Kitabı oku: «O du fröhliche, o du grausige», sayfa 3

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8

Kaum hatte sie ihren Vater nach Hause bugsiert, stürzte er sich auf Diethards Tablet.

»Zieh die Hausschuhe aus, Papa, die sind klatschnass. Ich bringe dir trockene Socken.«

Er schüttelte die Pantoffeln ab, ungeduldig, als könne er es nicht ertragen, auch nur eine Minute länger auf seine Serie zu verzichten. Normalerweise hätte Bella sich neben ihn gesetzt, einfach, um ihm Gesellschaft zu leisten und ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Sie wusste nicht einmal, mit was für einem Blödsinn er sich die Zeit vertrieb. Doch mittlerweile plagte sie das Bedürfnis nach Nikotin derart, dass sie in die Küche hinüberging und nach der Schachtel griff. Zugleich checkte sie ihr Handy.

Sie hatte eine Nachricht von Oberkommissar Köhler verpasst.

»Todesopfer identifiziert.«

Knapper ging’s nicht.

Kurz nach sechs. Das würde sie vor Redaktionsschluss noch hinkriegen. Sie rief ihn zurück.

»Na endlich. Dachte schon, Sie hätten kein Interesse an der Story mehr.«

»Mein Vater wird dement. Ich musste ihn im Nachbargarten aufsammeln.« Bella dachte an die ruinierten Hausschuhe.

Keine Sache des Geldes. Aber neue zu kaufen kostet Zeit. Die ich nicht habe.

»Tut mir leid.«

»Muss es nicht.« Sie setzte sich an den Küchentisch. Hildes gestylte Kücheninsel spukte ihr durch den Kopf. Sie stippte eine Zigarette aus der Schachtel. »Wer ist sie?«

»Mariella Fonti. 22. Aupair-Mädchen bei Peter und Sabine Kessler in Silldorf.«

»Die Kesslers! Das gibt’s ja nicht.« Bellas Feuerzeug klickte.

»Sie rauchen?«, knurrte Köhler.

»Sie nicht?«

»Nicht mehr.«

Bella grinste. »Kenne ich. Es gibt immer ein neues ›Nicht mehr‹. Darf ich das schreiben?«

»Sonst hätte ich es Ihnen nicht mitgeteilt. Herr Kessler wandte sich heute an die Polizei und meldete die junge Frau als vermisst.«

»Verdammt. Ich erinnere mich, dass sie im September eine Französin als Aupair hatten. Sie kam aus den Vogesen. Aber Mariella Fonti klingt eher italienisch.«

»Sie ist Italienerin. Aus Florenz. Von einer Französin weiß ich nichts.«

Bella inhalierte den Rauch. Draußen fuhr ein Wagen vorbei. Sie warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. War das Renate Maffelders gefürchteter Spionage-SUV?

»Kessler behauptete, die Familie hätte am Mittwochabend gar nicht mitbekommen, dass Mariella das Haus verließ«, fuhr Köhler fort. »Als sie am Morgen nicht stramm stand, um sich um den Sohn zu kümmern, suchte er sie. Ihr Zimmer war leer.«

»Hm«, machte Bella. »Die Kesslers sind eine alteingesessene Familie in Silldorf. Peter ist spät Vater geworden. Das Kind ist ein Problemkind, ein fünfjähriger Tyrann mit ADHS, Erdnussallergie und allem Pipapo.«

»Ein Traummodell also.«

»Wenn Sie so wollen.« Bella sah, wie Diethards Wagen in die Einfahrt einbog. So früh? Verdammt, ihn konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen. »Danke für den Tipp jedenfalls.«

»Wir brauchen Zeugen. Wo war Mariella gestern Abend? Laut Peter Kessler haben er beziehungsweise seine Frau das Mädchen um 19 Uhr zuletzt gesehen. Sie aßen gemeinsam zu Abend. Daraufhin zog sie sich auf ihr Zimmer zurück.«

Der Hausschlüssel drehte sich im Schloss.

