Kitabı oku: «Wachtmeister Studer», sayfa 5
Interieur der Familie Witschi
Das Haus stand abseits auf einer Anhöhe, inmitten einer kleinen Wohnkolonie, aber es war älter als die Bauten, die es umgaben. Die Ladentüre war neben der Eingangstüre, links; daneben lag eine Art offener Veranda, an deren Hinterwand sich ein gemalter See vor Schneebergen ausbreitete, und die Schneeberge waren rosa, wie wässeriges Himbeereis. Über der Türe prangte in verschnörkelter Schrift der Spruch:
Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein!
Unter den Fenstern des ersten Stockes in blauer Farbe der Name des Hauses:
Alpenruh
Über dem Schaufenster des Ladens, in dem bunte Maggiplakate verblaßten, ein Schild, das ebenfalls verwittert war:
W. Witschi-Mischler, Lebensmittelhandlung.
Der Garten war verlottert, hohes Unkraut stand zwischen den Erbsen, die nicht aufgebunden waren. An einer Hausecke lehnte ein verrosteter Rechen.
Auf dem ganzen Weg hatte Studer geschwiegen und gewartet, ob das Mädchen beginnen würde zu sprechen. Aber auch Sonja hatte geschwiegen. Nur einmal hatte sie schüchtern gesagt: »Ich hab heut‘ morgen im Zug schon gedacht, daß Ihr von Bern kommt wegen dem Schlumpf, daß Ihr von der Polizei seid…« Studer hatte genickt, gewartet, was noch weiter kommen werde. »Und wie ich gesehen hab‘ Ihr geht zu der Frau Hofmann in den Laden, hab ich den Onkel Aeschbacher geholt. Die Frau Hofmann ist eine gar Schwatzhafte…«
Studer hatte schweigend die Achseln gezuckt. Die ganze Geschichte ließ sich plötzlich schlecht an. Er wünschte, er hätte mit dem Landjäger Murmann am Morgen eingehender gesprochen.
Der Lehrer Schwomm und der Coiffeurgehilfe Gerber, dachte er — Gerber hieß also der Jüngling, der John-Kling-Romane las und sich Füllfederhalter schenken ließ —, diese beiden waren in der Küche der Frau Hofmann gewesen. Und Sonja… Und der Schlumpf natürlich.
Wer hatte den Revolver versteckt? Warum war er gerade an diesem Platz versteckt worden? Hatte man gehofft, Frau Hofmann werde ihn finden und damit zur Polizei laufen? Angenommen, Frau Hofmann hätte ihn gefunden, dann hätte sie ihn natürlich in die Hand genommen und neugierig, wie Frauen einmal sind, untersucht. Dann wäre selbstverständlich kein Fingerabdruck mehr festzustellen gewesen. Also war es nicht so arg, so tröstete sich Studer, daß er den Browning so ohne Vorsichtsmaßnahmen einfach eingesteckt hatte… Schade, daß er Frau Hofmann nicht gefragt hatte, wann der Schlumpf am Dienstagabend oder vielmehr in der Dienstagnacht heimgekommen war… Aber eigentlich war diese Frage nicht nötig, die Antwort stand sicher in den Akten, richtig, Studer erinnerte sich an eine Seite, auf der stand:
»Frau Hofmann gibt auf Befragen an, der Angeklagte sei in der Mordnacht erst gegen ein Uhr heimgekommen…« Studer schüttelte den Kopf. Merkwürdig, daß diese belastende Tatsache ihn so gar nicht interessierte. Es war alles zu einfach aufgebaut. Ein Vorbestrafter, der einen Mord begeht, der natürlich kein Alibi hat, bei dem das Geld des Ermordeten gefunden wird, der nicht reden will, aber seine Unschuld beteuert, der einen Selbstmordversuch begeht… Es schmeckte — ja, das Ganze schmeckte nach einem schlechten Roman…
Aber natürlich, der unschuldig Schuldige, das war in diesem Fall eine recht reale Figur, ein Mensch, dem es schlecht gegangen war, der wieder eine Zeitlang auf den geraden Weg gekommen war, und der nun… Was hatte der Schlumpf in der Freizeit gelesen? Etwa auch Felicitas Rose? Oder John Kling? Eigentlich wäre das ganz interessant festzustellen. Das kleine Mädchen wußte es sicher, das Mädchen, das teure Füllfederhalter verschenkte… Hatte es eine Liebschaft mit dem Coiffeurgehilfen Gerber? Es sah eigentlich nicht so aus… Aber warum dann das teure Geschenk?… Der Füllfederhalter… Ja… Man trug den Füllfederhalter gewöhnlich in der linken Brusttasche des Rockes oder in der oberen Westentasche. Man nahm ihn mit, besonders wenn man Bestellungen sammeln ging. Hatte ihn der Wendelin Witschi am Dienstag auch mitgenommen?… Doch wann hatte er ihn seiner Tochter gegeben?… Die Taschen des Wendelin Witschi waren leer und auf dem Rücken seines Rockes hafteten keine Tannennadeln…
Die beiden betraten die Küche… Im Schüttstein unaufgewaschenes Geschirr… Auf dem Tisch stand ein Teller, Butter darauf, daneben lag ein Kamm.
