Kitabı oku: «Der Mann von Eisen», sayfa 3
5. Kapitel
Eines Tages wurde die Familie Brettschneider durch ein Telegramm aus Hamburg überrascht. Dort wohnte ein einsames, altes Fräulein, eine entfernte Verwandte, eine Kusine von der Mutter der Gutsherrin.
Vor langen Jahren, als die Kinder in Andreaswalde noch klein waren, war sie einmal auf einige Zeit zu Besuch gewesen. Seitdem beschenkte sie die Kinder regelmäßig zum Geburtstag und zu Weihnachten mit Kleinigkeiten und erhielt jedes Mal einen gemeinsamen Dankbrief.
Ob die Tante Borkchen reich war oder nur ihr kümmerliches Auskommen hatte, wusste man nicht.
Man war deshalb in Andreaswalde einigermaßen überrascht, als die Pflegerin der alten Dame in der Depesche um schleunigen Besuch der Frau Brettschneider bat, da ihre Herrin sich recht schwach fühlte und ihre einzige Anverwandte noch gern vor ihrem Tode sehen und sprechen möchte.
Frau Brettschneider hatte nicht große Lust, dieser Bitte zu entsprechen, aber als Hanna einen Ausflug nach Helgoland, Sylt usw. in Vorschlag brachte, wurde die Reise beschlossen und mit möglichster Beschleunigung vorbereitet. Am nächsten Morgen bereits traf ein Telegramm ein, das den Tod der alten Dame meldete und noch dringlicher um den Besuch eines der Mitglieder der Familie Brettschneider bat. Zur Regelung des Nachlasses würde die Anwesenheit eines männlichen Familienmitgliedes erwünscht sein.
Jetzt kam Hanna auf den Gedanken, dass es sich vielleicht doch um eine bedeutende Erbschaft handeln könnte. Nun machte Brettschneider den Vorschlag, dass die Mutter mit Hanna hinfahren und Wolf als männlichen Beistand mitnehmen sollte.
»Er steht uns doch so nahe wie ein Sohn, und wird es ja wahrscheinlich auch noch werden«, meinte der Hausherr mit glücklichem Lächeln.
Seine Gattin maß ihn mit einem langen, verwunderten Blick.
»Du scheinst es gar nicht zu wissen, dass diese Kindereien zwischen Wolf und Hanna längst abgetan sind. Hanna denkt gar nicht daran, Wolf zu heiraten.«
Wohl oder übel musste Herr Brettschneider sich selbst entschließen, seine Gattin zu begleiten. Aber mit einer Entschiedenheit, die sonst selten bei ihm zum Ausdruck kam, bestimmte er, dass Hanna zu Hause bleiben solle.
Am zweiten Tage nach der Abreise der Eltern wurde Brinkmann im Stall von einem Pferde geschlagen und erheblich verletzt. Grete, die Jüngste, die sich immer auf dem Hof befand, brachte die Nachricht ins Gutshaus und warf in ihrer praktischen Art sofort die Frage auf, wer nun die Wirtschaft leiten sollte. Wie aus einem Munde riefen Christel und Hedwig: „Wolf“.
Es sei selbstverständlich, dass er gleich benachrichtigt werden müsste. Hanna widersprach. Die Beziehungen zwischen Andreaswalde und Dalkowen hätten sich so geändert, dass es nicht mehr möglich sei, die Dienste des Nachbars in Anspruch zu nehmen. Christel schwieg dazu. Hedwig jedoch erklärte rund heraus, sie ginge es gar nichts an, was Hanna mit Wolf vorgehabt hätte, für sie blieben Tante Mathilde und Wolf, was sie immer gewesen wären, die liebsten Menschen und die besten Freunde.
»Das ist deine Sache«, erwiderte Hanna. »Ich als Älteste werde tun, was ich für richtig halte. Grete geht jetzt sofort zu Brinkmann und stellt fest, ob er imstande ist, durch den Kämmerer die Wirtschaft zu leiten.«
Nach wenigen Minuten brachte Grete den Bescheid zurück, dass Brinkmann schon selbst die Sache so geordnet habe. Damit glaubten die Mädchen den Zwischenfall erledigt.
Als sie sich eben an den Kaffeetisch gesetzt hatten, erschien Herr Nadrenko im Gutshause und ließ sich bei Hanna melden. Die Mädchen waren noch nie mit dem Russen, obwohl sie ihn täglich sahen, in persönliche Berührung gekommen. Er erschien zwar jeden Tag nach Feierabend im Gutshause und blieb manchmal auch länger bei dem Gutsherrn, als die Besprechung der Arbeitsaufträge erforderte. Dann erzählte der Hausherr jedes Mal, dass er sich mit dem russischen Inspektor in anregender Weise über alles Mögliche unterhalten habe. Es sei ein interessanter, gebildeter Mann.
