Kitabı oku: «Magdalenas Mosaik», sayfa 7
Umwege zum Ausprobieren - London
Wie einfach war es jetzt, 1953, für begabte junge Menschen das Abitur zu machen. Wie einfach, das zu tun und zu erreichen, was sie erstrebten. Das bekam sie gerade an Kakis Söhnen mit. Bei Georg war das anders gewesen, der erlebte seine Schulzeit immer als Schrecken, als Druck und Tortur. Schule war für ihn fast immer mit Angst verbunden gewesen. Angst vor dem eigenen Vater mit dessen hochgesteckten, unwiderruflichen Anforderungen: als Schulleiter musste der eigene Sohn immer Vorzeigefunktion erfüllen, ob er wollte und konnte oder nicht. Das ließ nie eine Lust am Lernen zu. Als Georg sich dann gerade in Königsberg am Gymnasium zurechtgefunden hatte, kam der Umzug, gefolgt von erneuter Angst, diesmal vor den hanseatischen Schnöseln, die vollkommen anders gestrickt waren und fest in ihren angestammten Familien und Positionen saßen. Richtige Schulfreunde hatte Georg hier in Hamburg nicht gefunden. Kein Wunder, dass er die Schul-Strapazen vor dem Abitur abbrach und einfach weg wollte. Möglichst weit weg. Das konnte nicht so schwierig sein, denn schließlich gab es, dank des geliebten Onkels Viva genug Kontakte nach Venezuela, erstens kaufmännischer, zweitens familiärer Art durch den dortigen Cousin, die Nichten und Neffen. Lene konnte ihm das Vorhaben nicht übelnehmen.
Kakis Jungens zogen ihr Abitur einige Jahre später mühelos und zielstrebig durch, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, - abgesehen von zeitweiligen Unterrichtsausfällen während des zweiten Weltkriegs. Sie selbst, Lene, hatte damals wesentlich länger gebraucht, war nicht ohne verschiedene Umwege ausgekommen. Allerdings, - sie musste lächeln -, diese Umwege hatten ihr nicht geschadet, sondern ihr die Gelegenheit gegeben, sich auszuprobieren. Sie hatte sich nicht gleich festgelegt, sich gewehrt in ein Raster schieben zu lassen. Jung war sie, wie alle einmal jung sind im Leben, aber vielleicht eine Spur neugieriger als die Altersgenossinnen? Und sorgloser? O ja, und sie hatte ihre Jugend genossen, auch wenn sie sich immer gehörig angestrengt und am Riemen gerissen und die eigenen Ziele hoch gesteckt hatte.
Nein, sie bereute nichts. Die beste Zeit ihrer Jugend? „Cheer up, William, you will soon be dead.“
England, das war eine Gelegenheit. Die ließ sie sich nicht entgehen. Die Gelegenheit zu leben. Dass diese Chance nebenher ein notwendiger Teil des Studiums war, nämlich das Gouvernanten-Halbjahr, kam ihr nur gelegen. Sie sagte sofort zu. Ohne zu zögern. Nicht länger ausprobieren, wie oder was sie sein könnte, sondern leben, das würde sie jetzt. Wozu war sie fast 23 Jahre jung? Wozu hatte sie Kräfte? Wozu war sie neugierig auf die Welt gekommen?
Also los. Mit der ihr eigenen energischen Wucht und Wonne stürzte sie sich in das London-Abenteuer.
Im April 1912, - nachdem sie an der Jenaer Universität das Sommer- und Wintersemester 1911/1912 studiert hatte -, machte sie sich auf, und als sie im Pfarrhaus in Lightwood (so wurde der Ort dann für die Danziger Zeitung umbenannt) ankam, war sie, - schwupps -, eine neugebackene Gouvernante. Warum nicht? Gouvernante, das klang besser als simple Erzieherin, klang wie eine vornehme, weitere Stufe zum Lehrerinnen-Dasein.
Natürlich schrieb sie Tagebuch. Und sie berichtete den Eltern zu Hause, wie es ihr erging und was sie erlebte.
Papa hatte die Idee, vieles von Lenes Geschreibsel der Briefe, also ihre unsortierten Spontan-Eindrücke in dem Blatt „Heimat und Welt“, einer Beilage der Danziger Zeitung, abdrucken zu lassen. Es wurden nur die Namen der Familie, bei der sie wohnte, und die Ortsnamen geändert. So erschienen in regelmäßigen Abständen die Berichte „Eine ostpreußische Studentin als Erzieherin in einem englischen Pfarrhause. – Zwanglose Briefe von Magdalena Wüst“
Typisch Papa. Er hatte sie natürlich gefragt, ob sie zustimmte, und das hatte sie.
