Kitabı oku: «Wachtmeister Studer», sayfa 6
»Der Aeschbacher, der hat doch auch einen Wagen?«
»Ja«, sagte Murmann. »Du meinst wegen der Geschichte mit dem Cottereau? Aber da irrst du dich… Der Ellenberger hat mich doch nach dem Unfall geholt, damals, wie er mit dem Cottereau angefahren worden ist, bös hat der Alte ausgesehen. Ich hab‘ natürlich sofort den Gemeindepräsidenten angeläutet und der ist mit seinem Wagen gekommen. Er hat sogar noch den Gerber mitgebracht, den Coiffeurgehilfen, weißt du, der hat sein Motorrad mitgenommen. Und ich bin mit Aeschbacher gefahren. Wir haben den Cottereau die ganze Nacht auf den Straßen gesucht. Vorher hab‘ ich sogar noch in Bern angeläutet, sie sollen auf Strolchenfahrer aufpassen. Aber es ist nichts dabei herausgekommen. Wo hast du den Cottereau gefunden?«
»Im Wald«, sagte Studer nachdenklich. »Dort, wo ihr ihn nicht gesucht habt… Aber er hat nichts sagen wollen.«
Schweigen. Im Nebenhaus links krächzte ein Lautsprecher. Es klang wie das Bellen eines heiseren Hundes.
»Du«, sagte Studer plötzlich. »Der Ellenberger hat dir doch damals gesagt, du solltest seinen Obergärtner durch das Radio suchen lassen? Nicht wahr?«
Murmann nickte:
»Ich hab‘s nur auf der Polizeidirektion sagen lassen, und die hat dann das Weitere veranlaßt.«
»Ich will einmal schauen, ob wir den Apfel nicht schneller zum Reifen bringen können.«
Murmann starrte seinen Kollegen an. Was machte der Studer für blöde Sprüche? Murmann war eben nicht dabei gewesen damals.
»… und andere, die müßt Ihr einkellern, die werden erst im Horner gut… Abwarten, Wachtmeister, bis der Apfel reif wird…«
Aber Studer haßte das allzu lange Warten. Später wäre es ihm lieber gewesen, er hätte auf den alten Ellenberger gehört, denn die beiden Aufträge, die er telephonisch nach Bern erteilte, gaben so merkwürdige Resultate, daß sie die ohnehin verwirrte Geschichte noch mehr durcheinander brachten. Aber das konnte Studer natürlich nicht wissen…
»Morgen ist Musik im ›Bären‹, da spielen deine Freunde…«, sagte Murmann beim Abschied. »Der Aeschbacher kommt und auch der alte Ellenberger…«
»Das kann lustig werden«, sagte Studer. Dann erkundigte er sich, wie Murmanns Frau eigentlich mit dem Vornamen heiße: Anny oder Emmy?
— Nein, sagte Murmann, sie heiße Ida, und er rufe sie Idy. Und ob Studer eigentlich einen Vogel habe, daß er sich so um die Vornamen von Frauen interessiere?
Studer schüttelte den Kopf.
— Das sei nur so eine Angewohnheit, meinte er und grinste auf den Stockzähnen. Gute Nacht.
Nach ein paar Schritten aber kehrte er wieder um.
»Du, Murmann«, fragte er. »Hast du auch die Küche bei der Frau Hofmann durchsucht?«
»Oberflächlich. Ich hab‘ gemeint, ich könnt‘ den Browning finden…«
»Besinnst du dich, im Küchenschaft, auf dem Brett, da war doch ein Stoß Packpapier…«
»Ja, ja, an das erinnere ich mich gut. Es war darunter ein Bogen blaues Papier, wie man es zum Einwickeln von Zuckerhüten braucht. Ich hab‘ den Stoß herausgenommen, während die Frau in den Laden gegangen ist und hab‘ ihn durchgeblättert. Es war nichts zu finden. Warum?«
»Weil ich die da«, Studer klopfte auf seine hintere Hosentasche, »unter dem blauen Packpapier gefunden hab‘…«
»A bah…«, sagte Murmann, holte seinen Tabaksbeutel hervor und stopfte seine Pfeife. »A bah…«, sagte er noch einmal.