Ohne Bedenken ließ Hanna Herrn Nadrenko eintreten, bot ihm eine Tasse Kaffee an und fragte ihn nach der Ursache seines Besuches.
Nadrenko verbeugte sich lächelnd und erwiderte, er wolle nur um die Adresse des Gutsherrn in Hamburg bitten, um sich mit ihm in Verbindung zu setzen.
»Aha«, rief Grete, die nicht gewohnt war, ihren Gedanken und ihrem Munde Zügel anzulegen, »Sie wollen Herrn Brinkmann nicht gehorchen.«
»Nein, mein kleines, gnädiges Fräulein«, erwiderte Nadrenko, »ich habe bis jetzt nur mit Ihrem Herrn Vater zu tun gehabt und lasse mir nicht durch den Kämmerer ansagen, was ich zu tun habe. Das müssen Sie doch selbst einsehen, dass ich mir das nicht gefallen lassen kann.«
»Kann diese Sache nicht in der Schwebe bleiben, bis mein Vater zurückkommt?«
Der Russe zuckte die Achseln.
»Es muss doch entschieden werden, ob Herr Brinkmann mir Anweisungen erteilen darf.«
»Haben Sie sich denn nicht mit meinem Vater besprochen, was während seiner Abwesenheit hier geschehen soll?« fragte jetzt Christel, und es lag eine deutlich erkennbare Verwunderung in ihrem Ton.
»Nein, gnädiges Fräulein, Ihr Herr Vater ließ mir darin freie Hand, ich machte ihm nur ab und zu Vorschläge.«
»Verstehen Sie denn so viel von der Wirtschaft?« rief Grete vorlaut dazwischen.
Christel und Hedwig lachten, denn die Kleine hatte ausgesprochen, was sie selbst eben dachten. Hanna sandte der jüngeren Schwester einen strafenden Blick zu, aber ehe sie die dazugehörigen Worte gefunden hatte, erwiderte Nadrenko mit feinem Lächeln:
»Das kleine Fräulein hat nur ausgesprochen, was Sie alle in diesem Augenblick gedacht haben, und ich fühle mich verpflichtet, darauf Antwort zu geben, um die Damen der Sorge zu entheben, dass Andreaswalde unter meiner Leitung nicht gut aufgehoben sein könnte. Ich habe die Landwirtschaft nicht nur gelernt, sondern auf einem viel größeren Gute geleitet. Es war allerdings nicht mein ursprünglicher Beruf…«
Er machte eine Pause und sah Hanna an. Sie schien in seinem Blick die Aufforderung gelesen zu haben, ihm Gelegenheit zu geben, weiterzusprechen, denn sie tat die Frage, was er denn vorher gewesen sei.
»Wenn es die Damen interessiert, will ich Ihnen gern meinen ziemlich bewegten Lebenslauf schildern.
Ich habe schon mehrere Berufe gehabt, bin aber in keinem sehr weit gekommen. Ich stamme aus einem sehr guten, begüterten Hause und wurde schon ganz jung zum Offizier bestimmt. Als der Krieg mit Japan ausbrach, war ich gerade Leutnant geworden.«
»Ach, Sie haben wirklich den Krieg mit Japan mitgemacht?« rief Grete dazwischen.
»Jawohl, mein kleines Fräulein.«
Er hob seine Tasse und reichte sie Christel hin.
»Darf ich noch um eine Tasse des köstlichen Getränkes bitten, für dessen Bereitung ich wohl Ihnen mein Kompliment machen darf?«
»Keine Ursache«, erwiderte Christel trocken, »wir trinken immer guten Kaffee.«
Nadrenko verbeugte sich lächelnd und fuhr fort:
»Ich habe bei diesem Anlass erst den richtigen Begriff von der Größe meines Vaterlandes bekommen. Es ist unermesslich. Vier Wochen waren wir mit der Bahn unterwegs, Tag und Nacht.«
»In dem Krieg mit Japan haben Sie sich aber nicht mit Ruhm bekleckert«, rief Grete dazwischen.
Die Schwestern lachten, Herr Nadrenko machte ein sehr verwundertes Gesicht.
»Nicht mit Ruhm bedeckt«, erklärte Hanna.
