeben.« Bella beschloss, dass diese Version für Hilde genau die richtige war.

»Du schreibst darüber?«

»Hm«, machte Bella. Wieder flackerte das Blaulicht vor ihrem inneren Auge. Sie hörte das Aufstöhnen der Frau. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ein Schauder kroch ihr übers Rückgrat. »Du hast nicht zufällig einen Kognak da?«

War da wirklich ein Tier gewesen? Dieses Zucken in der Dunkelheit?

Verschwörerisch griff Hilde nach einer Flasche. »War eigentlich für die Weihnachtsbäckerei gedacht.«

Oh verdammt. Weihnachten.

»Ich meine, ich habe längst mit den Plätzchen angefangen. 16 Sorten mache ich, jedes Jahr, meine Männer würden das merken, wenn ich nur 14 oder gar zehn backe. Sobald es um Plätzchen geht, sind sie gnadenlos.« Sie goss großzügig drei Gläser voll. »Wer ist die Frau?«

»Weiß ich nicht. Ich hatte den Eindruck, dass ich sie schon mal gesehen hätte, aber ehrlich gesagt, sie war so entstellt, überall Blut, der Mund verzerrt, Flecken unter den Augen, außerdem war es ja dunkel …« Bella biss sich auf die Lippe. Sie hatte nicht vor, Hilde mit allzu vielen Details auszustatten.

»Meine Güte, ich kann mir vorstellen, wie sehr dich das mitgenommen hat. Was wolltest du denn bloß so spät dort draußen?«

Bella sah zu ihrem Vater hinüber, der in der Zeitung blätterte, als säße er beim Zahnarzt im Wartezimmer.

»Ich hatte einen Termin in der Siedlung.«

»In der Siedlung?« Hilde Kaminsky klang, als habe Bella einen Ausflug ins Fegefeuer unternommen. »Was wolltest du da denn?«

»Beruflich. Eine Veranstaltung im Bioladen.«

»Hör mir bloß auf.« Hilde sah Bella finster an. »Diese Tussi, wie heißt sie noch gleich, Wendy oder so, die wollte glatt einen Stand auf unserem Weihnachtsmarkt aufstellen. Der habe ich gleich erklärt, was los ist.«

»Echt?«

»Na, hör mal. Das ist unser Weihnachtsmarkt. Und gesunde Knabbereien backen die Weißgerbers. Mit Honig von ihren eigenen Bienen. Was brauchen wir da einen Bioladen, Bella!« Endlich schob Hilde ihr ein Glas hin. »Hier.«

»Danke.« Bella stürzte den Kognak hinunter. Die wohlige Wärme breitete sich zugleich in Kopf und Bauch aus. Jetzt noch eine Zigarette und sie käme runter. Auf ein erträgliches Level.

Wenn ich nur wüsste, wer sie ist.

Sie griff nach Josefs Glas.

»Du gehst aber ran!« Hilde ließ ihr Schulmädchenkichern hören. »Und dein Vater?«

»Er sollte lieber keinen Alkohol trinken, er nimmt noch Schmerztabletten und alles Mögliche andere.«

Josef Blum war in die Zeitung vertieft und achtete nicht auf das Gespräch der beiden Frauen.

Sie stießen an. Bella spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde.

Ihr Handy ließ die Drumsticks wirbeln.

»Gehst du nicht ran?«

»Nur eine Nachricht. Kann ich später anschauen.«

Wahrscheinlich Diethard.

Hilde hob den Zeigefinger.

»Apropos Chatnachrichten! Bella, hör mal, die Maffelders und wir, wir haben eine Idee.« Ihr Blick fiel auf die Teekanne. »Ach du Schreck, den Tee habe ich ja ganz vergessen.« Sie schaltete den Wasserkocher ein.

»Ich höre.«

Bella mochte die Nachbarn gegenüber nicht besonders. Die beiden bespitzelten die Umgebung mit Leidenschaft. Renate Maffelder lebte für die Überwachung der Straße, und ihr Mann Egon führte Listen über Pkws, die nicht ins Dorf gehörten. Beide frühpensionierte Lehrer, ausgelaugt vom Berufsleben und dabei zu jung und fit, um nicht neue Herausforderungen zu suchen.

»Weißt du, in letzter Zeit sind viele unbekannte Fahrzeuge hier unterwegs gewesen. Im Sommer, wenn es lange hell ist, kriegt man das eher mit, aber Renate schwört, dass seit einem Monat immer wieder ein dunkler SUV herumfährt. Getönte Scheiben und so. Wir haben Bedenken, dass es jemand sein könnte, der Häuser ausspioniert.« Hilde sah kurz zu Josef, der immer noch las, wobei er die Lippen bewegte. »Es geht ihm nicht gut, oder?«, flüsterte sie.

»Die Verwirrung kommt von der Narkose. Es dauert einfach, bis er sich wieder orientiert.«

Falls er sich je wieder vollständig orientiert.

»Tja, bei den alten Leutchen ist das nicht so einfach.« Der Wasserkocher klackte. Hilde goss den Tee auf. »Also, hör zu: Wir wollen eine Nachbarschafts-Chatgruppe einrichten. Simon hilft mir, hat er gesagt. Mit uns allen drin. Die alte Garde, du weißt schon. Die wichtigsten Familien im Dorf. Damit wir uns gegenseitig informieren können, wenn was passiert.«

Was soll schon passieren! Wir gehen uns höchstens selbst an die Gurgel.

»Außerdem hat Renate einen Schwager, der ist bei der Polizei, und den würde sie mal einladen, dass er uns aufklärt, was zu tun ist, zum Schutz vor Einbrüchen. Ihr seid dabei?«

Hilde Kaminskys Tonfall machte deutlich, dass Widerspruch nicht vorgesehen war.

»Sicher«, erwiderte Bella daher.

Ich bin das so leid.

»Hier, die Tassen!« Hilde stellte Geschirr auf das Frühstücksboard. »Herr Blum, nehmen Sie Zucker?«

»Nimmt er nicht«, sagte Bella.

»Aber mit dem größten Vergnügen«, rief Josef Blum.