Studer war allein, Sonja war verschwunden…
Durch eine offene Tür betrat der Wachtmeister das anliegende Zimmer. Die Vorhänge vor den Fenstern waren grau, auf dem Klavier lag eine Staubschicht. Die Tür fiel zu. Es zog in diesem Haus. Durch die Erschütterung des Zuschlagens löste sich von dem Bilde, das über dem Klavier hing, eine graue Wolke ab. Das Bild stellte den seligen Wendelin Witschi vor, in jungen Jahren, und war wohl bei der Hochzeit aufgenommen worden. Zwischen den Spitzen des steifen Umlegkragens lugte ein kleiner schwarzer Kopf hervor. Der Schnurrbart war schon damals traurig gewesen. Und die Augen…
Auf dem Tische, der eine Decke mit Fransen trug, rot-gelb-blau lagen viele Hefte. Auch das schwere schwarze Büfett war mit Heften überdeckt.
Studer blätterte in den Heften. Sie waren alle von der gleichen Art: Bilder von Hunden oder von Kindern, eine Bergkapelle, ein Roman, Winke für die Hausfrau, graphologische Ecke. und, auffällig, auf allen Titelblättern:
»Wir versichern unsere Abonnenten… Bei Ganzinvalidität oder Tod zahlen wir aus…«
Fünf verschiedene Sorten Hefte. Wenn alle die Versicherung auszahlten, ergab das… es ergab eine ganz stattliche Summe… Und was hatte der Notar Münch gesagt? Der alte Ellenberger habe Schuldbriefe und wolle sie kündigen?
Im oberen Stockwerk liefen Schritte auf und ab. Was machte Sonja dort oben, warum ließ sie ihn allein in der Wohnung? Es wurde ein schwerer Gegenstand gerückt. Studer lächelte. Das Mädchen machte wohl die Betten, jetzt am Abend. Eine merkwürdige Ordnung herrschte in der Familie Witschi…
Studer blätterte weiter in den Heften. Er stieß auf ein paar Stellen, die angestrichen waren und las:
»Da stieg es in ihr auf, heiß und brennend. Sie warf sich in seine Arme, sie umklammerte seinen Hals, als sollte sie ihn nie, nie mehr loslassen…«
Und weiter:
»Und wir, Sonja, mein süßes Lieb, mein holdes Weib — wir werden glücklich sein…«
»Leichenblaß bis in die Lippen, bebend an allen Gliedern, stand Sonja vor ihm…«
Studer seufzte. Er dachte an lauen Kaffee und an eine Frau, die am Morgen schmachtend war, weil sie in der Nacht zu viele Romane gelesen hatte…
Dann trat der Wachtmeister ans schwere Büfett. Gerade unter der Photographie des Wendelin Witschi stand oben auf dem Aufsatz eine Vase mit wächsernen Rosen und einigen Zweigen bunten Herbstlaubs. Und Witschi schien auf diese Vase zu schielen. Gedankenlos hob sie Studer herab, sie war merkwürdig schwer — übrigens war das Herbstlaub auch künstlich. Studer schüttelte die Vase. Es rasselte. Er kehrte die Vase um…
Zwei, vier, sechs, zehn — fünfzehn Patronenhülsen fielen heraus, Kaliber 6,5…Im oberen Stock war es still geworden. Studer steckte eine der Hülsen in seine Rocktasche, die andern ließ er in die Vase zurückgleiten, ordnete den Strauß und stellte ihn an seine alte Stelle. Es kamen Schritte die Treppe herunter. Studer öffnete die Küchentür und blieb auf der Schwelle stehen.
Der Herr Wachtmeister müsse entschuldigen, sagte Sonja, sie habe oben noch Ordnung machen wollen, wenn er das Haus besichtigen wolle? Die Mutter komme erst nach dem Neun-Uhr-Zug heim, so lange müsse sie auf dem Bahnhof bleiben… Aber der Armin werde bald zurück sein.