»Und in der Küche sind seither gewesen: Sonja, der Lehrer Schwomm, der Coiffeur Gerber — aber auf alle Fälle nicht der Schlumpf. Ja, und jetzt will ich in den ›Bären‹.«
»Paß dann auf, um elf Uhr«, sagte Murmann und stieß Wolken aus seiner Pfeife. »Der Aeschbacher hockt sicher bei seinem Jaß…«
Der Daumenabdruck
Die Nacht war kühl. Studer fröstelte während der kurzen Strecke vom Posten zum ›Bären‹. Er beschloß, noch einen Grog zu trinken, der Schnupfen meldete sich wieder mit Druck im Kopf und einem unangenehmen Jucken im Hals. Aber der Wachtmeister wollte nicht in der Gaststube sitzen. Er fragte den Wirt, der in der Haustüre stand, ob nicht ein Nebenzimmer da sei. Der Wirt nickte.
Der Raum lag neben der Gaststube, die Verbindungstüre stand offen. Drüben war es ziemlich laut, ein Summen von vielen Stimmen, darüber wogten Melodiefetzen, die der Lautsprecher spuckte (Gut, ist er eingeschaltet, dachte Studer); dann sagte eine Stimme: »Fünfzig vom Trumpfaß mit Stöck und Dreiblatt vom Nell…« Bewundernde Ausrufe wurden laut. Dann sagte die gleiche Stimme: »Und Matsch…«
Der Tonfall dieser Stimme erinnerte Studer an irgend etwas. Er kam aber erst darauf, als der Ansager sich im Radio meldete: »Sie hören nun zum Schluß unseres Unterhaltungskonzertes…« Ja, der Ansager sprach hochdeutsch, aber sein Tonfall, seine Art zu sprechen, glich der Stimme, die den unerhörten ›Wiis‹ proklamiert hatte…
Die Wirtin brachte den Grog, sie setzte sich zu Studer, fragte, wie es gehe, ob die Untersuchung Fortschritte mache, nach ihrer Meinung sei natürlich der Schlumpf der Verbrecher. …Aber da seien eben noch andere daran schuld, daß solche Verbrechen in einem stillen Dorf, wie Gerzenstein passieren könnten…
Es war gespenstisch. Die Wirtin redete und Studer hatte den Eindruck, das Gritli Wenger jodeln zu hören. Und als der Wirt auch noch dazu kam (viel jünger schien er als seine Frau, er hatte O-Beine und war, wie sich später herausstellte, Dragonerwachtmeister), ja, als der Wirt zu sprechen begann, hatte er wahr und wahrhaftig die Stimme des Konditorkomikers Hegetschweiler.
Wo hatten die Leute ihre Stimmen gelassen? Waren sie vom Radio vergiftet worden? Hatten die Gerzensteiner Lautsprecher eine neue Epidemie verursacht? Stimmenwechsel?
Da, da war es wieder…
Draußen beklagte sich einer, er habe nichts mehr zu trinken, und er sprach diese einfachen Worte in so singendem Tonfall, daß Studer meinte, den Schlager zu hören: ›Ich hab‘ kein Auto, ich hab‘ kein Rittergut…‹
Der Wachtmeister trat vorsichtig an die Verbindungstür, er hielt sich ein wenig hinter dem Pfosten versteckt und übersah den Raum.
Am Tisch, an dem er zu Mittag gegessen hatte, saßen vier Männer. Am auffälligsten war einer, der sich in die Ecke gedrückt hatte. Es war ein schwerer, dicker Mann. Ein grauer Katerschnurrbart starrte stachelig über seiner Oberlippe, das Gesicht war rot und lief nach oben spitz zu, das Kinn war in Fettfalten eingebettet. Der Kopf glühte, in die Stirne fiel eine einsame, braune Locke.
Wer der Mann dort sei, fragte Studer leise die Wirtin.
Der mit dem spitzen Gring? Das sei der Aeschbacher, der Gemeindepräsident. Studer lächelte, er mußte an den alten Ellenberger denken und an seine kurze, aber treffende Charakterisierung: eine Sau, die den Rotlauf hat… Es stimmte aber doch nicht ganz, dachte Studer bei sich. Der Aeschbacher hatte merkwürdige Augen, sehr, sehr merkwürdige Augen. Verschlagen, gescheit… Nein, ein zweitägiges Kalb war der nicht!
Der Gemeindepräsident hatte als Spielpartner einen Mann, der statt eines Kopfes einen hellgelben, riesigen Badeschwamm zu tragen schien. Studer sah den Mann nur von hinten, jetzt hörte er aber auch dessen Stimme,
»Ich muß leider, leider schieben…«
Es war die Stimme, die sich vorher beklagt hatte, es sei nichts mehr zum Trinken da, die Stimme, die wie die eines Coupletsängers klang.
»Und wer spielt mit dem Gemeindepräsidenten?« fragte Studer.