Sie musste das alles, - Jahre später -, nochmals lesen. So energisch, schwungvoll, impulsiv und lebenslustig hatte sie sich nie zuvor oder später in einen neuen Lebensabschnitt gestürzt. Sie beobachtete, sie erlebte, sie probierte sich in England an der Welt aus. Konnte deshalb dort fast jede kleinste Begebenheit zu einem Abenteuer werden? In der Tat inhalierte sie jedes Erlebnis in vollen Zügen, ließ sich begeistern, mitreißen, - selten aber ohne ihren kritischen Verstand und Humor außen vor zu lassen.
Wie außergewöhnlich war es damals, ins Ausland zu reisen, erst recht für eine alleinstehende junge Frau. Telefonieren? Fotos schicken? Kein Gedanke an so etwas. Einzig geschriebene Worte, also Briefe, zählten. Wenn Lene, - Jahrzehnte später -, an England zurückdachte, wurde ihr einiges deutlich, was mit Zeitgeschichte, technischen Entwicklungen und daran anknüpfenden Gewohnheiten zusammenhing: Wie wenig damals Fotos oder kurzes Filmmaterial eine Rolle spielten, einfach weil es kaum Möglichkeiten dazu gab. Was für immense Bedeutung dagegen hatten geschriebene Worte, Schilderungen von Landschaften, Stimmungen, Erlebnissen. Dazu war allerdings genaues Beobachten notwendig, ohne das ging es nicht. Inzwischen war ein Wechsel im Gange, überlegte Lene. Worte verschwanden mehr und mehr zu Gunsten von Bildmaterial. So änderte sich die Zeit und mit ihr die Gewohnheiten. Lene lächelte. Sie selbst hatte ja so einiges miterlebt, aber die Zukunft, ja, leider würde sie deren Entwicklungen nur noch, so hoffte sie zumindest, einige Jahrzehnte miterleben, wer weiß.
Die England-Erlebnisse begannen mit der Seefahrt vom Hamburger Hafen aus:
An Bord der Vesta, den 21.4.1912, mittags 3 Uhr
So bin ich nun wirklich unterwegs, um auch diesen für mein Studium nötigen Teil, das Gouvernanten-Halbjahr in England, anzutreten. Vorläufig ergeht es mir tadellos, ich glaube wirklich, ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht so himmlisch wohlgefühlt, wie jetzt eben. Ich liege seit morgens früh in meinem Liegestuhl auf Deck und lasse mich von der Sonne braten, sehe nichts als das grüne Meer mit den weißen Schaumkämmen und den blauen Himmel darüber, höre nichts als das Rauschen der Wellen und das leise, einförmige Arbeiten der Maschine. Ich habe wieder einmal mein altes Glück. Der Kapitän sagt, er habe seit Jahren keine so ideale Überfahrt gehabt, und meinetwegen könnte sie noch Wochen dauern! Es war schon 9 Uhr abends, als gestern der Dampfer die Anker lichtete. Es war ein großartiger Anblick, als die Millionen Lichter im Hafen und an den Kais aufblitzten, und dann allmählich schwach und schwächer wurden. Ich blieb auf Deck, solange die Temperatur es erlaubte, sah den Mond und die Sterne heraufkommen und ein Licht nach dem anderen verschwinden, bis die Ufer der Elbe sich immer weiter entfernten und ich müde wurde.
Die Vesta ist ein ganz kleines Ding, nur für etwa 20 bis 25 Passagiere eingerichtet. Wir sind deren acht, ich das einzige weibliche Wesen. Infolgedessen werde ich wie eine Königin behandelt! Alles springt, wenn ich komme. Der Kapitän ist ein entzückender alter Seebär.
Er zeigte mir heute Vormittag auf meinen Wunsch das ganze Schiff, vom Maschinenraum bis zur Logleine, von der Kommandobrücke bis zur Küche. Vom Koch bis zum jüngsten Matrosen sind alle furchtbar nett mit mir. Geschlafen habe ich prachtvoll. Die Kabine ist klein, aber sehr sauber, das Bett so wunderschön, dass ich heute früh gar nicht heraus wollte! Ich liege so, dass ich durch die Luke gerade den Horizont sehen kann, wo Himmel und Meer sich berühren. Ich wachte heute auf, als eben diese Linie rot aufglühte, und gleich darauf tauchte die Sonne als roter Feuerball aus den Fluten empor. Ich freue mich schon, sie abends untergehen zu sehen. Dann schlief ich noch einmal ein und erhob mich gegen sieben Uhr. Von da ab liege ich, wie gesagt, auf Deck und träume und freue mich des herrlichen Bildes.