Sonja plapperte und wich Studers Blick aus; aber sobald Studer beiseite sah, fühlte er, wie die Augen des Mädchens auf sein Gesicht gerichtet wurden, sah er wieder hin, klappten die Lider über die Augen. Lange Wimpern hatte das Mädchen. Die Stirn war gerundet, sprang ein wenig vor. Die Haare waren gebürstet. Sonja sah viel ordentlicher aus als heut morgen im Zuge.
— Übrigens lasse der Schlumpf sie grüßen, sagte Studer nebenbei. Er sah zum Fenster hinaus. Am Ende des Gemüsegartens stand ein alter, verfallener Schuppen. Die Tragstützen des Daches waren eingeknickt, einige Ziegel fehlten. Auch die Tür des Schuppens fehlte.
Sonja schwieg. Und als Studer sich umwandte, sah er, daß das Mädchen weinte. Es war ein hemmungsloses Weinen, das kleine Gesicht war verzogen, um die spitz vorspringende Nase gruben sich tiefe Falten ein, die Lippen waren verzerrt, und aus den Augen flossen die Tränen die Wangen herab, blieben am Kinn haften, tropften dann auf die Bluse. Die Hände waren geballt.
»Aber, Meitschi«, sagte Studer, »aber Meitschi!…« Unbehaglich wurde es ihm zumute. Schließlich fiel ihm nichts anderes ein, als sein Schnupftuch aus der Tasche zu ziehen, neben Sonja zu treten und ungeschickt die fließenden Tränen aufzutupfen.
»Komm, Meitschi, komm, hock ab…«
Sonja hatte sich an den Wachtmeister gelehnt, ihr Körper zitterte, die Schultern waren weich. Studer seufzte grundlos. »Komm, Meitschi, komm…«
Sonja setzte sich auf einen Stuhl. Ihre Arme lagen lang ausgestreckt auf der Tischplatte neben dem Teller mit dem Anken, neben dem Kamm…
Draußen wurde die Dämmerung dicht. Studer hatte wenig Zeit. Um halb acht Uhr sollte er bei Murmann zum Nachtessen sein…
Sonja dauerte ihn. Er wollte sie nicht ausfragen… Ihr Vater war tot, ihr Liebster saß in einer Zelle, tagsüber ging sie nach Bern schaffen, ihr Bruder ließ sich von einer Kellnerin Geld geben, und ihre Mutter las im Bahnhofkiosk Romane…
»Der Erwin«, sagte Studer sanft, »der Erwin hat mir gesagt, er lasse dich grüßen…«
»Und glaubet Ihr, daß er schuldig ist?«
Studer schüttelte stumm den Kopf. Einen Augenblick lächelte Sonja, dann kamen die Tränen wieder.
»Er wird‘s nicht beweisen können, daß er unschuldig ist…«, sagte sie schluchzend.
»Hast du ihm das Geld gegeben?«
Merkwürdig, wie ein Gesicht sich verändern konnte!… Sonja blickte starr vor sich hin, zum Fenster hinaus, in die Richtung, wo der alte, verfallene Schuppen stand, dessen Eingang ein schwarzes Rechteck war… Und schwieg.
»Warum hast du dem Gerber, dem Coiffeur, den Füllfederhalter geschenkt?«
»Weil… weil… er etwas weiß…«
»So, so«, sagte Studer.
Er hatte sich an den Tisch gesetzt, das Hockerli war zu klein für seinen schweren Körper, er fühlte sich ungemütlich.
— Ob sie schon lange in dem Hause wohnten? fragte er. — Der Vater habe es bauen lassen mit dem Geld der Mutter, erzählte Sonja, und es schien, als sei sie froh, sprechen zu können. Der Vater sei bei der Bahn gewesen, als Kondukteur, und dann habe die Mutter eine Erbschaft gemacht. Die Mutter stamme von hier, aus Gerzenstein, der Vater sei aus dem Seeland gewesen. Die Mutter habe den Laden eingerichtet und der Vater habe weiter auf der Bahn geschafft. Während dem Krieg sei das Geschäft gut gegangen, es hätte damals noch wenig Läden gegeben in Gerzenstein. Da habe sich der Vater pensionieren lassen. Vielmehr, er sei einfach ausgetreten und habe auf die Pension verzichtet, weil er einen Herzfehler gehabt habe, und sie hätten ihm auf der Bahn Schwierigkeiten gemacht. Ja, während dem Krieg sei es gut gegangen. Der Armin habe später aufs Gymnasium können nach Bern, nachdem er hätte studieren sollen. Aber dann sei der große Bankkrach gekommen und die Eltern hätten alles verloren. Und dann sei es aus gewesen. Die Mutter sei hässig geworden und der Vater sei reisen gegangen. Aber er habe wenig verdient. Und alles sei so teuer!… Die Mutter könne nicht mit dem Geld wirtschaften, sie gebe immer alles aus für Medizinen und solches Zeug. Der Onkel Aeschbacher sei ein oder zweimal eingesprungen…«
Die letzten Worte waren sehr stockend herausgekommen.