»Also liegen zwischen dem Verlassen des Hauses und ihrem Tod drei Stunden, in denen sie irgendwas gemacht hat, was dann mit dem Unfall endete.«

»Vielleicht meldet sich jemand, der sie kannte oder sie gesehen hat.«

»Was hat sie denn sonst mit ihrer Freizeit angestellt?«

»Kessler behauptet, nicht viel. Sich mit ihrem Handy beschäftigt. Gelesen. Deutsch gelernt.«

»Konnte sie es gut?«

»Bella?«, rief Diethard aus der Diele.

»Er sagt, ihre Sprachkenntnisse wären ausreichend gewesen. Ich schicke Ihnen Mariellas Foto weiter. Es ist bereits an sämtliche Lokalredaktionen gegangen.«

Er hat mich angerufen, dachte Bella. Welche Hintergedanken hat er? Ein kurzer Anruf in der Redaktion hätte ausgereicht. Und Wolter hat mir bis jetzt nichts von dem Foto gesagt.

»Noch was, Frau Graukorn.«

»Ja?«

»Das Screening ergab, dass sie Amphetamine und Morphine im Blut hatte.«

»Hebt sich das Zeug nicht gegenseitig auf?«

»So einfach ist das nicht. Sie könnte Morphine gegen Schmerzen genommen haben, wollte zugleich wach bleiben und hat deshalb die Amphetamine eingeworfen.«

»Was ist mit der Fahrerflucht?«

»Bisher keine Erkenntnisse.«

Bella hatte den Eindruck, er wollte noch etwas hinzufügen, und wartete ab, doch anscheinend überlegte Köhler es sich in letzter Sekunde anders.

»Bella?« Diethard stürmte die Küche und verstummte, als er Bella telefonieren sah.

»Ich glaube, Ihr Typ wird gewünscht«, bemerkte Köhler.

»Sieht ganz so aus, Herr Oberkommissar.« Sie grinste ihren Mann an. »Einen schönen Abend noch.«

9

»Liebling, ich muss noch dringend was arbeiten. Die Zeit wird knapp.« Sie scrollte auf der Suche nach Wolters’ Nummer durch ihre Anrufliste.

»Ich hatte gehofft, du hättest ein Abendessen fertig. Mir knurrt der Magen.«

»Geht mir genauso. Mach einfach eine Brotzeit zurecht. Josef leistet dir bestimmt Gesellschaft.«

Diethard starrte Bella genervt an. »Also, ich weiß nicht …«

Am anderen Ende der Leitung meldete sich ihr Redakteur. »Was ist?«

»Wolters, die Tote ist identifiziert.«

»Habe ich mitbekommen, kam vorhin rein. Mit Bilddatei.«

Du hast es natürlich nicht für nötig befunden, mich anzurufen, dachte Bella wütend. Im Stillen dankte sie dem Oberkommissar für den Tipp.

»Ich habe eine Extrainfo. Die müssen wir morgen noch bringen. Reservier mir mehr Platz.«

»Du hast Nerven. Ich …«

»Noch ist genug Zeit bis zum Andruck!« Bella holte tief Atem. Bloß jetzt nicht in die Luft gehen. »Mariella Fonti war das Aupair einer Silldorfer Familie. Sie hatte Drogen satt im Blut.«

Wolters blieb eine Weile still. Bella meinte, sein Gehirn ticken zu hören. Also war die Information neu für ihn.

»Ich will den Artikel bis halb acht.«

»Krieg ich hin.« Sie legte auf.

»Bella? Was haben wir denn im Kühlschrank?«, ließ sich Diethard hinter ihr vernehmen.

Hektisch griff Bella nach Handy, Notizblock und Stift.

»Tür aufmachen und reinschauen.«

»Haben wir Tomaten da?«

»Du machst Witze. Mitten im Winter?«

»Wo gehst du denn hin?«

»Ich habe gestern eine sterbende Frau auf der ›Narbe‹ gefunden. Allem Anschein nach lebte sie bei uns im Dorf.«

»Du hast was?« Diethard guckte sie mit offenem Mund an. »Warum hast du nichts erzählt?«

»Weil du längst geschlafen hast, als ich heimkam, und heute Morgen habe ich es nicht hingekriegt.« Was sollte sie schon sagen. Er kannte ihre morgendliche Existenzkrise, seit sie beide zusammenlebten. Fast 30 Jahre.

»Du lieber Himmel. Ich …« Er hörte sich ehrlich erschrocken an.