»Das ist der Lehrer Schwomm.«
»Der hat seinen Namen verdient«, dachte Studer. Das blonde Haar war gekräuselt. Der Mann trug einen hohen steifen Kragen, sein dunkler Rock war sicher nach Maß gearbeitet… Studer sah noch die Hände. Die Härchen darauf schimmerten im Lampenlicht.
An einem anderen Tisch saßen vier junge Burschen — Armin Witschi war dabei und der Coiffeurgehilfe Gerber, die beiden andern waren erst halberwachsen, sie hatten noch Flaum auf den Wangen und ihre Hosen waren zu kurz. Jetzt, da sie saßen, endeten sie in der Mitte der Waden —, auch sie spielten. Eben hatte der Lautsprecher verkündet:
Sie haben soeben als Schluß unseres Abendkonzertes gehört…
Niemand blickte auf. Die Stimme fuhr fort: »Bevor wir Ihnen nun die Wettervoraussage mitteilen, haben wir Ihnen noch eine Bekanntmachung der kantonalen Polizeidirektion zu übermitteln: Es handelt sich um den heute mittag als vermißt gemeldeten Jean Cottereau, Obergärtner in den Baumschulen Ellenberger…« Studer kannte die Mitteilung, in Bern hatten sie sich beeilt, sie durchzugeben. Nun war er neugierig, wie sie wirken würde.
»Der Mann ist zurückgekehrt. Er hat weder über seine Angreifer noch über die Ursache seiner Entführung genauere Mitteilungen machen können, jedoch ist Wachtmeister Studer, der mit den Ermittlungen über den schon gemeldeten Mordfall in Gerzenstein betraut ist, der Meinung, daß besagter Mordfall in engem Zusammenhang mit der Entführung des Obergärtners Cottereau und der Verletzung des Herrn Ellenberger steht. Personen, die Näheres über diesen Fall wissen, werden gebeten, sich auf dem Landjägerposten Gerzenstein zu melden oder der kantonalen Polizeidirektion telephonische Mitteilung über ihre Wahrnehmungen zu machen.«
Pause.
Studer war unter die Tür getreten und beobachtete die Wirkung der Worte.
Die vier jungen Burschen schienen erstarrt. Auf dem Jaßdeckli lag der letzte Stich, fast in der Mitte, vier Karten übereinander, aber keine Hand regte sich, um den Stich zu kehren. Die Kartenfächer hielten sie gegen die Brust gepreßt.
Am Tisch des Gemeindepräsidenten schien niemand weiter erschüttert. Das Spiel war eben frisch gegeben worden. Aeschbacher hielt sein Kartenpäckli in der Hand, die andere Hand stützte den riesigen roten Kopf. Der Mund war leicht verzogen, der Schnurrbart sträubte sich. Der Lautsprecher fuhr fort:
»Wahrscheinlich wird die zuständige Staatsanwaltschaft eine Be…«
Aeschbacher winkte und sagte mit der Stimme, die große Ähnlichkeit mit der des Ansagers hatte:
»Ich habe genug von dem Geschnörr, abstellen!«
Nur auf diesen Befehl schien die Saaltochter gewartet zu haben. Ein Knacken. Stille.
Die Holztische schimmerten hell, frisch gescheuert, die Spieldecken zeichneten schwarze Rechtecke darauf. Auf den Literkaraffen spiegelte sich der gelbe Schein der zwei Deckenlampen. Deutlich hörte Studer das Anstreichen eines Zündholzes an der gerillten Fläche des porzellanenen Aschenbechers. Gemeindepräsident Aeschbacher zündete seinen erloschenen Stumpen an, dann sagte er laut in die Stille:
»Bringet den Burschen dort einen Liter Roten auf meine Rechnung…«
Murmeln am Tisch Armin Witschis:
»Merci, Herr Gemeindepräsident, dank au…«
Dann begann sich die Gruppe wieder zu bewegen. Auch das war ein wenig gespenstisch. Es sah aus, als werde bei Automaten ein Schalter gedreht. Sie begannen plötzlich die gewohnten Bewegungen, die Kartenfächer hoben sich vor die Augen, die Karten fielen auf den Tisch.
Aufgereckt an seinem Platz saß Aeschbacher. Immer noch hielt er das Kartenpäckli in der Hand. Sein Blick war starr auf die Gruppe der spielenden Burschen gerichtet, so, als ob er sie zwingen wolle, in seine Richtung zu blicken.