»Was ist‘s mit dem Onkel Aeschbacher?« fragte Studer.
Schweigen…
»Und doch bist du ihn holen gegangen, wie du mich hast zur Frau Hofmann gehen sehen?«
Viel Qual drückte das Gesicht aus. Studer hatte Mitleid. Er wollte nicht weiter fragen. Nur eines noch:
»Wer ist der Lehrer Schwomm?«
Sonja wurde rot, holte Atem, wollte sprechen, die Stimme versagte, sie hustete, suchte nach einem Taschentuch, wischte sich die Augen mit dem Handrücken, stotterte dann:
»Er ist an der Sekundarschule, er ist Gemeindeschreiber, auch Sektionschef, und den gemischten Chor leitet er auch…
»Dann hat er viel mit dem Gemeindepräsidenten zu tun? Mit dem ›Onkel‹ Aeschbacher?«
Sonja nickte.
»Leb wohl.« Studer streckte ihr die Hand hin. »Und wein‘ nicht. Es kommt schon besser.«
»Lebet wohl, Wachtmeister«, sagte Sonja und streckte ihre kleine Hand aus. Die Nägel waren sauber.
Sie stand nicht auf und ließ Studer allein hinausgehen. Im Hausgang blieb Studer stehen und suchte nach seinem Schnupftuch, fand es nicht, erinnerte sich, daß er es in der Küche gebraucht hatte, kehrte an der Haustüre um und betrat, ohne anzuklopfen, die Küche.
Sie war leer. Die Tür zum andern Zimmer war offen… Vor dem schweren schwarzen Büffet stand Sonja. Sie hielt die Vase mit den Wachsrosen und dem künstlichen Herbstlaub in der Hand und schien das Gewicht der Vase zu prüfen. Ihre Augen waren auf das Bild des Vaters gerichtet.
Auf dem Boden neben dem Küchentisch lag Studers Nastuch.
Studer ging leise zum Tisch, hob es auf, schlich zur Türe zurück:
»Gut‘ Nacht, Meitschi«, sagte er.
Sonja fuhr herum, stellte die Vase ab. Sie riß sich zusammen:
»Gut‘ Nacht, Wachtmeister…«
Merkwürdig, ihr Blick erinnerte Studer an den des Burschen Schlumpf: Erstaunen lag darin und viel verstockte Verzweiflung.
Der Fall Wendelin Witschi zum zweiten
Nehmet Platz, Studer«, sagte Frau Murmann. Auf dem Tisch stand eine große Platte mit Aufschnitt und Schinken, es gab Salat, und an der einen Tischecke, dicht neben Murmanns Platz, standen vier Flaschen Bier.
»Und, Studer, ziehet den Kittel ab«, meinte Frau Murmann noch. Dann empfahl sie sich. Sie müsse das Kind stillen, sagte sie.
— Ob Studer etwas gefunden habe, fragte Murmann, ohne aufzublicken. Er war damit beschäftigt, ein Büschel Salatblätter auf seine Gabel zu spießen. Dann kaute er, andächtig und abwesend.
»Ich hab‘ den Cottereau gefunden…«, sagte Studer und beäugte prüfend ein Stück saftigen Schinkens.
»So, so«, meinte Murmann. »Allerhand…« Er leerte sein Bierglas auf einen Zug. Dann schwiegen die beiden.
In einer Ecke des Zimmers stand ein bunter Bauernschrank, dessen Türen Rosengirlanden umrankten…
Murmann trug die Teller hinaus. Dann setzte er sich, zündete seine Pfeife an. »Also, erzähl!…«
Aber Studer schwieg. Er griff in die hintere Hosentasche, zog die bei Frau Hofmann gefundene Pistole heraus und legte sie auf den Tisch. Dann suchte er in der Rocktasche, ließ die bei Witschis gefundene Patronenhülse im Licht der Lampe glänzen und fragte schließlich:
»Gehören die beiden zusammen?«
Murmann vertiefte sich in die Untersuchung. Er nickte ein paarmal…
»Das Kaliber ist das gleiche«, sagte er still. »Ob die Hülse von der Waffe da abgeschossen worden ist, kann ich nicht so ohne weiteres sagen. Es sind heikle Sachen. Man müßte den Einschlag prüfen… Wo hast du die Hülse gefunden?«
»In einer Vase auf dem Klavier im Wohnzimmer der Witschis. Es waren fünfzehn Hülsen in der Vase. Es hat so ausgesehen, als ob einer eifrig die Pistole probiert hätte…«
»Ja?« sagte Murmann.