»Wolters hat mir die Story gegeben. Ich stehe bald wieder der Familie zur Verfügung, aber jetzt muss ich mich sputen. Schau bitte ab und zu nach Josef.«

Diethard hatte selten Verständnis für so eine simple Sache wie einen Redaktionsschluss gehabt. Sie schob sich an ihm vorbei in die Diele. Lugte durch die Wohnzimmertür. Ihr Vater war eingeschlafen. Schlaff hing sein Kinn knapp über der Brust. Leises Schnarchen drang aus dem Zimmer.

Sie schlüpfte in ihre Stiefel.

»Ist noch mehr Brot da?«, hörte sie Diethard rufen. »Die paar Scheiben im Brotkasten reichen wohl kaum.«

Den Anorak vom Haken nehmend, flüchtete sie aus dem Haus.

10

Bella fuhr die paar Meter mit dem Auto. Das Haus der Kesslers hockte hell erleuchtet im Garten. Schneematsch zierte den Rasen, jemand hatte den Weg halbherzig freigeschaufelt. Ein Schlitten lag neben der Hecke, die Kufen nach oben. Als Bella das Gartentor aufstieß, flammte Flutlicht auf.

Sie klingelte, verstaute gleichzeitig Block und Stift in der Anoraktasche.

Das Licht in der Diele ging an. Sabine Kessler öffnete.

»Hallo? Ach, Frau Graukorn …«

Unsicher lugte die junge Frau durch den Türspalt. Peter Kessler hatte sie über ein Internetportal kennengelernt. Im Dorf war darüber getratscht worden. Sabine kam aus dem Steigerwald, das war kilometermäßig kein großes Ding, aber mental durchaus. Peter, der auch mit fast 40 noch keine abgekriegt hatte, lud sich eine viel jüngere Frau aus dem Netz runter. Hinter vorgehaltener Hand hatte man gefeixt. Bella betrachtete das müde Gesicht von Sabine Kessler.

»Einfach Bella. Ich schreibe für die Zeitung.«

»Ich weiß.« Sabine wischte sich über die Stirn. »Es ist so furchtbar.«

Irgendwo im Haus ertönte ein lang gezogener Klagelaut, der schnell in wütendes Gebrüll überging. »Mariella!!!«, plärrte eine Kinderstimme.

»Marlon haben wir natürlich nichts erzählt«, fuhr Sabine fort. »Er hängt so an Mariella!«

»Kann ich vielleicht reinkommen?«, bat Bella. »Es ist recht schattig draußen.«

»Ach so, ja.« Erschrocken über ihre eigene Unhöflichkeit trat Sabine beiseite. »Aber kein Wort zu Marlon! Wir haben ihm gesagt, Mariella musste für eine Weile nach Italien.«

»Ist Mariella gekommen?« Das Kind fegte in die Diele. Ein übergewichtiger Satansbraten mit intelligenten Augen und dem Durchsetzungsvermögen eines Mafiapaten.

»Nein, das ist Bella Graukorn.«

Zornig funkelte Marlon Bella an. »Wo ist Mariella?«

»Das weiß ich leider nicht«, sagte sie. Die Uhr lief. Sie brauchte ein paar emotionale Momentaufnahmen, mit denen sie ihren Artikel aufpeppen konnte. Die leidende Gastfamilie, das unzufriedene Kind, man weint um Mariella. So in der Art.

Marlon rutschte auf seinen Noppensocken durch die Diele, trommelte mit den Fäusten gegen die Wand.

»Im Dorf sagen sie, du hättest Mariella gefunden.«

»Ja, das stimmt.«

»Hat sie gelitten?«

»Sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Wahrscheinlich wurde sie durch den Aufprall gleich so schwer verletzt, dass sie nichts mehr mitbekam.«

»Hoffentlich.«

»Sabine«, Bella legte der jungen Frau die Hand auf den Arm. »Ich muss dir das so offen sagen: Ich brauche ein bisschen Stoff für die Zeitung. Mariellas Bild ging an die Redaktionen. Man möchte herausfinden, was sie in den drei Stunden, nachdem sie das Haus verlassen hatte, gemacht hat. Bevor der Unfall passierte. Vielleicht hat sie ja jemand gesehen.«

Sabine nickte ergeben.

Marlon wandte sich um und watschelte zu den beiden Frauen.

»Seit wann lebte Mariella denn bei euch?«

»Seit Mitte Oktober.«

»Ich dachte, ihr hättet ein französisches Aupair gehabt.«

»Hatten wir auch, allerdings kam Emilie mit Marlon überhaupt nicht zurecht.«

Wundert mich nicht, dachte Bella, die zusehen musste, wie Marlon an der Jeans seiner Mutter riss. Der Fünfjährige entwickelte eine Heidenkraft, der seine zierliche Mutter kaum standhalten konnte.

»Ich will Mariella. Warum ist Mariella nicht hier? Und Lüneburg!«, kreischte Marlon.

»Lüneburg?«

»Der Beagle«, antwortete Sabine. »Er ist auch weg. Lass das, Marlon.«

»Ihr habt einen Hund?«

»Marlon wollte so gern einen.«

»Lüneburg ist mein Hund!«, trompete Marlon. »Meiner.«

Uff, dachte Bella. Wenn der Beagle genauso schwer erziehbar ist …

»Wir haben Lüneburg aus dem Tierheim geholt. Mariella mochte Hunde. Lüneburg ist drüben am Mainufer aufgefunden worden, er war verletzt, irgendwas an der Pfote, und niemand meldete sich, keiner wollte ihn wiederhaben, also haben wir ihn genommen.«

Die Scheinwerfer eines Wagens krochen über das Dielenfenster. Sabine machte keine Anstalten, Bella den Anorak abzunehmen oder sie weiter ins Haus zu bitten. In der Wärme kroch Bella der Schweiß aus den Poren.

»Wie gefiel es Mariella bei euch?«

»Sie war zufrieden. Fand gleich einen Draht zu Marlon. Ich bin Lehrerin, ich wollte dieses Jahr wieder arbeiten. Es klappte nicht, Marlon blieb nicht bei Emilie, und mein Chef hat mir nahegelegt, es lieber im nächsten Schuljahr zu probieren.«

»Wie sieht es mit Kindergarten aus?«

Sabine winkte ab.

Marlon hatte vom Hosenbein seiner Mutter abgelassen und begann nun, ihre Füße zu traktieren. Wütend kickte er gegen ihre Chucks.

»Hör auf, Marlon«, stöhnte Sabine.

»Was machte sie denn in ihrer Freizeit?«

Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt.

»O, da kommt Peter.«

»Papa!«, kreischte das Kind.

»Bella!«, rief Peter Kessler verdattert. »Was machst du denn hier?«

»Papa!!!!«, brüllte Marlon. Es klang nicht wie eine freudige Begrüßung, eher wie eine wütende Anklage. »Wo ist Lüneburg? Hast du Lüneburg gefunden?«

»Ich bin alle Spazierwege abgefahren, die wir je mit ihm gegangen sind. Nein, ich habe keine Ahnung, wo er steckt.«

Sabine ließ die Schultern hängen. Marlon warf sich auf den Boden und schrie wie am Spieß. Die Eltern durchlebten eine kurze Krise, bis Peter über das Gebrüll hinweg fragte: »Also, was ist los, Bella?«

»Ich brauche etwas für die Zeitung. Mariellas Foto liegt bereits in den Redaktionen. Irgendjemand hat sie vielleicht vor ihrem Unfall gesehen. Möglich, dass sich Zeugen melden.«

»Komm, wir gehen ein Stück.«

Er war schon zur Haustür draußen.

»Tschüss, Sabine, danke«, murmelte Bella und folgte ihm, erleichtert, die kindliche Feuerwehrsirene nicht mehr ertragen zu müssen.

»Sabine wird mit Marlon überhaupt nicht fertig«, beschwerte sich Peter.

Bella dachte an die tickende Uhr und an den Redaktionsschluss. Sie gingen durch den Garten zur Straße. Ein dunkler SUV parkte dort.

»Dein Wagen?«

»Ja.«

Sie liefen langsam den Gehsteig entlang. In den Häusern rundum brannte Licht. Man sah die Bewohner beim Abendessen sitzen, Fernsehgeräte flimmerten. Adventskränze, Lichterketten, Weihnachtsbäume, drinnen wie draußen. Alles irgendwie behaglich. Ein Dorf, das das Beste aus der dunklen Zeit des Jahres machte. Innerer Rückzug, Gemütlichkeit.