Der kleine Dampfer ist auf das einfachste ausgestattet, von Komfort und Eleganz keine Spur, und bei schlechtem Wetter mag es nicht sehr angenehm sein, auf ihm zu fahren, aber die Überfahrt auf einem der vornehmen Schiffe des Hapag ist doch erheblich teurer und kostet, -während ich auf der Vesta nur 40 Mark einschließlich der Verpflegung zu zahlen habe -, mehr als das Doppelte dieser Summe. Das Essen ist sehr schmackhaft zubereitet und gut, auf eine Auswahl unter mehreren Gerichten muss man freilich verzichten. Es muss eben gegessen werden, was der Steward aufträgt: morgens Kaffee nebst Gebäck, um 9 Uhr warmes Frühstück, um 1 Uhr Mittag (Suppe, Braten mit Gemüse und Kompott, Pudding, Apfelsinen), um 4 Uhr Kaffee, abends – habe ich noch nicht gegessen, da ich gestern für alle Fälle, im Hinblick auf die Gefahr der Seekrankheit, nüchtern zu Bett gehen wollte. Aber heute soll mir’s auch abends gut schmecken, denn der Gedanke, ich könnte seekrank werden, kommt mir nicht im Entferntesten in den Sinn. –
Soweit bin ich nun! Hin und wieder fliegt eine Möwe vorbei, und am Horizont zeigen sich öfters Schiffe. Von Zeit zu Zeit kommt der Kapitän und gibt mir sein Fernglas und fügt Erklärungen hinzu: „Das ist ein Fischdampfer“, „das der Norderneyer, das der Borkumer Feuerdampfer, das ein Ozeandampfer des Norddeutschen Lloyd“, er tut, als wäre er mein Großvater!
Abends, 10 Uhr
Die Blinkfeuer von Terschelling und Texel an der holländischen Küste sind versunken, nun gehen wir ins offene Meer. Ich sitze in der Kajüte. Bis jetzt war ich an Deck, rauchte Zigaretten, die der Kapitän mir geschenkt hatte und ließ mich vom Steuermann unterhalten, obschon ich, da er holsteinisches Plattdeutsch spricht, so gut wie kein Wort verstand. Dagegen habe ich vorhin dem Zimmermann beinahe in den Armen gelegen, da ich plötzlich sein unverkennbar Königsberger Platt hörte und wir uns als biedere Ostpreußen zusammenfanden.
An Bord der Vesta, den 22. April, morgens
Land! Ganz hinten im Nebel taucht Englands Küste auf. Der Kapitän hat mir auch schon an der Färbung des Meeres gezeigt, dass wir bald in die Themse kommen. Ich bin in den zwei Tagen schon der reine Seemann geworden!
Nachmittags 4 Uhr
Und jetzt sind wir wirklich in England! Ich liege im Faulenzer und lasse rechts Essex und links Kent vorüberziehen. Alles strahlt in hellem Sonnenschein: Wiesen, Hügel, Bäume. Es ist ein entzückendes Bild! Der englische Lotse ist schon seit einer ganzen Weile an Bord, und ich habe mich auch mit ihm ganz flott unterhalten können.
Da aber taucht London auf, das Ziel der Reise.
Dann kam sie also ins Pfarrhaus in Lightwood und lernte seine Bewohner kennen:
Lightwood, den 23. April
Zum Schluss der Fahrt hatten wir noch einen sehr üblen Unfall: wir mussten, da wir nicht mehr die Flut erreichten, bis 12 Uhr nachts vor Gravesende liegen und kamen also erst nachts 2 Uhr in London an. Fräulein Jane, die gute Seele, die an der Landungsstelle erschienen war, um mich zu empfangen, hatte das vom Dockmeister erfahren und holte mich heute morgen 7 ½ Uhr ab, brachte mich sicher bis Marelybone-Station, und von dort kam ich in etwa 30 Minuten glücklich bis hierher, an den Ort meiner neuen Tätigkeit, wo ich von der Familie Rockesmith, namentlich von meinen künftigen Schülerinnen Liz und Bella, freundlich begrüßt wurde. …
Es würde wohl eine Weile dauern, meinte Lene, bis sie sich gewöhnt hätte, da alles so anders sei als zu Hause. Aber die Gegend sei „paradiesisch schön“, lobte sie und beschrieb, wie alles der sanft hügeligen Landschaft rundum grün belaubt und in Blüten stand auf Wiesen, in Feld und Wald und in Gärten. Das kleine Dorf habe nur 1900 Einwohner, das Pfarrhaus liege dicht an der Kirche, herrlich sei der Pfarrgarten und sehr verlockend der Tennisplatz dahinter.