»Die Sonja fürchtet sich… Ganz sicher vor mindestens vier Leuten: vor dem Coiffeurgehilfen, dem Lehrer Schwomm, vor ihrem Bruder und vielleicht auch vor dem »Onkel« Aeschbacher.«
»Ja«, sagte Murmann, »das glaub‘ ich. Die Sonja meint, daß ihr Vater Selbstmord begangen hat. Aber wenn man Selbstmord annimmt, dann werden keine Versicherungen ausgezahlt. Und der Gerber, der Coiffeur, hat bemerkt, daß bei dem sogenannten Mord nicht alles stimmt. Und nun hat die Sonja Angst, er könne etwas sagen… Verstehst du?«
»Erzähl‘ einmal die Geschichte von Anfang an. Ich brauch‘ weniger die Tatsachen als die Luft, in der die Leute gelebt haben… Verstehst? So die kleinen Sächeli, auf die niemand achtgibt und die dann eigentlich den ganzen Fall erhellen… Hell!… Soweit das möglich ist, natürlich.«
Von großen Pausen unterbrochen, mit vielen Abschweifungen und ungezählten eingeschalteten ›Nid?‹ und ›Begriifscht?‹ erzählte Landjägerkorporal Murmann dem Wachtmeister Studer etwa folgende Geschichte:
— Der Witschi Wendelin hatte vor zweiundzwanzig Jahren geheiratet. Er war damals bei der Bahn gewesen. Das Ehepaar hatte zuerst eine Wohnung im Haus des Aeschbacher innegehabt, dann war eine Tante der Frau Witschi gestorben, die Erbschaft war ziemlich groß gewesen und da hatten sie sich entschlossen zu bauen…
»Wie heißt übrigens die Frau Witschi mit dem Vornamen? fragte Studer.
»Anastasia… Warum?«
Studer lächelte, schwieg eine Weile, dann sagte er:
»Nur so, erzähl‘ weiter…«
— Sie hatten also das Haus gebaut, Kinder waren gekommen, das Ehepaar schien glücklich zu sein. Die Frau war schaffig, sie hielt den Garten in Ordnung, sie bediente im Laden. Am Abend sah man die beiden einträchtig auf einer Bank vor dem Hause sitzen, der Witschi las die Zeitung, die Frau strickte…
— Studer sah das Bild deutlich vor sich. Unter den Fenstern des ersten Stockes glänzte noch, neu und unverblaßt, der Name des Hauses, ›Alpenruh‹, und über der Tür der Spruch: ›Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein.‹ Der Wendelin Witschi hockte auf der Bank, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, bisweilen legte er die Zeitung beiseite (er las sicher nur den Gerzensteiner Anzeiger), stand auf, um ein Zweiglein am Spalier anzubinden, das im Wind schaukelte, kam zurück… im Sand krabbelten die beiden Kinder. Die Luft war still. Heugeruch lag schwer in der Luft. Die Frau sagte: ›Du, loos einisch…‹ Sehr viel Frieden. Die Ladenklingel schrillte. Man stand gemütlich auf, ging zusammen in den Laden, besprach mit den Kunden das Wetter, die Politik… Der Wendelin (wie nannte ihn wohl seine Frau? Das müßte man eigentlich auch wissen… Vatter? Wahrscheinlich. Das paßte am besten… ), der Wendelin hatte die Daumen in den Ausschnitten der Weste und war ein angesehener Bürger, verwandt mit dem Gemeindepräsidenten, Hausbesitzer… Und dann, Jahr für Jahr, die Änderungen… Die Frau, die hässig wird, die Frau, die Romane liest, dann die finanziellen Schwierigkeiten, der Sohn, der sich auf die Seite der Mutter schlägt, der Garten, der verlottert, der Wendelin, der reisen geht, der Wendelin, der Schnaps trinkt, die Zeitschriften mit den Versicherungen… Bei Ganzinvalidität war die Summe doch gerade so hoch wie bei Todesfall… Aber als Bild, das sich nicht vertreiben ließ, sah Studer immer die Bank vor dem Haus, die Kinder, die am Boden spielten, das lockere Zweiglein, das im Winde schwankte, und das der Wendelin mit einem gelben Bastfaden festband…
Studer hatte eine Weile nicht mehr zugehört, jetzt horchte er auf, denn Murmann sagte:
»… und einen Hund hat er auch gehabt. Einmal, wie der Witschi halb besoffen nach Haus gegangen ist, haben ihn ein paar Burschen angeödet. Da hat der Hund gebellt und ist auf die Burschen los. Einer hat ihn mit einem Stein totgeschlagen…«
Das gehörte natürlich auch dazu. Der Witschi , der sich einsam fühlt und sich einen Hund hält. Wahrscheinlich war der das einzige Wesen, das ihm keine Vorwürfe machte, vor dem er klagen konnte… Und wieder versank Studer ins Träumen.