»Ah, nicht bedeckt mit Ruhm, meint das kleine Fräulein. Ja, der Ausgang des Krieges war unglücklich. Wir haben den kleinen Gegner unterschätzt, unsere Führung war schlecht, und am meisten hinderte uns die gewaltige Entfernung, genügende Truppenmassen auf dem Kriegsschauplatz zu entfalten. Einen Feind, der uns so nahe liegt, wie z. B. Deutschland, würden wir ohne Zweifel allein durch unsere Massen zerdrücken.«
»Na, na«, meinte Christel ruhig, »wir würden uns nicht erdrücken lassen.«
Nadrenko beugte wie zustimmend den Kopf.
»Gnädiges Fräulein, das ist ein schlechtes Thema zwischen uns. Ich wollte nur die gewaltigen Truppenmassen meines Vaterlandes betonen.«
»Und wir wollen nicht die Chancen eines Krieges zweier befreundeter Reiche erörtern«, warf Hanna ein.
»Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein, für diesen Ordnungsruf«, erwiderte Nadrenko, indem er seine stahlgrauen Augen mit einem aufleuchtenden Blick auf Hanna richtete. »Ich habe gar keine Veranlassung, für mein Vaterland so warm einzutreten, weil ich hier bei Ihnen in Deutschland Schutz gesucht habe.«
»Ach, weshalb denn?« fragte Hanna.
»Weil mich mein Vaterland sehr schlecht behandelt hat. Ich hatte durch den Krieg die Lust an meinem Beruf verloren und benutzte eine ziemlich leichte Verwundung, um meinen Abschied zu erbitten. Ich wollte dann studieren und ging nach Kiew an die Universität, um mir als Jurist die nötigen Vorkenntnisse für die höhere Verwaltungskarriere anzueignen, der auch mein Vater angehört.«
Der kleinen Grete schienen die Lebensschicksale des Herrn Nadrenko so wenig interessant zu sein, dass sie aufstand und ans Fenster ging. In demselben Augenblick rief sie auch schon aus:
»Die Fohlen kommen von der Koppel rein.«
Sie sprang zum Tisch zurück und griff in die Zuckerdose.
»Christel, darf ich? Komm’ mit, Heta! Willst ’mal sehen, wie der Peter mir gehorcht? Er kommt in der Koppel auf mich zu und küsst mich, wenn ich an den Zaun komme.«
Mit einer kurzen Verbeugung gegen Herrn Nadrenko stand Hedwig auf und ging mit der Schwester hinaus.
»Ich darf den beiden Damen jetzt wohl mit der Bitte um Diskretion verraten, dass Nadrenko nur ein angenommener Name ist, ich heiße in Wirklichkeit Wladimir Georgewitsch Graf Tolpiga.«
»Ah, Herr Graf«, rief Hanna überrascht aus.
Christel schien für die Bedeutung dieser Enthüllung kein rechtes Verständnis zu besitzen, sie lächelte nur.
»Ich bitte, diese Mitteilung, die ich bereits Ihrem Herrn Vater gemacht habe, durchaus diskret zu behandeln, meine Damen«, fuhr Nadrenko ruhig fort, »ich bin nicht sicher, dass sich nicht unter meinen Leuten ein Verräter, ein Spion der russischen Regierung befindet.«
»Sie sind ein Graf und kommen als Anführer russischer Erntearbeiter hier nach Deutschland?« fragte Christel mit einem leisen Zweifel in der Stimme.
»Jawohl, mein gnädiges Fräulein«, erwiderte Nadrenko, »das ist eine bittere Notwendigkeit. Ich war zwei Jahre bei einem deutschen Herrn, der an der Mündung des Don große Güter besitzt, als Inspektor tätig. Da fügte es der Zufall, dass unter den neuen Arbeitern, die wir im Frühjahr erhielten, sich ein Mann befindet, der bei meiner Schwadron gestanden hat. Er stürzt auf mich zu, küsst mir die Hände und ruft meinen richtigen Namen. Die Leute, die herumstehen, sehen mich erstaunt an … ‘Der Herr Mischka’, so nannte ich mich damals, ‘ist ein Graf?’ Noch an demselben Abend fuhr ich ab, um mich in Sicherheit zu bringen, denn ich konnte mit Gewissheit annehmen, dass sich in der Nacht mehrere zu der glücklicherweise ziemlich entfernt liegenden Polizeistation aufmachen würden, um dort zu berichten, dass in Tworki ein Inspektor lebe, der sich nur Mischka nenne, in Wirklichkeit aber ein Graf Tolpiga sei. Für solche Nachrichten bekommt man in Russland eine Belohnung…«
»Was haben Sie denn eigentlich verbrochen, dass Sie von der Polizei verfolgt werden?« fragte Christel.
»Verbrochen? In Russland genügt ein Verdacht, um verhaftet und nach Sibirien gebracht zu werden.
Ich war in Kiew in die Kreise der jungrussischen Bewegung geraten, die ich nicht mit den sogenannten Nihilisten zu verwechseln bitte. Sie erstreben nichts weiter als eine Wiedergeburt des Vaterlandes unter Mitwirkung einer Volksvertretung. Die jugendliche Begeisterung dieser Kreise zog mich an, obwohl ich durchaus nicht auf dem Boden dieser Bewegung stand. Aber Sie müssen sich vorstellen, dass es auf den russischen Universitäten, wenn man eine geistige Anregung von gleichaltrigen Kommilitonen haben will, keine andere Wahl gibt, als sich einer der beiden großen Bewegungen anzuschließen. Die eine, weitaus größere, ist durchweg von anarchistischen Ideen beherrscht, und ich kann verstehen, dass sie von der Regierung mit der größten Rücksichtslosigkeit verfolgt wird, denn die jugendlichen Schwärmer wollen alles, was staatliche Ordnung heißt, von Grund auf zerstören.«
»Ah, wie interessant!« warf Hanna dazwischen.
»Ja, sehr interessant, mein gnädiges Fräulein, aber auch sehr gefährlich. Von diesen Kreisen habe ich mich aus vollster Überzeugung ferngehalten. Die anderen, mit denen ich durch Zufall in Berührung kam, scheinen aber der Regierung noch gefährlicher zu sein, denn eines Nachts wurde der ganze Zirkel, in dem ich verkehrte, von der Polizei aufgehoben. Mein Vater, dem ein guter Freund einen Wink gegeben hatte, hielt mich unter einem Vorwand zu Hause zurück, und um Mitternacht war ich bereits auf einer Troika unterwegs, um weit im fernen Osten als einfacher Mischka unterzutauchen.«
»Sie sagten doch, Russland wäre so ungeheuer groß«, meinte Christel trocken.
»Jawohl, aber nicht für die Polizei. Vom Don fuhr ich nach Kiew, suchte nachts heimlich mein Vaterhaus auf, versah mich mit Geld und fuhr an die Westgrenze, wo ich mir mit falschem Pass als Anführer eines Trupps Erntearbeiter die Flucht nach Deutschland sicherte. Hätte mein Vater nicht so gute Verbindungen, dann wäre mir die Flucht nicht gelungen, denn der Direktor der Kammer an der Grenze hatte mich erkannt und sagte es mir, als ich ihm meinen falschen Pass vorlegte. Nun lebe ich hier wie der Vogel in der Luft…«
Seine Stimme bekam einen harten Ton…
»Wenn meine Leute nach Hause zurückkehren, muss ich hierbleiben, ich hoffe auf die gütige Fürsprache Ihres Herrn Vaters. Vielleicht wird mir gestattet, im nächsten Winter eine deutsche Universität zu besuchen. Ich möchte mir einen neuen Beruf erobern. Jura weiter zu studieren, hat doch für mich keinen Zweck. Ich würde anfangen, Medizin zu studieren, um mich als Arzt in irgendeinem Kulturstaat betätigen zu können.«
Nach einer Pause fuhr er mit weicher Stimme fort:
»Ich habe in den Kreisen, in denen ich aufgewachsen bin, Ihr Vaterland nicht lieben gelernt … Es ist viel Hass gegen Sie in Russland, und am meisten in den Kreisen der Intellektuellen. Wahrscheinlich aus dem Gefühl heraus, dass Sie uns überlegen sind … Ich achte Ihr Vaterland … Dass ich es schon liebe, können Sie von mir nicht verlangen, aber ich fühle bereits, dass ich es einmal lieben werde…«
Mit einer plötzlichen Aufwallung streckte Hanna ihm über den Tisch die Hand entgegen. Er sprang auf und küsste ihr die Hand.
»Herr Graf, es ist wohl nicht mehr nötig«, sagte Hanna mit einem leichten Beben in der Stimme, »dass wir meinen Vater mit dieser Ungelegenheit behelligen. Ich werde Herrn Brinkmann benachrichtigen, dass er keine Befugnis hat, Ihre Tätigkeit zu überwachen und Ihnen Befehle zu geben.«
Nadrenko klappte die Hacken zusammen und verbeugte sich. Mit der theatralischen Gebärde, die allen Slawen eigentümlich ist, legte er dabei die rechte Hand aufs Herz.
»Tausend Dank, meine Damen … Ihr Herr Vater wird mit mir zufrieden sein. Empfehle mich gehorsamst…«
6. Kapitel
Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als Christel mit einem zornigen Blick sich vor ihre Schwester stellte.