»Deine Frau sagt, Mariella fühlte sich wohl bei euch.«

»Ja, und sie hatte einen Draht zu Marlon. Na, sie ließ ihn machen, was er wollte, wahrscheinlich vergöttert er sie deshalb. Und sie überredete uns zu dem Hund. Hat Sabine das schon erzählt?«

»Hatte Mariella sich eingewöhnt? Oder litt sie an Heimweh?«

»Nein, ich glaube nicht. Sie hat abends immer am Handy mit ihren Freunden gechattet, aber das machen alle jungen Leute, und sie lernte eifrig Deutsch. Ich kann nichts Schlechtes über sie sagen. Wer war nur der Idiot, der sie angefahren hat? Und sie dann liegen ließ? Mein Gott, wie kann man das tun!« Peter blieb stehen. Trotz der Kälte stand ihm Schweiß auf der Stirn. Er wischte sich übers Gesicht.

»Die Polizei fand große Mengen Medikamente in Mariellas Blut«, wagte Bella sich vor. »Weißt du davon?«

»Das haben sie mir auch gesagt. Ein gewisser Kommissar Köhler.«

»War sie krank?«

»Mariella? Nein. Wieso?«

»Woher hatte sie dann die Medikamente? Peter, das waren härtere Sachen als Aspirin.«

Irgendwo sprang ein Wagen an. Das Geräusch verlor sich in der Nacht.

»Ich habe keine Ahnung.« Er schwitzte jetzt stark. Der Mantel schlotterte um seinen mageren Körper.

»Hat sie die nur einmal genommen?«

»Worauf willst du hinauf?«

»Möglicherweise hat Mariella euch gar nicht gesagt, dass sie harte Medikamente nimmt. Hat vielleicht eine Erkrankung verheimlicht.«

»Pah! Nie im Leben! Das hätte ich gemerkt.«

»Und der Hund? Ist in derselben Nacht verschwunden?«

»Sieht so aus. Ich komme zurzeit recht spät heim. Es gibt gerade ziemlich viel zu tun. Außerdem bin ich allein im Büro.« Er wand sich. »Daher führt Mariella Lüneburg aus. Führte ihn aus.« Er biss sich auf die Lippen.

Bella verstand ihn. Peter hatte von seinen Eltern ein Hausverwaltungsunternehmen übernommen. Die vielen Abendtermine spielten ihm nun in die Hände. Er wartete ab, bis das renitente Kind im Bett war, bevor er zu Hause aufschlug.

»Marlon wird bald aus der Trotzphase raus sein«, versuchte sie ihn zu trösten. Peter Kessler war ein schüchternes Kind gewesen. Als ihre Tochter geboren wurde, war er ein verklemmter Jüngling mit Akne, der von seinen Altersgenossen wegen seiner Unbeholfenheit gehänselt worden war. Einer, dem man auf Dorffesten fiese Streiche spielte. Dennoch war er in Silldorf geblieben. Auf eine bescheidene Weise hatte er sich freigeschwommen. Zumindest sah es so aus.

»Weißt du, wenn meine Eltern noch leben würden, dann wäre alles leichter. Mit dem Kind und so. Bevor Mariella bei uns wohnte, war Sabine immer allein für alles verantwortlich. Ich konnte keine Elternzeit nehmen. Also dachten wir, ein Aupair wäre ideal. Emilie war ein Reinfall. Wir waren so froh, dass es mit Mariella auf Anhieb klappte.« Er blieb stehen. Bella sah den Atem vor seinem Gesicht. Er keuchte vor Aufregung. »Morgen verständigt die Polizei in Florenz Mariellas Eltern. Mir bricht das Herz, wenn ich dran denke. Wir waren verantwortlich für sie. Ich meine, natürlich war sie erwachsen, aber dennoch … in einem fremden Land … Das fällt doch auf uns zurück.«

»Du hast nicht mitbekommen, wie sie das Haus verließ?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin noch mal weg. Eine Eigentümerversammlung in Zeil. Begann um halb acht und dauerte bis kurz nach zehn. Ich habe das der Polizei schon gesagt.«

Bella konnte seine Verzweiflung förmlich riechen. In ihrer Tasche wirbelten die Drumsticks. Sie zog das Handy heraus.