— Er sah die Familie Witschi um den Tisch sitzen, im Wohnzimmer, das er kannte. In der Ecke stand das staubige Klavier. Der Witschi versuchte Zeitung zu lesen… Und die keifende Stimme der Frau: Versichert seien sie und das viele Geld, das man der Versicherung gezahlt habe! Die Frau dachte nicht daran, daß schließlich sie bis jetzt alle Vorteile genossen hatte von dieser Versicherung, die bunten Heftli mit den Romanen darin… Waren diese Romane nicht etwas Ähnliches für die Anastasia Witschi wie für ihren Mann der Schnaps? Eine Möglichkeit, der Öde zu entrinnen, zu fliehen in eine Welt, in der es Komtessen gab und Grafen, Schlösser und Teiche und Schwäne und schöne Kleider und eine Liebe, die sich in Sprüchen Luft machte, wie: ›Sonja, meine einzig Geliebte…‹
Murmann schwieg schon eine geraume Weile. Er wollte den Wachtmeister nicht in seinen Träumen stören. Plötzlich schien Studer das Schweigen aufzufallen. Er schreckte auf.
»Nur weiter, nur weiter… Ich hör schon zu…«
— Es scheine nicht, meinte Murmann, über was denn Studer so tief nachgedacht habe? — Er werde es ihm später sagen. Murmann solle jetzt die beiden Tage schildern, die Entdeckung der Leiche, die Untersuchung, die Flucht des Schlumpf…— Da sei nicht viel zu sagen, nicht mehr auf alle Fälle, als was in den Akten stünde. Studer solle einen Augenblick warten…
Murmann stand auf, um die Akten zu holen…
Die Stille im Zimmer war tief… Studer ging zum Fenster und öffnete einen Flügel.
Deutlich durch die Nacht drang ein Summen zu ihm.
Er kannte das Lied. Eine Kleinmädchenstimme hatte es gestern vor einem Zellenfenster gesungen:
»O, du liebs Engeli…«
Das Summen rieselte von oben durch das Dunkel. Frau Murmann sang ihr Kind in den Schlaf …
Der Landjäger kam zurück. Er trug lose Blätter in der Hand, setzte sich, breitete sie vor sich aus und begann zu sprechen. Studer stand am Fenster, gegen die Wand gelehnt.
— Der Cottereau — übrigens, wie habe Studer den Cottereau entdeckt? — Studer winkte ab: Später…
— Also der Cottereau sei in den Posten gestürzt gekommen und habe wirres Zeug durcheinandergeredet von einem Toten, der im Wald liege… Ein Ermordeter!…
»Ich hab‘ an den Regierungsstatthalter telephoniert, bevor ich aufgebrochen bin, und der hat versprochen zu kommen. Vor der Türe hab‘ ich den Gemeindepräsidenten Aeschbacher getroffen, der war vom Lehrer Schwomm begleitet. Das war nichts Merkwürdiges, denn der Schwomm ist Gemeindeschreiber. Die beiden haben sich aufgedrängt, der Aeschbacher hat sofort die Untersuchung in die Hand nehmen wollen… Da ist er aber schlecht angekommen. Ich laß mir nichts vorschreiben. Aber ich habe den Photographen des Dorfes beigezogen…«
— Sie seien dann zu fünft nach dem Tatort gegangen, der Präsident, Schwomm, der Photograph und er, Murmann… Cottereau habe sie geführt… Am Tatort angekommen, habe Murmann den Photographen angewiesen, ein paar Aufnahmen zu machen, und der Mann habe das ganz richtig gemacht.
Sicher, sagte Studer, »der hat gut gearbeitet. Hast du auch bemerkt, daß keine Tannennadeln auf dem Rücken des Rockes zu sehen waren?«
Murmann schüttelte den Kopf.