»Aber Hanna, wie kannst du bloß den alten Mann so kranken, der ein Menschenalter in unseren Diensten gestanden hat?«
»Du meinst Herrn Brinkmann«, erwiderte Hanna kühl. »Weißt du denn nicht, dass er gekündigt hat und wie eine Ratte das Schiff verlassen will, das ihm nicht mehr sicher genug erscheint?«
»Gekündigt, Brinkmann hat gekündigt?«
Kopfschüttelnd drehte Christel sich um und ging zum nächsten Stuhl, um sich zu setzen.
»Hältst du das für ein so großes Unglück, Schwesterchen? Ich finde, dass der Mann stumpf geworden ist, genauso wie unser Vater, der nur noch Interesse für seine theoretischen Untersuchungen hat. Ich betrachte es als ein Glück, wenn wir eine jüngere, tüchtige Kraft bekommen!«
»Mehr als Brinkmann kann keiner leisten. Auch der Herr Nadrenko nicht, der sich uns heute geradezu aufgedrängt hat. Glaubst du wirklich alles, was er uns erzählt hat?«
»Aber Christel, ich begreife nicht, weshalb du so misstrauisch gegen den Menschen bist. Selbst wenn etwas Dichtung ihm zwischen die Wahrheit gelaufen ist, bleibt er doch ein sehr interessanter Mann, und wir können ihm nur dankbar sein, dass er sich ins dieser Weise des Gutes annimmt.«
Christel schwieg und zuckte die Achseln. Hanna fuhr hartnäckig fort:
»Ich finde, dass man ihn nicht wie bisher behandeln kann. Brinkmann isst an unserem Tisch. Jetzt, wo wir wissen, dass Nadrenko in Wirklichkeit ein Graf und ein gebildeter Mensch ist, wäre es unpassend, ihm das Essen in seine Wohnung zu schicken!«
»Er scheint es doch nicht anders gewünscht zu haben«, erwiderte Christel ruhig, »sonst würde ihn der Vater doch schon mal zu Tisch geladen haben. Außerdem finde ich es unpassend, dass wir ihn jetzt zu Tisch bitten, wo wir Mädchen allein sind.«
»Ach Christel, sei doch nicht so spießbürgerlich. Brinkmann liegt krank. Herr Nadrenko kommt, mir Bericht über die Wirtschaft zu erstatten, da ist es doch nur natürlich, dass ich ihn zu Abendbrot bitte.«
Christel zuckte die Achseln und stand auf.
»Du bist die Ä1teste, du hast es vor den Eltern zu verantworten. Aber ich sage dir, dass ich dagegen bin.«
»Die Verantwortung will ich auf mich nehmen«, erwiderte Hanna lachend.
Wirklich stellte sich Herr Nadrenko nach dem Feierabendläuten im Gutshause ein. Am Nachmittage hatte er ein Sportkostüm, wie es bei den Inspektoren auf dem Lande üblich ist, getragen. Jetzt hatte er sich wie zu einer Gesellschaft mit langem, schwarzem Rock angezogen, als erwarte er, den Abend im Gutshause zu verleben. Hanna erwartete ihn im Arbeitszimmer ihres Vaters. Nadrenko begrüßte sie wie ein Kavalier, trat nach der zweiten Verbeugung auf sie zu und führte ihre Hand an die Lippen.
»Gnädigstes Fräulein gestatten, dass ich gehorsamst Meldung abstatte. In Andreaswalde ist nichts Neues. Nur eine Kleinigkeit möchte ich erwähnen. Die Meierei hat heute Abend statt der abgerahmten Milch meinen Leuten Vollmilch gegeben. Ich habe durch Befragen meiner Leute festgestellt, dass das bisher schon immer geschehen ist, und habe mir gestattet, die Meierin ganz energisch zur Rede zu stellen. Es sind doch immerhin mehr als zweihundert Liter Vollmilch, die der Butterbereitung dadurch entzogen werden.«
»Fällt das wirklich so sehr ins Gewicht, Herr Graf?«
»Na erlaube mal, Schwester«, rief Christel, die eben eingetreten war, »dann wird auch die Morgenmilch denselben Weg gehen. Jetzt weiß ich, weshalb Andreaswalde so wenig Butter liefert. Aber, dass Brinkmann das nicht gesehen hat.«
Herr Nadrenko zuckte die Achseln.
»Ich habe noch nicht gemerkt, dass der Herr Inspektor sich um das Melken gekümmert hat.«
»Das wäre wunderbar, ich muss mir doch darüber sofort Gewissheit verschaffen«, rief Christel und eilte hinaus.