… Aber das Innere des Hauses selbst – Ihr könnt euch keine Vorstellung machen! Während bei uns in den Zimmern eine gemütliche Ordnung herrscht, Tische, Sessel und Stühle freundlich gruppiert den Mittelpunkt bilden und auf die Stellung des Klaviers und der Spiegel besondere Rücksicht genommen wird, sieht man hier in den vielen Räumen des großen Hauses überall ich möchte sagen eine geniale Unordnung. Wohin du kommst, überall stehen Schalen voll wunderbarer Blumen, überall helle Tapeten, weit geöffnete Fenster, fliegende Türen, überall Luft und Licht. Aber die Möbel und was auf den Tischen so umherliegt, alles durcheinander und beladen mit Gegenständen, die nach unserem Geschmack nicht in ein Wohnzimmer hineinpassen. Mein Zimmer ist hell und groß, nur kann man darin unmöglich etwas anderes tun wie schlafen! Bett, Waschtisch, Spiegelschrank, Spiegeltoilette, Spiegelkommode, Spiegel über dem Kamin, doch nur ein einziger Stuhl, eine Fensterbank, kein Tisch – das bildet seine Ausstattung. Ich schreibe diesen Brief in der Nursery, einem unglaublich lustigen Zimmer. Mich umgibt ein Chaos von Büchern, Blumen in Töpfen und Vasen, Nähmaschine, Spielsachen, Vogelbauer, Schaukelstuhl, Bilder, Wäscheschrank. Ich wollte meine Hutschachtel auf einen Schrank stellen, das war jedoch leichter gedacht als getan. Erst mussten alte Tennissachen , schmutzige Vorhänge, Bürsten, Papier usw. entfernt werden. Im ganzen Hause steht alles offen, Schränke, Schubladen, Schreibtische. Schlüssel gibt es nicht. Nun bin ich natürlich weit davon entfernt zu verallgemeinern. Es wird gewiss in sehr vielen englischen Häusern Ordnung gepaart mit höchster Sauberkeit herrschen, aber man findet, wie ich nun sehe, auch in dem Hause hochgebildeter Engländer, unter die ich die Familie meines Mr. John Rockesmith doch rechnen muss, geringeres Verständnis für das, was uns unsere Häuslichkeit erst behaglich macht.
Über die Menschen, die mich umgeben, kann ich selbstverständlich noch nicht urteilen. Sie scheinen mir alle mehr Originale als Typen zu sein. Er, der Reverend, gefällt mir zunächst am besten, ein langer, dünner, echter Engländer, Hände in den Hosentaschen, trotz seiner grauen Haare dem Tennisspiel mit Passion huldigend. Von meinen beiden Zöglingen macht Liz einen klugen, netten Eindruck, ganz süß ist das kleine Geschöpf, Bella, bildschön und graziös, und wie ein Quirl beweglich.
Lightwood, den 28.April
Der erste Sonntag! Ich will ihn benutzen, um Euch, so gut ich kann, mein Leben hier zu schildern. Ich stehe um 6 ½ Uhr etwa auf, früher als alle anderen Hausgenossen, und gehe bei schönem Wetter in den Garten, bei schlechtem in die Nursery, d.h. Kinder- und Schulstube, wo ich meine Bücher habe. Ich möchte hier einschalten, dass ich für die kleine Kiste, in der die Bücher verpackt waren, sage und schreibe 34 Mark an Frachtkosten bezahlt habe. Und in welcher Verfassung kam dabei die Kiste an! Die Vorlegeriegel waren fortgerissen, der Deckel mit gewaltigen Nägeln aufgenagelt, die Bücher durchwühlt, der Inhalt zum Teil zerbrochen! Na, das nebenbei! Um 8 Uhr kommt Bella, die jüngere Schülerin, zur Klavierstunde. Sie ist noch bei „Mädchen, warum weinest du?“ und hat täglich nur ¼ Stunde. Um 8 ¼ ist Frühstück. Die Familie beginnt es mit Porridge, einem furchtbaren Brei aus Haferoats, Milch und Zucker, den zu genießen ich mich nicht überwinden kann. Aber es reihen sich ja auch manche anderen guten Sachen daran, Eier, Schinken, Wurst (gebraten), irgendetwas von Fischen, dazu immer Toast, Butter, Weißbrot, Marmeladen, Tee oder Kaffee. Nach dem breakfast füttern wir Hühner, Hunde, Katzen, Vögel, und alsdann liest der Reverend die Morgenandacht, wirklich sehr nett, in durchaus würdiger Weise. Wir sitzen alle im Wohnzimmer auf Sesseln und Sofas umher in der bekannten Unordnung. Der Hund bellt, die Hühner kommen aus dem Garten durch die offene Tür herein. Es wird eine kurze Bibelstelle gelesen, – plötzlich wälzen sich alle von ihren Sitzen auf die Knie und vergraben das Gesicht in den Händen, um zu beten. Aber es ist tatsächlich so, man steht nicht etwa auf und kniet nieder, nein, die Andächtigen rollen sich sozusagen vom Stuhl auf die Erde. Ich bin so schnell von Begriff und machte die eigenartige Gebetsübung sofort mit und jetzt habe ich es darin schon herrlich weit gebracht. Und um das gleich hier zu sagen: von der englischen Frömmigkeit ist Gott sei Dank im Hause nichts zu merken. Alle Hausgenossen sind vergnügt, spielen alle andauernd auf einem schlimmen Klavier die dröhnendsten Gassenhauer, singen und tanzen. Vor Tisch wird nicht gebetet und ebenso wenig nachher. Nach dem Prayer beginnt in der Nursery der eigentliche Unterricht, der bis 1 Uhr dauert. Da meine beiden Schülerinnen so ganz verschiedenen Alters sind, – Bella ist 8 und Liz 16 Jahre alt -, gestaltet sich für mich der Unterricht recht schwierig, so dass ich zur Zeit ziemlich verzweifelt bin. Nachmittags tun beide Mädchen nichts mehr für die Wissenschaft, wie sie denn überhaupt unfähig sind, allein zu arbeiten. Häusliche Schularbeiten kennen sie nicht. Um 1 Uhr ist Lunch: Fleisch (kalt oder warm) und Pudding. Dann gehen wir drei spazieren, und das ist nun wirklich wundervoll. Der Wald ist gerade jetzt bezaubernd. Der Boden ist blau von einer Art wilder Hyazinthen, blue-bells, die herrlich duften, und wilde Obstbäume und mannigfache Sträucher stehen in voller Blüte. Und das alles auf diesem entzückenden Gelände von Hügeln und Tälern und weiten Wiesen. Um 4 Uhr haben wir drei Tee in der Nursery: Tee, Kuchen, Weißbrot (eine Art Strietzel, Schwarzbrot kennen die Engländer gar nicht), Butter, Marmeladen. Nach der Teestunde bin ich eigentlich frei, aber auch jetzt komme ich noch nicht dazu, etwas für mich zu arbeiten. Der Reverend bittet mich, ihm bei seinen Bienen zu helfen, seine Gattin will meine Hilfe zur Vorbereitung für ein Theaterstück, das am Geburtstage der Queen Victoria im Dorf aufgeführt werden soll, Liz will Tennis spielen usw. Auch zum Nähen wurde ich neulich – allerdings in liebenswürdiger Weise – aufgefordert, habe aber die gewünschten Arbeiten in den Handarbeitsstunden am Vormittag erledigt. Um 7 ¼ oder 7 ½ Uhr ist Dinner. Die Familie erscheint in denselben Kleidern, die sie den ganzen Tag über getragen haben und daher nicht gerade sehr sauber sind, ein ganz unfasslicher Kontrast zu der entzückenden Tafel: alles Silber, Blumen, feinstes Porzellan. Es gibt drei Gänge: Suppe oder Fisch, Braten und Pudding und als Nachtisch meistens Bananen. Und nun erst, nach dem Dinner, kann ich wirklich tun, was ich will, und kann mich meinen Büchern widmen. Zum Schluss noch ein kurzes Wort über den heutigen Gottesdienst. Er begann um 11 Uhr, die Kirche war von Andächtigen gefüllt. Den ersten Teil des Gottesdienstes – etwa eine Stunde lang – bildeten Gebete und Lieder, während welcher die Gemeinde fast andauernd kniet. Wunderschön ist das Singen. Die Melodien sind bewegt und fast lustig zu nennen. Die Gemeinde singt sehr gut die erste, acht bis 12 Chorknaben mit dem Pfarrer singen zweite Stimme. Alle Texte sind mit dynamischen Zeichen versehen, piano, crescendo, forte usw. Der Gesang klingt bei leiser Orgelbegleitung prachtvoll. Dann folgt eine ganz kurze Predigt, ziemlich naiv heute und ohne tiefere Gedanken. Gebet und nochmaliger Gesang schließen die kirchliche Feier. Von der Predigt verstand ich jedes Wort. Bei Tisch erklärte sich das freilich: Mr. Rockesmith habe meinetwegen so langsam gesprochen, langsamer und deutlicher als sonst. Der Abendgottesdienst, der hier um 6 ½ Uhr anfängt, verläuft im Allgemeinen wie der Gottesdienst am Vormittag, ist aber kürzer.
Nach einiger Zeit hatte sie Gelegenheit zum ersten Mal allein nach London zu fahren.
Lightwood, den 22. Mai 1912
Es wird hier im Garten von Tag zu Tag schöner. Das ganze Haus ist von gelben Rosen umrankt, sie sehen zu meinem Fenster herein. Täglich gehen wir in den Wald und freuen uns der herrlichen Luft und der Vögel und Blumen. Englische Kinder leben viel mehr mit Tieren und Pflanzen zusammen, ich glaube sehr zum Vorteil für den Charakter. Liz spricht mit jedem Huhn, jeder Biene und kennt jede Vogelstimme, Bella weint über jede Blüte, die ohne Wasser sterben muss und könnte nicht essen, ohne vorher ihren Vogel gefüttert zu haben.
Am Himmelfahrtstage, der merkwürdigerweise hier zu Lande kein rechter Feiertag ist, an dem nur ein kurzer Gottesdienst abgehalten wird und Läden und Schulen in vollem Betriebe sind, war ich zum ersten Male ohne Führung und ohne Begleitung in London, um im „King’s College“ meine akademischen Studien zu beginnen. Es war alles sehr spaßig. Ich fragte mich bis zum Office durch, bezahlte das Honorat für die Vorlesungen und erhielt eine Karte. Nach mehrfachen Irrgängen gelangte ich in meine Klasse, einen dunklen, unsauber gehaltenen Raum, halb unter der Erde, mit recht unbequemen Schulbänken ausgestattet. Etwa 40 Hörer, zum größeren Teil Damen, erschienen nach und nach, man sitzt in Hut und Jacke. Dann kam Professor G. und fing an King Lear zu lesen. Nach drei Minuten machte er halt, kam auf mich zu und erkundigte sich in liebenswürdigster Weise nach meinem Namen, meiner Heimat usw. und setzte dann seine Vorlesung fort. Übrigens wird man bei Beginn der Stunde aufgerufen, also richtiger Schulbetrieb! Auf dem Wege nach dem College, das in einem sehr feinen Stadtviertel Londons liegt, habe ich Schönes und Interessantes gesehen. Gleich anfangs hatte ich das Glück, King Georg und die Königin in prächtigem Galawagen an mir vorüberfahren zu sehen. Alles blieb stehen und nahm den Hut ab, aber kein Hurra, kein Hochrufen ertönte. Dann fuhr ich mit dem „bus“ (Auto-Omnibus) nach Hyde Park. Aber wahrlich, Ihr könnt Euch kein Bild machen von dem Betrieb in London! Was der Potsdamer Platz in Berlin im Verhältnis zu unserem Marktplatz im guten Osterode ist, das ist hier eine der belebteren Straßen gegenüber der Leipziger oder der Friedrichstraße in Berlin. Eine ununterbrochene Reihe von bus, Autos, Wagen, Radlern, Ausrufern usw. schiebt sich, aber buchstäblich genommen, die Straßen entlang. Alles rennt, hastet, ohne sich aufzuhalten. Der Verkehr ist aber tadellos geregelt durch Schutzleute, die überall sind, sehr zuvorkommend Auskunft erteilen und durch eine Armbewegung alles zum Stehen bringen. Der Hyde Park ist entzückend. Ich war gerade dort, als die feine Welt Londons zu Pferd, Wagen und Auto sich amüsierte. Und am schönsten ist dies: In dem ganzen Riesenpark kein Zaun, kein „Verboten“, kein Gitter. Quer über jeden Rasen darfst du gehen, überall liegen die langen Engländer im Gras und schlafen, Kinder spielen unter den prachtvollen alten Bäumen, niemand läuft uniformiert umher und passt auf. Und noch niemals sah ich einen besser gehaltenen Park! Die Erziehung der großen Menge ist in England sicherlich vorgeschrittener als bei uns. Vom Hyde Park, wo ich mir noch das Albert Memorial ansah, ging ich zu Fuß durch die prachtvolle Reihe von Palästen und öffentlichen Gebäuden des westlichen London und gelangte endlich, zum Schluss die „tube“ (Untergrundbahn) benutzend, glücklich in Lightwood wieder an.
Lightwood, den 26. Mai
Gestern in London war es wieder wundervoll. Ich war in der Westminster-Abtei. Schon von außen betrachtet wirkt die ganze Anlage großartig, besonders das dicht daneben liegende Parlamentsgebäude in seinen gewaltigen Größenverhältnissen. Etwas Ähnliches wie Westminster gibt es wohl kaum zum zweiten Mal: die ganze Geschichte Englands ist da von frühester Zeit an zusammenbedrängt. Könige, Staatsmänner, Dichter und andere Künstler, Freunde und die ärgsten Feinde ruhen in Frieden zusammen: Pitt und Fox, daneben Darwin, Händel, Maria Stuart und Elisabeth – alle findet man in den weitern Räumen. Die Gotik ist zum Teil durch Renovierungen etwas gestört, im Großen und Ganzen aber prachtvoll. Das Leben in London auf den Straßen kommt mir jedes Mal lauter und verwickelter vor. Es ist nun allerdings gerade jetzt – Mai, Juni, Juli – die Hochsaison hier, besonders was Theater, Konzerte und Gesellschaften anbetrifft. Ich bin denn auch, um möglichst viel kennen zu lernen, leichtsinnig gewesen und habe mir zum 4. Juni ein Theater-Billett bestellt. Denkt dann an mich. Ich werde im feinsten Londoner Theater den ersten englischen Schauspieler Sir Herbert Tree im Shakespearischen Julius Cäsar sehen!
Jenes erste Theater-Erlebnis, nein, das würde sie niemals vergessen:
Lightwood, 4.Juni, nachts 1 ½ Uhr
Liebster Vater, wundere Dich nicht über die sonderbare Zeit, in der ich diese Zeilen auf das Papier werfe. Es ist mir einfach unmöglich, ins Bett zu gehen, ohne einem Menschen erzählt zu haben, dass ich so begeistert gewesen bin, wie noch nie in meinem Leben. Und da bist Du ja wohl „der nächste dazu“, um mit Reuter zu reden, denn Du kennst die Römer und kannst Dir etwas darunter vorstellen, wenn ich Dir erzähle, ich habe mit Mark Anton an der Leiche Cäsars gestanden und mit den tausend Römern gejauchzt und geschrien und mit Brutus den Geist Cäsars im Zelt gesehen und schließlich vor der Leiche Brutus‘ das Schwert gesenkt und gesagt: „Das war ein Mann!“ Bitte tu mir die Liebe, Vater, und lies morgen wieder einmal Julius Cäsar! Du kannst Dir ja von der Wucht und der unmittelbaren Wirkung keine auch noch so geringe Vorstellung machen, aber versuche, Dir vorzustellen, dass Deine doch sonst reichlich phlegmatische Tochter Lene mit unzähligen Englishmen bei dem ersten Siegeseinzug Cäsars einfach mitgejubelt hat mit den Römern auf der Bühne, dass sie bei dem „Et tu, Brute“ sich mit beiden Händen hat festhalten müssen, um nicht einfach auf das Forum zu stürzen, und dass sie ganz richtig geweint hat, als Brutus die kurzen Worte sagt: „Portia ist tot!“ Und nun gar die Leichenrede des Mark Anton! Wie kann ein Mensch so spielen! Was für ein jämmerliches Zeug sind doch die Erzeugnisse unserer modernen Dramatiker gegen die Dramen Shakespeares! Das ist Leben, das sind Menschen aus Fleisch und Blut. Allerdings vereinigte sich nur heute auch alles zu einer geradezu glänzenden Vorstellung. Die Ausstattung märchenhaft: das römische Volk auf den Straßen, der Senat – wirklich, eine Versammlung von Königen! Cäsar mit dem Marmorgesicht und dem goldenen Lorbeerkranz im Haar, Brutus und all die Verschwörer einfach glänzend, Mark Anton, wie schon gesagt, unübertrefflich (Herbert Tree, der „Star“ Englands!), das Gewitter auf der Bühne so täuschend echt, dass mehrere Damen im Zuschauerraum bei Blitz und Donner aufkreischten, das Schlachtfeld von Philippi mit den kämpfenden Römern in blinkenden Panzern und klirrenden Schildern und Schwertern – man kann das eben nicht beschreiben, man muss es sehen und hören und miterleben. Und dann – wie gut war ich vorbereitet auf die Vorstellung im Theater! Ich hatte das mir ganz bekannte Stück natürlich vorher englisch gelesen, Schückings Kolleg darüber noch einmal durchgearbeitet, und hätte so fast soufflieren können! Der Jubel und Beifall wollte natürlich nicht enden! Ich schaudere noch zusammen, wenn ich die Verschwörer im Geist ihre Hände in Cäsars Blut tauchen sehe und dann über seiner Leiche die Schwerter zum Schwur zusammenschlagen höre, und wahrscheinlich wird mir im Traum Cäsars Geist erscheinen! Hättest Du es doch sehen können!
5. Juni, früh morgens
Also – auch bei Tageslicht betrachtet – sie war wirklich ganz wunderbar schön, diese Shakespeare-Aufführung. Sehr sonderbar berührte es mich zuerst, dass kaum ein Mensch im Theater ablegte. Vor mir saß ein Riesenhut, der erst auf meine Bitte hin verschwand, und ich glaube gern, dass die folgende niedliche Geschichte wahr ist: Ein Herr im Theater wendet sich an die im Parkett vor ihm sitzende Dame mit den Worten: „Ich habe 10 Shilling für meinen Platz bezahlt, kann aber nur Ihren Hut sehen, möchte Sie also höflichst bitten, denselben abzunehmen!“ Worauf die Lady entrüstet erwidert: „Und ich habe 10 Pfund für meinen Hut bezahlt, kann also verlangen, dass er gesehen wird!“
Vor dem Theater war ich mit Fräulein Jane in der St. Pauls-Kathedrale, dem Mittelpunkte Londons. Das der Peterskirche in Rom nachtgebildete Gebäude ist wundervoll, am schönsten die in ihrer großartigen Ruhe und Stille gewaltig wirkende Krypta mit den Gräbern von Nelson und Wellington. Als wir um 4 Uhr hereinkamen war gerade Gottesdienst. Die herrliche Orgel durchbrauste den gewaltigen Kuppelbau, dessen Fenster von der Sonne beleuchtet wurden und die hellen Knabenstimmen des Chors sangen eine Motette. Überall kniende Menschen, am Altar ein Geistlicher, der mit monotoner Stimme singend eine Bibelstelle las, rings umher Fremde, die sich in der Besichtigung der Kirche kaum stören ließen, ganz unwillkürlich sah ich mich nach dem Weihwasserbecken um, so außerordentlich erinnerte alles an eine katholische Kirche. Täglich findet in St. Paul Gottesdienst statt, zweimal sogar und sonntags viermal. Wir stiegen sogar die 300 und mehr Stufen zur Whisgeringalerie hinauf und dann noch höher, wo man von einem Rundgang um die Kuppel einen herrlichen Blick über die City hat, dies Stück London gerade, wo jedes Haus fast durch Dickens für alle Zeiten unsterblich gemacht ist. Wir beide, Fräulein Jane und ich, hatten es vorher durchwandert, dieses Gewirr von Gassen mitten im Geschäftsviertel, wir wollten zur Börse, in die man aber leider zur Geschäftszeit nicht hineinkam, wie doch z.B. in Berlin.
Heute hatten wir hier einen Kricket-Match, etwas, was man in Deutschland nicht kennt. Die Entwickelung und der Verlauf des Spiels haben mich brennend interessiert, ich war den ganzen Nachmittag draußen auf dem Platz…
Immer wieder etwas Neues also. Sie inhalierte alles und jedes und berichtete den Eltern davon. Vor allem die große Stadt London interessierte sie brennend.
…Am letzten Dienstag in London war so herrliches Wetter, dass ich alle Museen usw. verschmähte und ziellos durch die Straßen wanderte. Das macht mir immer von neuem großes Vergnügen. Das ganze Gepräge des Londoner Lebens ist so vollkommen anders als das Berliner z.B. Da sieht man, glaube ich, doch nicht in dem Maße den größten Luxus und die gräulichste Armut dicht nebeneinander. Wenn man darauf achtet, findet man zwischen den feinen Gestalten der Londoner Damen, die zwischen 5 und 7 „shopping“ gehen (d.h. Einkäufe machen) die elendesten Figuren, die sich scheu nach jeder Haarnadel bücken und Bindfäden, Knöpfe, Papier in ihren Taschen verschwinden lassen. Es gibt hier tatsächlich ein Stadtviertel, in das sich niemand hereinwagt, nicht einmal die Polizisten. Sehr interessant sind auch die Straßendemonstrationen. Da stellt sich irgendein Kerl wie der Kapuziner im „Wallenstein“ mitten in den Hyde Park oder der Trafalgar Square und schreit los. Tausende scharen sich um ihn und hören atemlos zu. Ich habe es im Hyde Park einmal gesehen, es soll aber gerade jetzt bei den ewigen Streiks fortwährend vorkommen. Wenn nicht Geldgeben auf der Straße national-ökonomisch ein Blödsinn wäre – hier käme man oft in die Versuchung, es zu tun. Als ich neulich einmal bei strömendem Regen ins College rannte, gestoßen und gedrängt von dem Menschengewühl, das gerade um 6 am „Strand“ unglaublich ist, stand unbeweglich ein alter Blinder an einer Ecke und spielte Geige. Keine Seele sah sich nach ihm um. Die Autos und Bus und Kutschen sausten vorbei, die Menschen liefen, der Regen goss und verwandelte das an und für sich dreckige London in eine große Lehmpfütze – der Alte stand und spielte seinen Choral ungehört und unbeachtet.
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