Hilde Kaminsky hat dich zur Gruppe »Nachbarschaft« hinzugefügt.

Sie verdrehte die Augen.

»Und Sabine? Was hat die an dem Abend gemacht?«

»Sie nahm nach dem Abendessen ein Bad, sobald Marlon im Bett war. Lüneburg schlief immer vor Mariellas Zimmer. Wir haben ihr das Apartment im Souterrain überlassen. Sie hatte einen eigenen Eingang. Abends kriegten wir wenig von ihr mit. Da ging sie eigentlich nur ihre Runde mit Lüneburg.«

»Absolut keine Spur von dem Hund?«

»Überhaupt keine. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Beagles sind Jagdhunde! Ist er gern mal ausgebüxt?«

»Im Gegenteil, er ist total anhänglich.«

»Jedenfalls wäre es prinzipiell vorstellbar, dass er jemandem zugelaufen ist, als Mariella mit ihm Gassi ging. Hast du ein Foto von Mariella mit dem Hund? Oder nur von Lüneburg? Ich würde es gern veröffentlichen.«

»Ich habe bestimmt ein, zwei Fotos auf dem Handy.«

»Kannst du mir so schnell wie möglich eins schicken? Es eilt. Redaktionsschluss.«

»Die Polizei will, dass ich Mariella identifiziere. Morgen früh muss ich das machen. Mein Gott, Bella!« Er packte sie am Arm. Angst flackerte in seinen Augen. Sein Atem roch sauer.

»Das ist keine leichte Aufgabe. Aber du wirst das schaffen, Peter. Es hilft ja nichts.«

»Nein. Es hilft nichts.«

Bella dachte an gestern Nacht. An die zuckende Bewegung hinter Mariella, als sie die Hand des Mädchens gehalten hatte. War das Lüneburg gewesen? Doch ein Hund würde, wenn seine Bezugsperson bewegungslos im Schnee läge, winseln, bellen, sich irgendwie bemerkbar machen. Nicht einfach im Dunkeln verschwinden. Womöglich war er ebenfalls verletzt?

»Ich muss los, Peter.« Behutsam befreite sie sich von seinem Griff.

Er nickte nur.

11

»Diethard? Ich bin zu Hause!«

Keine Antwort. Im Wohnzimmer brannte Licht. Man hörte die Stimme eines Nachrichtensprechers. Ein Blick auf die Uhr. Kurz nach sieben. In 20 Minuten musste ihr Text in der Redaktion sein.

Bella schlich die Treppe hoch. Drumstickwirbel. Peter hatte ein Foto geschickt: Es zeigte Mariella in einem schwarzen Pullover, dazu trug sie den auffälligen roten Schal mit den bunten Punkten. Sie kniete neben einem braunen Beagle, dessen eines Schlappohr quer über seiner Nase lag.

Bella stellte das Handy auf lautlos. Sie brauchte jetzt alle Konzentration. Oben in ihrem Arbeitszimmer warf sie den PC an. Sie öffnete ihren Artikel von zuvor, fand rasch die Stelle, an der sie persönliche Informationen zu Mariella einfügen konnte. Das italienische Aupair-Mädchen, das sich gut eingelebt hatte und mit dem Kind der Familie wunderbar zurechtkam. Ihre Tierliebe. Tiere weckten immer Emotionen. Vor allem, wenn sie verschwanden. So wie Lüneburg.

Lüneburg! Wer nennt seinen Hund um Himmels willen Lüneburg?

Die erschütterte Familie, die zurückblieb. Der kleine Junge, der seine Nanny vermisste. Bella musste behutsam vorgehen, durfte das Vertrauen der Kesslers nicht missbrauchen. Schrieb von den Drogen in Mariellas Blut und ließ durchblicken, dass die Gastfamilie nichts von einer etwaigen Erkrankung des Aupair wusste. Dazu die Frage: War jemandem der Beagle auf dem Foto zugelaufen?

Fertig.

Sie speicherte den Text und mailte ihn um fünf vor halb acht an Wolters. Gleich darauf rief sie ihn an. Unten klappte eine Tür.

»Ich bin’s, Bella«, rief sie gehetzt ins Telefon. »Der Text sollte jetzt in deinem Postfach sein.«

»Was Neues?«, knurrte Wolters.

»Die Familie hat einen Beagle namens Lüneburg. Der ist verschwunden, seit gestern. Vermutlich ist Mariella mit ihm rausgegangen, wenig später hat sich der Unfall ereignet.«

»Hm«, machte Wolters. »Knapp drei Stunden später, wenn ich richtig informiert bin. Bei den Temperaturen macht man keinen dreistündigen Spaziergang.«

»Der Hund ist jetzt seit 24 Stunden abgängig. Es ist nasskaltes Sauwetter, irgendwann kriegt so ein Tier Hunger. Bestimmt hat jemand den Beagle gesehen. Ich schicke dir ein Foto.«

»In Ordnung.«

Sie hörte Wolters auf seiner Tastatur herumklimpern. Jemand kam die Treppe hoch. Diethards schwere Schritte.

»Ich mache dann Feierabend. Schönen Abend noch.« Bella legte auf.

Es klopfte kurz. Diethard schob die Tür auf.

»Bel?«

»Ja, ich bin hier. Entschuldige, ich musste den Artikel fertigmachen. Redaktionsschluss.« Sie tippte auf ihre Uhr.

Diethard seufzte. »Sag mal, warum hast du nichts gesagt? Gestern, meine ich? Das ist doch schrecklich. Ich habe gerade im Internet von dem Unfall gelesen.«

Verdammtes Internet, dachte Bella. Da war also schon einer aufgesprungen.

»Morgen wirst du noch mehr lesen«, sagte sie zu ihrem Mann. »Jemand hat Fahrerflucht begangen, nach Spurenlage hat einer mit einem echten Dickschiff-Auto das Aupair-Mädchen der Kesslers angefahren und verletzt liegen lassen. Mariella muss sich noch ein paar Meter zurück zum Flurbereinigungsweg geschleppt haben. Als Nächste kam ich dann den Weg entlang. Gestern, nach meinem Termin bei den Impfgegnern.« Ihr schoss durch den Kopf, dass Wolters ihr den Impf-Artikel nicht ersparen würde. »Außerdem hatten die Kesslers seit Neuestem einen Hund. Aus dem Tierheim. Wusstest du das?«

»Ich? Meine Güte, was im Dorf passiert, kriege ich nur in langen Sommernächten mit. Wenn alle grillen.«

Bella grinste halbherzig. »Sollte dir nicht allzu viel ausmachen. Du bist ja nicht so der soziale Typ.«

»Wenn du damit meinst, dass ich mich ungern saufend verbrüdere …« Diethard zog eine Grimasse. »Ich lege mich gerade ziemlich krumm im Büro.«

»Gute Architekten werden eben immer gebraucht«, entgegnete Bella leichthin. Sie stand auf. »Mir knurrt der Magen. Habt ihr was zu essen übrig gelassen?«

»Darüber musst du dich nicht sorgen. Josef isst wie ein Spatz.«

Etwas Dunkles, Trauriges stülpte sich über Bella. »Leider, ja. Heute musste ich ihn bei den Kaminskys einfangen. Er ist einfach durch den Garten spaziert. In Hausschuhen, ohne Jacke.«

»Shit.« Diethard rieb sich das Gesicht. Seine dunklen Haare waren verstrubbelt, der Bartschatten hob sich überdeutlich ab. Sein Bartwuchs war so stark, dass er sich üblicherweise zweimal am Tag rasierte. »Wir stemmen das beide nicht, das ist dir doch klar, Bella, oder?«

»Heißt was?«

Diethards Kiefer mahlten.

Sie ahnte, worauf er hinauswollte, und verabscheute ihn dafür. »Du musst es mir nicht erklären, Diethard. Ein Heim kommt nicht in Frage. Noch nicht.«

»Du schiebst seine Verwirrung nur auf die OP-Nachwirkungen. Aber er war vorher bereits angeschlagen, das ist sogar dir aufgefallen.«

Bellas Magen knurrte. Wie lange war das Mittagessen her? Seit einiger Zeit brauchte sie regelmäßige Mahlzeiten, auf die sie sonst nie besonderen Wert gelegt hatte. Wenn ihr der Blutzuckerspiegel wegrutschte, wurde sie aggressiv und konfus. Beides zugleich.

»Emmy hilft ab Montag. Auf Melanie kann ich ja nicht zählen.« Es kam bitterer heraus, als sie gewollt hatte.

»Sie ist Studentin, Bella.« Diethard ließ sich auf das alte Sofa sinken, das früher, bezogen mit Pferdebildern, in Melanies Kinderzimmer gestanden hatte. Inzwischen war es neu gepolstert und jeansblau. »Sie hat jetzt ihr eigenes Leben.«

»Ich will sie doch nicht als Krankenschwester anstellen. Josef ist ihr Großvater, zum Henker, wer weiß, wie lange sie ihn noch hat! Ein paar Stunden die Woche könnte sie sich durchaus mit ihm zusammensetzen. Schach spielen. Das haben die beiden früher oft gemacht.«

Diethard seufzte. »Lass sie ihr Leben erproben. Sie hat einen Freund, alles ist noch neu, sie will nichts verpassen. Als wir in ihrem Alter waren, da schien alles möglich. Weißt du nicht mehr?«

»Sie ist immer dein Augenstern gewesen«, sagte Bella müde. Diethard hatte von jeher seine Tochter verteidigt, am vehementesten gegen Bella. Die vielen Streitereien hatte sie beinahe vergessen, erst jetzt, wo es ihrem Vater schlecht ging und sie permanent mit einem schlechten Gewissen herumlief, kamen die Konflikte wieder hoch. Melanie, die von der Mutter nicht bekam, was sie wollte, vom Vater aber schon. Anders als Bellas Bruder Rolf, den der Vater am langen Arm hatte zappeln lassen. Josef Blum, der Strenge, der Allmächtige.

»Unsinn. Aber ich kann sie verstehen. Sie braucht ihre Freiheit. Josefs Zustand ist ihr nicht anzulasten.«

Was nichts daran ändert, dass sie mir ab und zu helfen könnte.

»Ich dachte immer, eine Familie sei ein Team. Wo man füreinander einsteht.« Ihr Magen knurrte heftig. Plötzlich war ihr ganz schwindelig. Pizza wäre das Mittel der Wahl. Ein Käsebrot mit Gurke täte es auch. Vorerst. Sofern Ketchup im Haus war.

»Wir stehen ja füreinander ein, oder nicht?«, fragte Diethard treuherzig.

»Darf ich lachen? An mir hängt alles! Ich presse meine Arbeitstermine in den Alltag. Mehr schlecht als recht. Ich sehe nach Josef, ich schmeiße den Haushalt.« Sie fuhr den PC herunter. Ihr war beinahe schlecht vor Hunger und Zorn. »Es wird wirklich Zeit, dass Emmy einspringt.«

Wenigstens eine Person, auf die ich mich verlassen kann.

»Eine Dauerlösung ist das nicht.«

Meine Fresse, du reitest wirklich auf allem herum, bis es platt und zäh wie Leder ist, dachte Bella genervt. Sie stand auf.

»Ich muss was essen.«

»Vielleicht kannst du Josef noch etwas Appetit machen. Hast du eigentlich auch diese Nachricht von Hilde bekommen? Nachbarschaft?«

»Ach, das!« Bella schnappte sich ihr Handy. »Mamma mia! Sieben Nachrichten?«

»Erklär mir bitte, wie man das abschaltet.«

»Du kannst die Gruppe nicht abschalten, nur auf stumm stellen. Oder austreten. Das allerdings würde Hilde dir nicht verzeihen.«

Diethard klickte gereizt auf seinem Smartphone herum. »Was soll das bloß für eine alberne Aktion sein?«

»Die Maffelders sehen SUVs, die nicht hierhergehören, und kolportieren, das wären Einbrecher, die die Gegend ausspionieren.«

»Sag mir, dass das nicht wahr ist.«

Bella ging zur Tür. »Jedenfalls wollen die Maffelders und die Kaminskys per Gruppe austauschen, wer wann welches verdächtige Auto gesehen hat. Kommst du mit runter?«

Diethard antwortete nicht. Er war in das Nachrichtenmenü seines Handys vertieft und mühte sich damit ab, die Gruppe »Nachbarschaft« stummzuschalten.

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