»Meine Schwester ist sehr wirtschaftlich veranlagt«, meinte Hanna lächelnd. »Ich habe weniger dafür Sinn.«
»Gnädiges Fräulein lieben sehr die Musik, und ich will es offen gestehen, dass ich schon manchmal, wenn gnädiges Fräulein bei offenen Fenstern spielte, an der Hausecke gestanden habe, um zu lauschen.«
»Lieben Sie auch Musik?«
»Ach, gnädiges Fräulein, das ist die Kunst, die mir das Leben erträglich macht. Ich spiele Geige, ich singe Lieder, bei denen ich mich auf der Laute begleite. Hat Ihnen Ihr kleines Schwesterchen, dieser entzückende kleine Kobold, der Ihnen so außerordentlich gleicht, nichts davon erzählt? Sie hat schon manchmal an meinem offenen Fenster gestanden und gelauscht.«
»Leider nicht, Herr Graf.«
»Bitte, nicht: Herr Graf. Sie könnten sich in Gegenwart Ihrer jüngeren Schwestern versprechen, und das wäre mir sehr unangenehm.«
»Nun denn, Herr Nadrenko, Sie bleiben doch heute Abend zu Tisch bei uns. Wollen Sie uns nicht ein wenig durch Ihre Kunst erfreuen?«
»Gnädiges Fräulein brauchen nur zu befehlen. Aber von Kunst kann keine Rede sein. Ich singe nichts weiter als die neckischen oder schwermütigen Lieder, die ich von den Donschen Kosaken gehört habe, noch dazu mit russischem Text, den Sie nicht verstehen.«
Nach dem Essen war Nadrenko in seine Wohnung gegangen, um seine Gitarre zu holen. Er war in der Beziehung komisch. Er ließ nie einen anderen Menschen in seine Wohnung hinein als einen Jungen Schnitter, der sein persönlicher Diener zu sein schien. Und am Tage, wenn er auf dem Felde sich befand, waren seine Fenster und die Türe stets fest verschlossen. So hatte er auch jetzt Gretels Anerbieten, ihm die Laute zu holen, abgelehnt und war selbst gegangen.
Christel, die den Abend über sehr schweigsam und zurückhaltend war, hatte trotz allen inneren Widerstrebens das Gefühl, dass dieser Russe ein vollendeter, gewandter Kavalier war, der sich in Damengesellschaft mit ruhiger Sicherheit zu benehmen wusste. Er sang, ohne sich nötigen zu lassen, einige wunderbar eigenartige Lieder, deren schwermütige Melodie sich jedem Menschen ins Herz stehlen musste. Dann legte er die Laute weg und begann zu erzählen, wie er mit den Kosaken nachts am Lagerfeuer gelegen, wie sie ihm von ihren ewigen Kämpfen und Streifzügen berichtet und ihn mit gegorener Stutenmilch bewirtet hätten.
Dann stand er auf, nahm die Laute zur Hand und sang wieder eins der Lieder, die er nachts von ihnen gehört hatte.
Als er spät abends sich verabschiedete, hatte selbst die sehr kritisch veranlagte Grete mit ihm Frieden geschlossen. Mit noch größerem Unbehagen sah Christel, dass Hanna sich lebhaft für den Russen interessierte. Er hatte sich um die anderen Schwestern nur so viel gekümmert, als es die unumgängliche Pflicht, nicht unhöflich zu erscheinen, erforderte. Fast jedes seiner Worte war an Hanna gerichtet, und jedes Lied, das sich nachher in der Übersetzung als ein Liebeslied erwies, schien er nur für Hanna zu singen. Und sie schien dafür nicht unempfänglich zu sein. Ihre Augen strahlten. Ihre ganze Schönheit sprühte dem Russen entgegen. Und sie hatte die Fähigkeit, originell und treffend zu antworten.
Es war selbstverständlich, dass Herr Nadrenko am nächsten Mittag wieder zu Tisch erschien. Ebenso auch am Abend. Da war es seine erste Bitte, Hanna möchte ihn durch ihr Klavierspiel erfreuen. Noch nie hatte sie ihre Kunst vor einem fremden Menschen zum Besten gegeben. Ja, selbst ihre nächsten Angehörigen durften nicht im Zimmer weilen, wenn sie spielte. Jetzt setzte sie sich mit geröteten Wangen ans Klavier und spielte.
Selbst den beiden jüngeren Schwestern fiel es auf. Sie tauschten Blicke miteinander, die von Christel bemerkt und verstanden wurden. Aber wenn dann Herr Nadrenko zur Laute griff oder zu erzählen anfing, ganz ungezwungen, als müsste es so sein, bald eine launige Episode aus dem Kriege, bald schaurig-schöne Episoden, dann standen auch sie wieder unter seinem Bann.
Nur Christel nicht. In ihrem klaren, Unbestechlichen Wesen hatte sie halb unbewusst das Gefühl, als wenn der Russe vor ihnen schauspielerte. Sie fühlte, dass er Hanna, wenn auch auf sehr feine Weise, den Hof zu machen begann. Die ‘Plattform’ dafür hatte er sich durch seine Enthüllung, dass er in Wirklichkeit ein russischer Graf sei, in sehr geschickter Weise geschaffen.
Wer weiß, ob Hanna sich trotz seiner blendenden und interessanten Erscheinung um ihn weiter gekümmert hätte, als es die Verhältnisse und der Anlass erforderten, wenn er sich nicht mit diesem Relief hätte umgeben können.
Als diese Gedanken sie immer schwerer bedrängten, entschloss sich Christel, da Rat und Hilfe zu suchen, wo sie sie immer gefunden hatte: In Dalkowen bei Tante Mathilde. An einem der nächsten Tage machte sie sich gleich nach dem Essen auf den Weg. Er führte durch den Andreaswalder Park ein kleines Stückchen über Feld in den Dalkower Park.
Die Sonne stand lachend am blauen Himmel. Auf den Feldern sangen die Lerchen, als wollten sie alles andere Geräusch auf der Erde übertönen. Aber die kleinen Sänger, die zwischen den grünenden Zweigen der Bäume herumsprangen, ließen sich nicht überschreien.
Rings um sie und mit ihr ging ein Singen und Jubilieren. Sie nahm den breitkrempigen Hut ab, den sie zum Schutz gegen die Sonne aufgesetzt hatte, und hing ihn an den Bändern über ihren Arm. Ihr Herz weitete sich, und ein leises Rot färbte ihre Wangen … Eben hatte sie daran gedacht, dass sie vielleicht Wolf wiedersehen würde.
Da standen am Abhang blaue Veilchen, weiße und gelbe Anemonen, ab und zu zwischen ihnen auch noch ein verspätetes Leberblümchen, das wie ein bescheidenes blaues Auge dankbar zum lachenden Frühlingshimmel empor sah. Sie bückte sich und pflückte einen Strauß … einen großen Strauß, den sie nicht in ihren Händen bergen konnte, so dass sie ihn in den Hut legen musste.
Tante Mathilde saß im Rollstuhl an der offenen Tür des Gartenzimmers. Schon von weitem winkte sie ihr einen Gruß zu, und als Christel näher kam, legte sie den Finger auf den Mund, als wollte sie jedes laute Wort abwehren. Während Christel ihr die Blumen in den Schoß legte, ihr die Wangen und die Hand küsste, flüsterte die alte Dame ihr zu:
»Ganz still, mein Liebling, ganz still … Er schläft im Nebenzimmer auf dem Sofa. Ich habe ihm den Wecker wegstehlen lassen, damit er sich mal ein paar Stunden ausschläft.«
Christel hatte sich neben der alten Dame auf die Knie niedergelassen. Ganz leise berichtete sie der mütterlichen Freundin alles, was ihr Herz bewegte.
Die Eltern hatten geschrieben, dass Tante Borkchen ihnen eine sehr große Erbschaft hinterlassen hätte. Aber nun seien sie Mädchen schutzlos zu Hause allein, der Brinkmann liege krank. Der Russe führe die Wirtschaft und erscheine jeden Mittag und Abend zum Essen. Zuerst sei er gekommen, Bericht abzustatten, und man könne ihn doch vor dem Essen nicht fortschicken.
»Das heißt Hanna hat ihn an den Tisch gezogen, nicht wahr, mein Kind?« unterbrach sie Frau Stutterheim lächelnd.
»Ja, Tantchen«, erwiderte Christel mit ehrlich betrübter Miene. »Ich war ja nicht dafür … Ich habe eine unbestimmte Abneigung gegen den Menschen. Ich habe das Gefühl, als wenn er uns ein Märchen aufbinden will mit seinen Erzählungen … Denk’ dir, Tantchen, er soll ein Graf sein, der aus politischen Gründen verfolgt wird und aus seinem Vaterlande fliehen musste.«
»Als Graf erscheint er wohl der Hanna sehr interessant?« fragte die alte Dame mit einem feinen Lächeln.
»Er ist wirklich sehr interessant, Tantchen … Ich wünschte, die Eltern wären erst wieder zu Hause … Die Mutter hat in solchen Dingen ein sehr feines und richtiges Urteil, das Hanna nicht hat.«
»Und, du deutest damit etwas an, was ich nicht für möglich halte.«
»Ach Gott, Tantchen, ich habe ja auch nichts weiter sagen wollen, als das; Hanna den Russen ganz interessant findet. Gestern Abend hat er seine Geige mitgebracht und mit Hanna zusammen musiziert. Er spielt wirklich himmlisch schön. Ich bin ja gar nicht musikalisch, aber wenn ich fühle, dass mir das Herz dabei warm wird, dann muss es wirklich sehr schöne Musik sein.«
»Wie benimmt er sich denn sonst?«
»Er erzählt wunderbar. Die Stunden verfliegen uns so wie Minuten.«
»Christel, du schwärmst ja von dein Russen.«
»Ich, Tantchen? Uns beide lässt er ganz links liegen. Grete zählt ja noch nicht mit! Er scheint nur für Hanna zu sprechen und zu musizieren.«
Lange noch sprachen sie hin und her. Christel berichtete getreulich, was sich unter ihren Augen in der Wirtschaft abgespielt hatte. Es war nichts Erfreuliches. Die unverheirateten Knechte hatten der Mamsell ihr Mittagessen vor die Füße gegossen. Da habe Nadrenko eingreifen wollen. Sie sei gerade zur richtigen Zeit gekommen, um ihn vor einer Tracht Prügel zu retten, dann habe sie sich an den Herd gestellt und den Knechten ein. Stück Fleisch zu Mittag gebraten…
Kurz vor Kaffeezeit erschien Wolf auf der Bildfläche Er war sehr verdrießlich und fragte seine Mutter vorwurfsvoll, wo der Wecker vom Tisch geblieben wäre.
»Ich habe ihn dir ’rausstehlen lassen, mein Sohn«, erwiderte die Mutter mit freundlichem Lächeln, »du solltest mal ein paar Stunden ausschlafen.«
Gerührt küsste er ihr die Hand.
»Ich wollte aber um zwei Uhr beim Drillen der Gerste sein. Wer weiß, ob die Leute mit der neuen Maschine zurechtgekommen sind?«
»Nimm es ruhig an, mein Sohn, sonst hätte dich schon lange ein reitender Bote geholt.«
»Ja, Wolf«, fiel Christel ein, »du siehst gottserbärmlich schlecht aus. Und dabei komme ich noch mit einem großen Anliegen: Möchtest du nicht einmal einen Blick nach Andreaswalde werfen, wie der Herr Nadrenko wirtschaftet? Brinkmann liegt krank, und der Russe nimmt von ihm keine Befehle an.«
»Nein, Christel, das möchte ich nicht. Der Onkel hätte mir nur ein Wort sagen brauchen, ehe er abreiste, dann hätte ich während seiner Abwesenheit Andreaswalde unter meine Obhut genommen, obwohl ich gerade auch bei mir genug zu tun habe.«
Christel hatte den Kopf gesenkt, ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Ganz leise fragte sie:
»Weshalb kommst du nicht mehr zu uns nach Andreaswalde? Du weißt doch, dass wir Kinder allein sind, auf fremde Menschen angewiesen.«
Wolf stand auf und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Mädel, du bist doch sonst so klug. Es muss doch etwas vorliegen, was mir die Besuche in Andreaswalde unmöglich macht. Ihr anderen könnt es mir wirklich nicht übelnehmen, ihr müsst nichts Unmögliches verlangen.«
Er nahm seine Mütze und ging ohne Abschiedsgruß hinaus.
»Ja, mein liebes Christel, du siehst jetzt selbst, wie tief ihm die Sache geht. Ich habe wirklich nicht geglaubt, dass es ihm so nahe gehen würde, aber ich kann nicht anders: Ich freue mich doch, dass die Entscheidung so gekommen ist. Mein Junge verdient eine Frau, die ihm den Schweiß von der Stirne trocknet, wenn er müde und hungrig nach Hause kommt. Und ein Mann, der sich so ehrlich sein Essen verdient, muss auch gepflegt werden. Da darf die Frau nicht am Klavier sitzen und die Mamsell kochen lassen.«
Mit einem schelmischen Lächeln erwiderte Christel:
»Ich weiß alle seine Leibgerichte.«
»So? Soll ich mal mit dir ein Examen abhalten?«
»Jawohl, Tantchen, ich bin bereit. Obenan steht bei Wolf Beetenbartsch mit fettem Hammelfleisch, dann Pilzenbartsch, dann gebratener Barsch mit roten Rüben als Beisatz dann Barsch oder Hecht in saurer Dillsauce, dann Schwarzsauer, dann Weißsauer von Gans- oder Entenklein, aber nicht kalt, sondern warm mit flüssiger Sauce.«