— Das sei ihm nicht aufgefallen. Aber wenn Studer es bemerkt habe, dann sei das ja die Hauptsache… Der Gemeindepräsident habe immer dreinreden wollen: das sei ein Mord, habe er gesagt, sicher ein Raubmord, und niemand anders habe ihn begangen als einer der Verbrecher, die der Ellenberger bei sich angestellt habe… Natürlich seien ein Haufen Leute bei der Entdeckung dabei gewesen, so daß es dem Statthalter nicht schwer gefallen sei, die Stelle zu finden. Sie hätten dann noch den Dr. Neuenschwander geholt, der den Tod festgestellt und den Witschi ins Gemeindespital habe bringen lassen. Murmann habe verlangt, die Sektion solle im Gerichtsmedizinischen Institut ausgeführt werden. Dr. Neuenschwander sei ärgerlich geworden, habe dann aber auch eingewilligt, nur habe er ein Protokoll aufgesetzt und es ›Sektionsprotokoll‹ getauft, auch mit einer Sonde die Schußwunde untersucht und dann in gelehrten Ausdrücken ihre mutmaßliche Stellung festgehalten…
»Die Taschen waren leer?«
»Ganz leer«, sagte Murmann. »Und das ist mir auch aufgefallen.«
»Warum?«
»Ich weiß selber nicht…«
»Aber an dem Tag soll der Witschi dreihundert Franken bei sich gehabt haben? Er hat doch Rechnungen einkassiert? Und von daheim noch Geld mitgenommen?«
— Von daheim habe er sicher kein Geld mitgenommen, darauf möchte er, Murmann, schwören. Aber hundertfünfzig Franken habe er wohl gehabt, er habe Rechnungen einkassiert, und die Bauern, bei denen er gewesen sei, hätten telephonisch die Sache bestätigt…
»Weiter!« sagte Studer. Er hatte eine Brissago angezündet…
— Der Statthalter sei ein schüchternes Mannli, erzählte Murmann, und habe immer dem Aeschbacher zugestimmt. Der habe betont, es handle sich um einen Mord, und das sei Murmann merkwürdig vorgekommen. Er für sein Teil sei sicher, daß Witschi sich umgebracht habe…
»Nicht gut möglich«, sagte Studer. »Der Assistent im Gerichtsmedizinischen hat‘s mir vordemonstriert. Es müßten Pulverspuren vorhanden sein. Zugegeben, der Witschi hatte lange Arme, aber stell‘ dir einmal vor, wie er hätte die Waffe halten müssen…« Er trat ins Lampenlicht, nahm den Browning vom Tisch, prüfte, ob er gesichert sei (das Magazin war zwar leer, aber… ) und hob ihn dann… Studer versuchte jene Stellung nachzuahmen, die ihm der italienische Assistent vordemonstriert hatte. Da sein Arm ziemlich dick war, gelang es ihm nicht.
Murmann schüttelte den Kopf. Witschi sei gelenkig gewesen, so daß eine Möglichkeit immerhin vorhanden sei…
»Erzähl‘ weiter!« unterbrach ihn Studer.
— Es sei nicht mehr viel zu erzählen. Auf Befehl des Statthalters habe er, Murmann, am Nachmittag noch die Arbeiter vom Ellenberger einem Verhör unterworfen. Aber es sei nichts dabei herausgekommen. Er sei dann zu den Witschis gegangen, habe aber nur den Sohn daheim angetroffen. Der habe nichts sagen wollen… Schließlich habe der Armin gemeint, er habe gehört, der Vater sei im Wald ermordet worden, aber das sei Sache der Polizei.