Aber die Burschen waren ins Spiel vertieft. Die Saaltochter trat zu ihnen, sie drückte sich zärtlich an Armin Witschi, während sie langsam den Liter Rotwein auf den Tisch stellte. Das schien Armin zu stören, er wandte sich brüsk um — und da bemerkte er Aeschbachers Starren. Der Gemeindepräsident winkte mit dem Kartenpäckli. Armin stand gehorsam auf, trat an den Tisch der Herren. Der Gemeindepräsident flüsterte Armin eifrige Worte zu. Und da bemerkte Studer plötzlich, daß ihn Aeschbachers Augen nicht losließen. Der Wachtmeister stand allein in der Tür, die Wirtin war fortgegangen, er sah deutlich den Wink, mit dem Aeschbacher den Armin Witschi auf ihn aufmerksam machte. Nun schielte auch Armin zum Wachtmeister. Studer fühlte sich unbehaglich, am liebsten hätte er jetzt seinen Grog getrunken, der wurde sicher kalt… Aber er wollte noch das Ende der Pantomime betrachten.
Aber es geschah nichts mehr.
»Aeschbacher, du machst Trumpf«, sagte der Mann, der einen Schwamm statt eines Kopfes zu tragen schien, der Mann, dem ein Couplet im Halse sang, der Lehrer Schwomm…
»Ja, ja«, sagte der Präsident ärgerlich. Aeschbacher winkte Armin, er könne nun gehen. Mit einem einzigen Griff breitete er das Kartenpäckli fächerförmig auseinander: »Geschoben!« schnauzte er. Und zur Saaltochter:
»Berti, mach‘ Tür zu, es zieht…«
Studer kehrte zu seinem Grog zurück. Die Verbindungstür fiel zu.
Im kleinen Zimmer zog sich Studer aus. Dann trat er, im Pyjama, ans offene Fenster und blickte über das stille Land. Der Mond war sehr weiß, manchmal zogen Wolken vor ihm vorbei, das Roggenfeld war merkwürdig bläulich…
Und der Wachtmeister erinnerte sich an einen guten Bekannten, mit dem er einmal in Paris zusammengearbeitet hatte. Madelin hieß er und war Divisionskommissär bei der Police judiciaire gewesen. Ein magerer, gemütlicher Mann, der unglaubliche Mengen Weißwein vertilgen konnte, ohne betrunken zu werden. Als Extrakt seiner zwanzigjährigen Diensterfahrung hatte er Studer einmal folgendes gesagt:
»Studer (er sagte ›Stüdère‹), glaub mir: Lieber zehn Mordfälle in der Stadt als einer auf dem Land. Auf dem Land, in einem Dorf, da hängen die Leute wie die Kletten aneinander, jeder hat etwas zu verbergen… Du erfährst nichts, gar nichts. Während in der Stadt… Mein Gott, ja, es ist gefährlicher, aber du kennst die Burschen gleich, sie schwatzen, sie verschwatzen sich… Aber auf dem Land!… Gott behüte uns vor Mordfällen auf dem Land…«
Studer seufzte. Der Kommissär Madelin hatte recht.
Und dunkel bohrte in ihm noch der Vorwurf, daß er es unterlassen hatte, den Browning mit der nötigen Vorsicht zu behandeln. Vielleicht hätte man doch Fingerabdrücke darauf feststellen können? Aber was hätte das genützt? Er konnte doch nicht den Lehrer Schwomm oder gar den Gemeindepräsidenten Aeschbacher mit einem Tintenkissen und Formularen besuchen und sie freundlichst bitten, doch die Güte zu haben und ihre werten Fingerspitzen auf diesen amtlichen Papieren zu verewigen… Gewiß, es gab ja andere Methoden, sich Fingerabdrücke zu verschaffen: Zigarettendosen aber Studer rauchte keine Zigaretten, und dann waren diese Methoden alle so kompliziert. In Büchern machten sie sich gut, in Spionagebureaux schien man manchmal Erfolg mit ihnen zu haben… aber in der Wirklichkeit?… Studer nieste und ging ins Bett…
— Er saß in einem riesigen Hörsaal, eingezwängt in eine schmale Bank. Der Deckel des Pultes vor ihm drückte ihn schmerzhaft auf den Magen, er konnte die Beine nicht strecken. Die Luft im Raum war stickig, er konnte nicht recht atmen. Vor einer schwarzen Wandtafel ging ein Mann in weißem Mantel rastlos auf und ab. Er sprach. Und auf die Wandtafel war mit Kreide ein riesiger Daumenabdruck gezeichnet. Die Linien darin bildeten verrückte Muster, Schleifen, Spiralen, Berge, Täler, Wellen. Gerade Striche waren von den einzelnen Linien aus gezogen, ragten über den Abdruck hinaus und trugen an ihrem Ende Nummern. Und der Mann, der vor der Tafel hin und her lief, zeigte auf die Nummern und dozierte. »Von der Wiege bis zum Grabe bleiben die Kapillaren identisch, merken Sie sich das, meine Herren, und wenn zwölf Punkte übereinstimmen, so haben Sie den mathematischen Beweis. Dies ist der Daumen, meine Herren, der Daumenabdruck eines Mannes, der durch die Unachtsamkeit eines Beamten verlorengegangen ist und den ich nach meiner neuen Methode des fernen Wellensehens zur restitutio ad integrum gebracht habe. Der Schuldige sitzt zwischen Ihnen, ich will ihn nicht nennen, denn er ist gestraft genug. Er wird in Pension gehen müssen und in seinem Lebensalter verhungern, denn er hat pflichtvergessen gehandelt. Denn dieser Daumen, meine Herren und Damen…« In der ersten Bankreihe saß Sonja Witschi, sie trug ein weißes Kleid und blickte mit Verachtung auf Studer. Das schmerzte Studer sehr. Am meisten aber tat ihm weh, daß der Gemeindepräsident Aeschbacher neben Sonja saß und seinen Arm um die Schultern des Mädchens gelegt hatte. Studer wollte sich unter der Bank verstecken, er fühlte, daß die Blicke aller Zuhörer auf ihn gerichtet waren, er konnte nicht, die Bank war zu eng… Da stand plötzlich in der Tür des Saales der Polizeihauptmann und sagte laut: »Hast dich wieder blamiert, Studer? Komm her, komm sofort her…« Studer zwängte sich aus der Bank, Sonja und Aeschbacher lachten ihn aus, der Herr im weißen Mantel war plötzlich der Lehrer Schwomm, und er sang: »Das ist die Liebe, die dumme Liebe…« Aeschbacher hatte noch immer seinen Daumen aufgereckt, der wuchs und wuchs, schließlich war er so groß wie die Zeichnung auf der Tafel… »Poroskopie«, rief der Lehrer Schwomm im Arztkittel, »Daktyloskopie!« schrie er. Und am Fenster stand der Kommissär Madelin, sah böse drein und fluchte: »Haben Sie Locard vergessen, Stüdère, fünfzehn und sechs und sechs und elf Punkte, das war zur Überführung genügend im Falle Desvignes. Und im Falle Witschi?… Alles vergessen, Stüdère? Schämen Sie sich.« Der Polizeihauptmann aber zog ein Paar Handschellen aus der Tasche und fesselte Studer. Dazu sagte er. »Aber ich zahl‘ dir keinen Halben Roten im Bahnhofbuffet. Ich nicht!« Studer weinte, er weinte wie ein kleines Kind, die Nase stach ihm, er zottelte hinter dem Polizeihauptmann her. Auf dem Rücken des Mannes, ganz nah vor Studers Augen, hing eine weiße Tafel. Darauf war wieder der Daumenabdruck. Und darunter stand in dicker Rundschrift: ›Keine Tannennadeln, aber ein verlorengegangener Abdruck…‹ Dann saß Studer in einer Zelle, zwei Betten waren darin. Auf dem einen lag der Schlumpf, eine blaue Zunge hing ihm aus dem Mund. Auch er hielt den Daumen der Rechten aufgereckt und blinzelte mit den Lidern. Er erhob sich, immer noch hing die Zunge aus seinem Mund, er schritt auf Studer zu, stand vor ihm und wollte ihm den Daumen ins Auge stoßen. Studer war gefesselt, er konnte sich nicht wehren, er schrie…—
Der Mond schien ihm in die Augen. Sein Pyjama war feucht, er hatte ausgiebig geschwitzt. Lange blieb er wach liegen. Der Traum wollte sich nicht verscheuchen lassen und Studer hatte Angst, wieder einzuschlafen. Es war nicht der Daumen, der riesige Daumenabdruck, der ihn beschäftigte. Merkwürdigerweise wurde er das andere Bild nicht los, das er im Traume gesehen hatte: Aeschbacher, der seinen Arm um Sonjas Schultern gelegt hatte und ihn auslachte…
Es war still draußen. Gerzensteins Lautsprecher schwiegen.
The Convict Band
Der alte Ellenberger sah mit seinem weißen Verband rund um den Kopf einem Varietéfakir ähnlich, der seinen Vorstellungssmoking versetzt hat und nun in einem geliehenen Anzug spazieren gehen muß. Er spazierte zwar nicht, er saß einsam und still an einem der vielen runden Eisentischchen, die mit ihren roten Decken aussahen wie Fliegenpilze in der Phantasie eines expressionistischen Malers…
Das Wetter war heiter, warm und es schien sogar beständig. Die Kastanienbäume im Garten des ›Bären‹ trugen steife rote Pyramiden an ihren Ästen und ihre Blüten fielen auf die Tische wie roter Schnee.
Der Garten war groß; hinten, wo er durch einen Zaun abgeschlossen war, war eine Estrade aufgerichtet worden. Zwei Paare tanzten darauf. Fast an den Zaun geklebt spielte die Musik. Handharfe, Klarinette, Baßgeige. Als der Wachtmeister den Garten durchschritt, um den alten Ellenberger zu begrüßen, nickte er der Musik zu. Die drei nickten zurück, erfreut, schien es. Der Handharfenspieler lächelte, nahm einen Augenblick die Hand von den Bässen und winkte. Es war Schreier.
Der Schreier, den Studer vor drei Jahren bei seiner Wirtin verhaftet hatte… Der Baßgeigenspieler schwenkte den Bogen — auch ein Bekannter, Spezialität Mansardendiebstähle, seit zwei Jahren hatte man auf der Polizei nichts mehr von ihm gehört…
Studer setzte sich an des alten Ellenbergers Tisch.
Begrüßung… — Wie geht‘s… — Schönes Wetter…
Dann fragte der Ellenberger:
»Sind die Äpfel schon reif, Wachtmeister?« und grinste mit seinem zahnlosen Mund.
»Nein«, sagte Studer.
Das Bier war frisch. Studer nahm einen langen Zug. Die Musik spielte einen Tango.
»Zürcher Strandbadleben…« sagte der Alte mit der Miene eines Musikkenners. Er schnalzte dabei mit der Zunge. Die Beine hatte er von sich gestreckt. Schwarzseidene Socken und braune Halbschuhe…
»A la vôtre, commissaire…« sagte der alte Ellenberger. Dann erkundigte er sich, ob der Wachtmeister auch französisch spreche.
Studer nickte. Er sah dem Alten ins Gesicht — dies Gesicht hatte sich merkwürdig verändert. Die Züge waren noch die gleichen, aber der Ausdruck war ein anderer. So, als ob ein Schauspieler, der täuschend die Rolle eines alten Bauern gespielt hat, nun seine Verstellung plötzlich aufgeben würde. Aber hinter der Maske kam eben nicht ein Schauspielergesicht zum Vorschein, sondern vor Studer saß ein nachdenklicher alter Herr, der das Französische fließend sprach, ohne Akzent, und seine Rede mit zarten Handbewegungen begleitete. Die Haut seiner Hand war mit Tupfen übersät, die in der Farbe an dürres Buchenlaub erinnerten. Über seine Vorliebe für entlassene Sträflinge müsse sich der Kommissär nicht wundern, führte er aus, immer noch in französischer Sprache. Er habe sein Vermögen in den Kolonien verdient und da habe er als Arbeitskräfte immer Sträflinge zugewiesen bekommen. Er sei mit dem Residenten gut befreundet gewesen… Aber man sei eben dumm. Er habe auf das Alter hin Heimweh bekommen nach der Schweiz und habe sich in diesem Gerzenstein angekauft… Eigentlich, sagte er, sei diese Baumschule, die er eröffnet habe, ein Luxus. Zu verdienen brauche er ja nichts mehr, sein Geld sei sicher angelegt, so sicher, als es in einer unsicheren Zeit, wie der jetzigen, möglich sei.
Studer hörte dem Reden des alten Mannes nur unaufmerksam zu. Er war damit beschäftigt, den alten Ellenberger, der in seiner Erinnerung lebte, mit dem Manne zu vergleichen, der vor ihm saß. Schon am Freitagabend, im Café, am runden Tischchen vor dem Fenster, das auf einen giftiggrauen Abend ging, hatte er dem Baumschulenbesitzer gegenüber ein merkwürdig unsicheres Gefühl gehabt. Es hatte ihm damals geschienen, als sei alles an dem alten Manne falsch. Alles? Nicht ganz. Das Gefühl, das Ellenberger für den Schlumpf zu empfinden schien, war echt, sicher…
Aber was bezweckte der Ellenberger heute? Warum gab er sich so anders? Studer schüttelte unmerklich den Kopf. Ihm schien es, als sei auch das heutige Gesicht des alten Ellenberger noch nicht das echte. Oder hatte der Mann gar kein wirkliches Gesicht? War er etwas wie ein verfehlter Hochstapler? Man wurde aus ihm nicht klug.
Zwei Burschen und ein Mädchen nahmen in der Nähe Platz. Sonja Witschi grüßte mit einem leichten Nicken. Die beiden Burschen tuschelten miteinander, grinsten, schielten auf Studer, tauschten Bemerkungen aus. Als die Kellnerin das Bier brachte, legte Armin Witschi herausfordernd den Arm um ihre Hüften. Die Kellnerin blieb eine Weile stehen, sie wurde langsam rot, ihr müdes Gesicht sah rührend freudig aus… Aber sie wurde gerufen. Sanft machte sie sich los… Armin Witschi fuhr mit der flachen Hand über seine Haare, die sich in Dauerwellen über der niederen Stirn aufschichteten. Der kleine Finger war abgespreizt…
»Un maquereau…« sagte Studer leise vor sich hin; es klang nicht verurteilend, eher gütig-feststellend.
»Mein Gott, ja…« antwortete der alte Ellenberger und grinste mit seinem zahnlosen Mund. »Sie sind gar nicht so rar, wie man meinen könnte…«
Armin sah böse zu den beiden. Die Worte hatte er sicher nicht verstanden, aber er hatte wohl gefühlt, daß von ihm die Rede war.
Der andere Bursche am Tische Armins war der Coiffeurgehilfe Gerber. Er trug weite graue Flanellhosen, dazu ein blaues Polohemd ohne Krawatte. Seine Arme waren sehr mager…
Er stand auf, verbeugte sich vor Sonja. Die beiden stiegen auf den Tanzboden. Schreier, der Handharfenspieler, griff daneben, als er die beiden Tanzenden sah, Studer schaute auf… Da sah er, daß die Blicke der drei Musikanten auf ihn gerichtet waren… Er nickte hinüber und wußte selbst nicht, warum er so aufmunternd nickte…
Die drei trugen einfarbige Kostüme: senffarbige Leinenhosen, senffarbige Pullover ohne Ärmel, und auch die Hemden waren gelb wie Senf.
Der alte Ellenberger schien Studers Gedankengang zu erraten, denn er sagte:
»Ich habe ihnen das Kostüm geschenkt… Entworfen hab‘ ich‘s auch… Es hat mich gereizt, die guten Bürger hier im Dorf ein wenig zu entsetzen… Mein Gott, wenn man sonst keinen Spaß hat…«
Studer nickte. Es war ihm immer weniger ums Reden zu tun. Er hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und saß nun da, in seiner Lieblingsstellung, die Beine gespreizt, die Unterarme auf den Schenkeln, die Hände gefaltet. Vor ihm lag der Garten, durch das dichte Laub brachen da und dort Sonnenstrahlen und malten weiße Tupfen auf den grauen Kies. Wenn die Musik schwieg, zitterte über dem Stimmengesumm das Zwitschern unsichtbarer Vögel in den Baumkronen…
Es war ihm nicht recht wohl, dem Wachtmeister Studer… Es war im Anfang zu gut gegangen — und sonderbarerweise bedrückte ihn am meisten der Traum der vergangenen Nacht. Am Morgen hatte er die Pistole untersucht. Es war ein billiges Modell, er erinnerte sich dunkel, es in Bern in einer Auslage gesehen zu haben… Zwölf oder fünfzehn Franken? Vom Landjägerposten aus hatte Studer gestern telephoniert, die Nummer angegeben und gebeten, man möge sich bei den Waffenhändlern erkundigen… Es war fast aussichtslos, sicher, den Käufer festzustellen… Aber vielleicht gelang es zu beweisen, daß es dem Schlumpf unmöglich gewesen war, den Browning zu kaufen…
Jemand war vor ihm stehen geblieben. Er sah zuerst nur zwei schwarze Hosenbeine, die an den Knien stark ausgebeult waren. Dann wanderte sein Blick langsam aufwärts: ein riesiger Bauch, über den sich ein breiter Stoffgürtel spannte, ein Umlegkragen und der schwarze Knoten einer Krawatte; endlich, eingebettet in Fettwülste, das Gesicht des Gemeindepräsidenten Aeschbacher…
Und Studer dachte an seinen Traum…
Aber Aeschbacher war die Freundlichkeit selbst. Er grüßte höflich, fragte, ob es erlaubt sei, Platz zu nehmen, er schüttelte Studer herzlich die Hand und nahm dann keuchend Platz… Die Kellnerin brachte unaufgefordert ein großes Helles, das Bier verschwand in Aeschbachers Innerem, nur ein wenig Schaum blieb am Boden des Glases kleben…
»Noch eins…« sagte der Gemeindepräsident und keuchte.
Er tätschelte den Arm des alten Ellenberger, der Laute von sich gab, ähnlich denen eines Katers, der nicht weiß, ob er behaglich schnurren soll oder spuckend auf den Störenfried losfahren.
Aeschbacher rettete die Situation, indem er sich erkundigte, ob man nicht einen ›Zuger‹ machen wolle…
Die Kellnerin, die das zweite Bier gebracht hatte, flitzte davon, kam mit dem Jaßdeckeli zurück, breitete es aus, legte die gespitzte Kreide auf die sauber geputzte Tafel und verzog sich wieder: drei leere Biergläser nahm sie mit…
»Drei Rappen der Punkt?« schlug Aeschbacher vor.
Der alte Ellenberger schüttelte den Kopf. Die Maske des weitgereisten Herrn, der ohne Akzent französisch spricht, hatte der andern Platz gemacht. Es war der alte Bauer, der jetzt wieder am Tische saß, und es war auch der alte Bauer, der mit unangenehm krächzender Stimme sagte:
Drei Rappen sind zu wenig. Unter zehn Rappen spiel‘ ich nicht mit…«
Studer wurde es noch unbehaglicher. Der »Zuger« war ein verdammt gefährlicher Jaß. Wenn man Pech hatte, konnte man ohne viel Mühe fünfzehn Franken verlieren… Und fünfzehn Franken waren eine Summe!… Es ging nicht gut an, Spielverluste auf die Spesenrechnung zu setzen. Aber dann interessierte ihn wieder das Verhalten seiner beiden Partner beim Spiel so stark, daß er schließlich nickte.
Aeschbacher zog die Tafel zu sich heran, zeichnete mit der Kreide auf den oberen Holzrand drei Buchstaben: S.E.A. Dann begann er die Karten zu mischen und auszuteilen. Der alte Ellenberger hatte eine Stahlbrille aus der Rocktasche gezogen und sie auf seine Nase gesetzt…
Beim ersten Spiel konnte Studer hundertfünfzig weisen. Er atmete auf.
»Wachtmeister« sagte der Gemeindepräsident und kratzte mit dem Fingernagel in seinem Katerschnurrbart, »Ihr geht, hab‘ ich gehört, bald in Pension?…«
Studer sagte: »Ja.«
»So«, mit einem einzigen Griff breitete Aeschbacher die Karten fächerförmig aus, hielt sie vor die Nase und:
»Ich hätte für Sie… Ich hätte für Sie eine interessante Beschäftigung. Ein Freund von mir«, fuhr er vertraulich fort, »hat ein Auskunftsbureau aufgetan und sucht einen tüchtigen Mann, der Sprachen beherrscht, der etwas Verstand im Kopf hat, der Untersuchungen selbständig führen könnte. Eintritt so bald wie möglich. Daß man Sie von der Polizeidirektion ohne weiteres gehen läßt, dafür will ich schon sorgen. Ich habe meine Beziehungen. Einverstanden? Ich telephoniere dann morgen…«
— Studer solle sich von dem Schlangenfanger nicht einlieren lassen, meinte der alte Ellenberger. Der Schlangenfanger verspreche immer den Mond, aber wenn man näher hinsehe, sei es nicht einmal ein Weggli.
Aeschbacher blickte böse auf.
— Ellenberger solle so gut sein und die Klappe halten, es gebe sonst Durchzug, meinte er gehässig. — Dann solle der Herr Gemeindepräsident seine Vorschläge machen, wenn er mit dem Studer unter vier Augen sei. Wenn er sie so öffentlich mache, so sei es nur recht und billig, wenn auch er seine Meinung sage.
Studer mischte die Karten.
Am Tisch nebenan war Armin Witschi aufgestanden, hatte die Kellnerin um die Taille gefaßt und zog die sich Sträubende zum Tanzboden. Auch der Coiffeurgehilfe mit den roten Lippen war aufgestanden, hatte Sonjas Arm genommen. Sonja schien nicht gern mitzugehen…
Studer starrte auf die beiden Paare, wie sie auf dem erhöhten Podium enganeinandergeschmiegt tanzten. Sonja hatte ihre Hand gegen die Schulter des Coiffeurgehilfen gestemmt, um ein wenig Abstand zu halten. Die Musik spielte und Schreier sang den Refrain mit:
»Grüezi, Grüezi, so sagt man in der Schweiz.
»Allez! allez!« sagte Aeschbacher ungeduldig, »Spiel geben!« Aber auch er drehte sich um und beobachtete die Tanzenden.