»Nun bin ich doch stutzig geworden. Ich hab‘ doch am Morgen extra den Photographen hinaufgeschickt, damit er die Familie auf den Todesfall vorbereite… Und denk‘ dir, da sagt mir der Bursch, es sei eigentlich ein Glück, daß der Vater tot sei, sonst hätt‘ man ihn doch in der nächsten Zeit administrativ versorgt…«
»Und die dreihundert Franken?«
»Ich bin dann zum Bahnhofkiosk gegangen und hab‘ die Frau Witschi ausgefragt. Die hat mir erzählt, ihr Mann habe am Morgen hundertfünfzig Franken mitgenommen. Ich hab‘ wissen wollen, warum er so viel Geld mitgenommen hat. Aber sie hat nur immer behauptet, ihr Mann habe das Geld gebraucht. Sonst hat sie nichts sagen wollen. Und dann hat die Frau Witschi weiter gesagt — genau wie ihr Sohn — mit ihrem Mann sei es nicht mehr zum Aushalten gewesen, er habe immer mehr und mehr gesoffen und der Aeschbacher habe gemeint, man müsse ihn versorgen. Sie habe dem Wendelin kein Geld mehr gegeben, aber der Ellenberger, der habe immer ausgeholfen, sich Schuldscheine ausstellen lassen… ja, hab‘ ich gemeint, aber die hundertfünfzig Franken, die der Witschi mit auf die Reise genommen habe, woher denn die seien? Da hat sie gemerkt, daß sie sich widersprochen hat, hat zuerst etwas gestottert, der Mann habe sie notwendig gebraucht, und darum habe sie ihm das letzte Geld gegeben, dann hat sie nichts mehr sagen wollen…«
Du meinst also, der Witschi hat die dreihundert Franken für irgend etwas gebraucht?«
»Ja, schau, das wär‘ dann ganz einfach. Der Witschi erschießt sich im Wald. Er hat den Schlumpf an die gleiche Stelle bestellt, sagen wir um elf Uhr. Der Schlumpf muß den Browning holen, denn wenn die Waffe neben der Leiche bleibt, wird niemand an einen Mord glauben. Der Schlumpf soll die Waffe beiseite schaffen und, wenn es nötig ist, sich anklagen lassen, dafür bekommt er dreihundert Franken und dann wird ihm versprochen, er darf die Sonja heiraten, wenn die Untersuchung niedergeschlagen worden ist… Das wird man ihm mundgerecht gemacht haben, der gute Tschalpi hat sich das einreden lassen und jetzt steckt er im Dreck…«
»Und du meinst, er darf nichts sagen?«
»Natürlich, sonst reißt er die Sonja in die Geschichte hinein…«
»Du, Murmann… Oder nein, sag mir zuerst, wer hat dir gemeldet, daß der Schlumpf im ›Bären‹ eine Hunderternote gewechselt hat?«
»Das kann ich dir nicht einmal sagen. Ich hab‘ an dem Abend da nebenan meinen Rapport geschrieben. Da hat das Telephon geläutet, ich hab‘ den Hörer abgenommen, mich gemeldet, aber der andere hat seinen Namen nicht gesagt, nur ganz schnell gemeldet: ›Der Schlumpf hat im Bären einen Hunderter gewechselt‹, und wie ich gefragt hab‘, wer dort ist, hat es geknackt, der andere hat schon eingehängt gehabt…«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Ich hab‘ nicht pressiert, hab‘ meinen Rapport fertig geschrieben, dann um Mitternacht hab‘ ich die Runde gemacht durch alle Wirtschaften. Im ›Bären‹ hab‘ ich den Wirt beiseite genommen und ihn gefragt, ob das wahr sei, daß der Schlumpf eine Hunderternote gewechselt habe.›Ja‹, hat er Wirt gesagt. ›Heut‘ abend, so um neun Uhr. Der Schlumpf hat einen halben Liter Roten bestellt, dann einen Kognak getrunken, nachher zwei große Bier, und auf das Ganze noch einen Kognak!…‹ Mich hat‘s gewundert, daß der Schlumpf so viel getrunken hat, und ich habe den Wirt gefragt, ob der Schlumpf immer so saufe? Nein, hat der Wirt gesagt, sonst nicht, und ihn habe es auch gewundert. Vielleicht, hat der Wirt gemeint, müsse der Schlumpf die Sonja aufgeben, jetzt, wo der Vater tot sei… Ich hab‘ dann noch telephoniert, ob ich den Schlumpf verhaften soll, und der Statthalter hat mir den Befehl gegeben… Aber wie ich dann am Morgen den Burschen hab‘ holen wollen, war er fort. Dann hab‘ ich an die Polizeidirektion telephoniert…«
»Ja«, sagte Studer, »und dann durfte ich am Freitag den Schlumpf verhaften… Und das Zimmer vom Schlumpf, das hast du durchsucht? Und dort etwas gefunden?«
Murmann schüttelte seinen breiten Schädel.
»Nichts«, sagte er. »Wenigstens nichts Belastendes.« »Waren Bücher im Zimmer?«
Murmann nickte.
»Was für Bücher?«
»Ah, weißt du, so Heftli mit bunten Titeln: ›In Liebe vereint‹ und ›Unschuldig schuldig‹…«
»Bist du sicher, daß eins so geheißen hat?«
»›Unschuldig schuldig‹? Ja, ganz sicher. Und dann waren da noch so Detektivgeschichten. ›John Kling‹ heißen sie, glaub‘ ich. Weißt, so richtige Räuberromane…«
»Ja«, sagte Studer, »ich weiß…«
Er stand schon lange wieder im Schatten, beim Fenster. Jetzt drehte er sich um. Vorn auf der Landstraße rasten die Autos vorbei. Und nachdem Studer den Schein von drei Wagen hatte vorbeihuschen sehen, fragte er leise, ohne sich umzuwenden: