Kitabı oku: «Magdalenas Mosaik», sayfa 5

Yazı tipi:

Tatsächlich erhielt sie das Gewünschte.

Versuch einer Charakteristik über Magdalena Wüst“, so schrieb ihre damalige Zimmernachbarin Stavha. Was für ein Name. Wie sie wirklich hieß, daran konnte sich Lene gar nicht mehr erinnern.

In den eineinhalb Jahren, die ich an der Seite meines lieben kleinen „Mannes“ verbrachte, habe ich oft Gelegenheit gehabt, ihn bis in sein Innerstes kennen zu lernen und zu durchschauen. Ich will mich daher bemühen, eine einigermaßen zutreffende Beschreibung seiner Licht-, sowie seiner Schattenseiten, der Nachwelt zu überliefern. Ich kann mich rühmen, einen recht angenehmen, edlen Menschen in meinem „Mann“ gefunden zu haben. Von Natur mit guter Begabung ausgestattet, wirkt Lena durch ihr interessantes Wesen anregend und belebend. Doch fühlt sie sich dabei nicht erhaben über ihre Mitmenschen, sondern sie ist stets bereit, andere zu unterstützen und ihrer Not zu helfen. (ich denke dabei an meine Rechenkunst). Sie hat ein sehr natürliches, frisches Auftreten, zuweilen etwas jungenhaft, aber das hindert nicht daran sie ein echtes, junges Mädchen zu nennen. Eitelkeit kennt sie nicht, doch könnte ein ganz klein wenig davon ihr nicht schaden. Für Bücher, Musik, Kunst (im engeren Sinne), Natur hat sie viel Sinn und genießt, was ihr davon geboten wird, in vollen Zügen. – Doch kann ich nicht umhin, auch ihrer großen Vorliebe auf sinnliche Genüsse zu verweisen. Daneben liebt sie sehr die Bequemlichkeit und bewahrt allem Ansturm des Lebens gegenüber eine stoische Ruhe. – Ihr Auftreten ist ein selbständiges Sicheres, das ihr gewiss im Leben einst Stütze sein wird. Sie kann sehr liebenswürdig sein, zuweilen aber auch recht schroff, und sie fährt ihre Meinung direkt ins Gesicht. – Ihr Eigensinn lässt uns beide Eisenköpfe manchmal recht hart aneinander stoßen, doch wird der Streit bald durch ihr leicht zu versöhnendes Gemüt geschlichtet. Von jungen Leuten nimmt sie gern Huldigungen entgegen. Man sagt zwar, dass sie stets kühl wäre, doch will ich gerade das Gegenteil behaupten. Gerade ihr munteres, frisches Wesen gewinnt alle Herzen für sich. - Man hat sie einst mit dem lieblichen Heideröschen verglichen und diesem Vergleich schließe ich mich gern an.

Deine Stavha“

Diese Zimmernachbarin hatte sie „kleiner Mann“ genannt, das war damals so ein Spiel zwischen ihnen gewesen, weil Lene manchmal beklagt hatte kein Junge zu sein. Dann hätte sie es nämlich leichter gehabt mit der Bildung und mit einem Beruf später sicherlich auch.

Ein weiterer Brief kam im September 1906 aus Osterode von Schwester Therese.

Liebes Lenchen,

Deine Karte erreichte mich erst hier in Osterode, daher erfülle ich Dir erst jetzt die Bitte um Deine Charakteristik.

Also, Du bist eine ziemlich interessante Persönlichkeit von ausgeprägtem Selbstgefühl und steter Betonung des eigenen Willens, eine bewegliche, geistig rege Natur, die für viele Dinge, aber nicht gerade für häusliche Tätigkeit Interesse hat. Ich denke auch dabei an Deine Antipathie gegen Bettenmachen, es entstanden oft seltsame Gebirge, doch Du schläfst oder würdest selbst auf Steinen prachtvoll schlafen.

Du besitzest ziemlich viel Widerstandskraft, welche man manchmal als Eigensinn bezeichnen könnte. Idealismus und Begeisterungsfähigkeit sind bei Dir in hohem Maße vorhanden und äußern sich meist durch fürchterlich strampelnde Bein- und Armbewegungen, rollende Augen und an Indianergeheul erinnernde Kreischtöne.

Besonders charakteristisch sind bei Dir ewige Leere im Geldbeutel, stete Bewegung der Lachmuskeln, besondere Vorliebe für leicht zu öffnende Einmachtöpfe, tadellos sitzendes Schuhwerk, Auslecken von Kuchenteigschüsseln etc.

Du kannst sehr liebenswürdig sein, aber nur, wenn Du willst .

Dein Wesen ist oft jungenhaft, Du kletterst, rauchst Zigaretten etc. Das schließt aber nicht aus, dass Du gern mit Papier- und anderen Puppen spielst, Dir gern von hübschen Primanern huldigen lässt, besonders kühl tust, obgleich Deine Gefühlstemperatur ewig im Steigen und Fallen ist, leidenschaftlich Tagebuch schreibst – item viele echt weibliche Eigenschaften besitzest.

Jedenfalls bist Du ein frisches und natürliches Wesen, dem jede Zippigkeit fremd ist. – Du liest, vielmehr verschlingst unzählige Bücher, besonders solche, in denen sie sich am Schluss kriegen.

So, mein geliebtes Schweinchen, das ist alles, was ich zu sagen weiß.

Ich bin in großer Eile, daher das Geschmiere. Mama lässt Dir sagen, das weiße Kleid würde sie Dir in den nächsten Tagen schicken. – Die Kräutersammlerin habe ich hier und Du kannst sie in den Oktoberferien mitnehmen. – Papa, Mama, Lotte, Martha, Herbertchen und ich grüßen herzlichst.

So, nun noch eine Scherzfrage:

Was ist das? Es fängt mit Po an, ist zweisilbig und man kann darauf sitzen?

Ein Witz nach Deinem Geschmack:Eine Dame erzählt einem Herrn, sie hätte gebadet, und das wäre so wunderschön gewesen und sie schloss: „Die Wellen kamen und küssten mich!“ – „Und nachher“, erwidert darauf der Herr, „gingen sie ans Ufer und brachen sich!“ –

Verschiedene andere Witze erzähle ich Dir später. Kuss!

Addio! Thelo.

(Dass ihr alle im Seminar nicht wissen sollt, was Liebe ist, macht mir nicht vor, ihr Scheinheiligen)

Typisch Therese, dachte Lenchen und musste lachen, während sie diesen Brief las. Thea, die Altkluge und Gewitzte! „Herbertchen“, das war Lottes kleiner Sohn, gerade ein Jahr alt und mit seiner Mutter zu Besuch in Osterode. Ach, die gute Therese, wie erfrischend offen und herrlich unverblümt! Naja, etwas Wahres war natürlich dran, wenngleich Lene sich jetzt doch meistens erhaben fühlte, jedenfalls aus den Puppenspielen, Baumklettereien, Kreischtönen und anderen Kindlichkeiten herausgewachsen wähnte. Naja, heimlich dachte sie manchmal mit Sehnsucht an jene unbeschwerte Zeit zurück. Das brauchte aber niemand zu wissen. Es war alles so leicht gewesen früher… Und das Zigarettenrauchen, naja, Schweigen drüber in der Öffentlichkeit. Jedenfalls hatte der Brief eine wohltuend erwärmende Wirkung. Thea hatte immer die genau treffenden Worte gewusst. Lenchen faltete den Brief zusammen und legte ihn unters Kopfkissen. Für abends im Bett nochmal, das würde sie sich gönnen.

Schwester Dore aus Spandau (mit ihrem Leo und dem fast einjährigen kleinen Jochen) kamen im September 1906 folgende Zeilen:

Liebe Lusch!

Charakteristiken schreibt man im Allgemeinen nur von bedeutenden Menschen, aber da Du es wünschst, kann ich ja auch mal Deine Tugenden und Untugenden beleuchten. Dein Wunsch allein beweist schon, wie kindlich und unverdorben Du noch bist. Dies ist der Grundzug Deines ja durchaus noch unfertigen Menschens. Harmlos vergnügt freust Du Dich über die kleinsten Dinge und nimmst dankbar hin, was Dir Leben, Natur und Mitmenschen bieten. Frech, gerade und offen wirst Du Dir schon Deinen Weg durchs Leben bahnen. Dass Du lieber ein Junge sein möchtest, zeigt, wie gut Dir Jungensmanieren liegen. Eitel bist Du nicht, ein Zug, der allerdings wohl nur meinem Vorbild zuzuschreiben ist. Deine schlechten Eigenschaften will ich nicht erwähnen, da zu erwarten ist, dass Du sie bei Deiner Einsicht bald erkennen und ablegen wirst. Zum Schluss erwähne ich nur noch Deine Treue, mit der Du an den Gespielen Deiner Kindheit hängst!

Eigentlich könnte ich Seiten über Dich schreiben, obgleich Leo sagt, Du wärst unbeschreiblich, aber wir fangen schon an umzuziehen, deshalb habe ich keine Zeit. –

Amüsiere Dich schön in den Herbstferien und komme bald mal wieder nach Spandau. Jochen spricht jetzt schon sehr viel und lässt dich sehr grüßen desgleichen Leo und ganz besonders sei gegrüßt von Deiner Dosch

Außerdem lief noch ein Brief von Max Horn ein, das war der Freund und anhängliche Verehrer, den sie vor etwa zwei Jahren in Berlin getroffen hatte und der jetzt gerade auch in Elbing war. Ein lieber Kerl. Immer umständlich. Immer bemüht, dem Kern der Dinge akribisch auf den Grund zu gehen, dabei oft sich zerfasernd im Hin und Her, Entweder - Oder. Was der wohl zu sagen hatte? Hoffentlich nicht nur Süßholz.

Elbing, den 15. September 1906

Ich habe vor, über ein 17jähriges junges Mädchen, das meine Freundin ist, eine Charakteristik zu schreiben. Wird sie objektiv ausfallen? Kann überhaupt eine Charakteristik sich gänzlich frei machen von dem Beobachter? Zumal wenn beide ein Freundschaftsband umschlingt? Ich könnte mich in diesem Falle vergleichen mit einem Richter, welcher ein Urteil zu fällen hätte über eine ihm befreundete Person. Er müsste sich wegen Befangenheit ablehnen, da eben sein Urteilsspruch nicht objektiv, unparteiisch ausfallen würde. So sollte ich es eigentlich auch tun. Ein anderer Grund, aus dem diese Charakterbeschreibung keinen Anspruch auf Vollkommenheit machen darf, ist der, dass mir Zeit wie Gelegenheit gemangelt hat, um eingefasste Beobachtungen über dieses Wesen in den verschiedensten Lebenslagen machen zu können. Aber doch glaube ich, einzelne Eigenschaften und Züge dieses eigenartigen „aparten“ Geschöpfes richtig erkannt zu haben, so dass sein Bild für mich schon unverrückbar feststeht und so sollt ihr es mit meinen Augen schauen.

Ein menschliches Wesen ist es, das in Frage steht. Es hat also seine Licht- und Schattenseiten, seine Vorzüge und Fehler. Welche von diesen überwiegen, sollte man wohl erst zum Schluss sagen, wenn man die einzelnen Eigenschaften näher beleuchtet hat, oder am besten, man sollte es dem Leser überlassen, aus den angegebenen durch objektives Schauen gewonnenen Zügen, sich das Wesen selbst vorzustellen und auszumalen. Dieses Bild würde dann ja nach dem subjektiven Empfinden des Betreffenden mehr im Lichte oder im Schatten zu stehen kommen.

Meine Antwort auf diese Frage habe ich bereits im ersten Satze vorweggenommen, da ich dieses junge Mädchen meine Freundin nannte und damit ihre Hauptzüge als die mir sympathischen kennzeichnete. Und das sind vor allem das Natürliche und Urwüchsige; das Frische und Gesunde, das Offene und Wahre ihres Wesens, das seinen Ausdruck findet in einer wahrhaft gesunden, von keiner angekränkelten Lebensanschauung, in ruhig genießender Lebens- und Schaffensfreudigkeit und zuversichtlichem Lebensmut, kurz, mens sana in corpore sano, ein gesunder Geist, bedingt durch einen ebenso gesunden Körper: Sie wird sich das höchste Lebensgut, die Freude am Leben, niemals verkümmern lassen, mag ihr das Schicksal das höchste Los, den edelsten, verantwortungsvollsten Beruf der Frau, den ruhigen Kindern einer lieben Häuslichkeit bescheren oder aber einen Platz anweisen mitten im Getriebe der Welt, wo sie aus eigener Kraft sich eine Lebenserfüllung erringen und in den Stürmen des Lebens behaupten muss. Stets wird sie mit ihrem Los zufrieden sein, wahres Lebensglück zu finden. Wie ganz anders steht es um so viele andere Mädchen, denen man es sofort anmerkt, dass sie ihr Glück nur an der Seite eines liebenden Mannes als das einzig mögliche zu sehen vermögen, und die sich dann elend und unglücklich fühlen werden, wenn ihnen das Schicksal ein solches Los versagt. Schon jetzt in steter Sorge und Furcht um die Zukunft leben sie oft in trüben schwermütigen Gedanken, die sie Tag und Nacht verfolgen, und die nur dann sich aufklären und in tollen Übermut ausarten können, wenn nach ihrer Meinung ein Lichtblick in Gestalt einer derartigen oft ach so trügerischen Hoffnung ihren vermeintlich trüben Lebenspfad erhellt. Geht ihr Wunsch nicht in Erfüllung, dann sind sie die unglücklichen Geschöpfe unserer Zeit, bedauernswerte Opfer der heutigen Gesellschaftsordnung.

Das Wesen, von dem ich schreibe, hat ein besseres Los erwählt. Um ihre Zukunft ist mir nicht bange, sie wird in allen Lebenslagen ein glückliches Menschenkind sein können. Das erfordert aber Energie, Selbständigkeit und etwas Selbstbewusstsein, denn eine allzu anschmiegende, unselbständige Natur wird dazu nie imstande sein. Und auch diese Eigenschaften finden wir hier vertreten, vielleicht sind sie sogar etwas zu stark ausgeprägt. Denn öfters tritt ihr Selbstbewusstsein allzu lebhaft zutage, und rechthaberischer Eigensinn wirft dann und wann einen Schatten auf ihr Bild. Sie setzt sich oft brüsk, vielleicht ein wenig unbescheiden hinweg über Meinungen und Urteile selbst erfahrener Leute und kann dadurch wohl manchen verletzen. Und noch etwas anderes findet bei ihr nicht die nach Meinung der Leute gebührende Beachtung, was allerdings mehr der Natürlichkeit ihres Wesens entspringen mag: Allzu kleinliche Beobachtung althergebrachter Normen und Manieren, die dem Weibe wohl anstehen sollen, ist ihr nicht eigen. Ängstlich, scharf urteilende Gemüter nennen das wohl ein Verleugnen der Weiblichkeit, einen männlichen, jungenhaften Zug ihres Wesens. Ich wäre sehr geneigt, es burschikos zu nennen, dass sie z.B. mädchenhafte Schüchternheit nicht kennt, dass sie keinen Wert legt auf strenge Ordnungsliebe, dass sie gern noch in wildem Lauf kindlichem Spiel sich hingibt und dabei nicht allzu hoch bewertet die äußere Erscheinung. Damit hängt nun freilich zusammen, dass Eitelkeit und Gefallsucht ihr fern liegen.

Wer will aber leugnen, dass ein solches Wesen angenehmer berührt als ein verzogenes, verwöhntes, putz- und gefallsüchtiges, empfindliches Modepüppchen, das mit einem jungen Menschenkinde auch nicht das Mindeste mehr gemein hat?

Ich kann vielmehr sagen, dass trotz dieser oft rauhen Schale ein weicher, echt weiblicher Kern in ihr verborgen ist, dass ihr innerstes Wesen edle Weiblichkeit verrät und dem, der es näher kennen lernen will, ein tiefes Gemüt erschließt.

Das sind die Charakteranlagen, die sich, je nachdem ihr künftiges Leben sich gestalten wird, mehr nach der einen oder der anderen Seite hin ausbilden und verkörpern werden. – Wird es ihr beschieden sein, Gattin und Mutter zu sein, dann wird dieser schöne innere Kern ihres Wesens zu voller Entfaltung gelangen, und an der Seite eines Mannes, der ihr Wesen vollständig erfasst, versteht und zu leiten weiß, können auch ihre Schwächen sich mildern und das Ganze ein schön harmonisches Gebilde werden, sich selbst und ihrer Umgebung ein Quell dauernden Glückes. Im anderen Falle aber, wenn das Schicksal sie hineinzieht in den Strudel des Lebens, wo sie angewiesen auf sich und ihre eigenen Kraft den Kampf aufnehmen muss, der größere Anforderungen an ihre Energie stellt, dann wird die äußere Schale härter und rauher werden, der schöne Sinn wird immer schwerer für die Außenwelt zu finden sein. Nur wird sie selbst in einsamen Stunden hinabsteigen in die innersten Tiefen ihres Herzens wie in einen tiefen Brunnen, und der dort verwahrte Schatz wird sie wie die kühle Flut des Brunnens erfrischen und beleben zu weiterem mutigem Fortschreiten auf der Bahn des Lebens in Zufriedenheit und Glück. –

Möge sie sich diesen kostbaren Schatz stets bewahren!!

Für Fräulein Magdalena Wüst

von Max Horn

Du liebe Güte, sie hatte es ja gewusst: Umständlich! Der gute Max, soviel Mühe hatte er sich gemacht. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, wie lange er zu diesen Überlegungen, zu diesem rührend detaillierten Brief gebraucht hatte.

Dass Männer sich am ehesten alle Frauen als gute Mütter mit Kindern und als Hausfrauen wünschten, war ja nichts Neues, aber bei Max überraschte es sie doch etwas. War das seine Verliebtheit? Na klar, verliebt war er sicher, das war ja nicht zu übersehen seit dem Spaziergang neulich durch die Wiesen, als er plötzlich hier in Elbing aufgetaucht war. Immerhin gestand er ihr auch eine andere Zukunft ein, natürlich nicht ohne Warnung, oder wie sollte sie das deuten? Zumindest hatte Max ein Inneres und Äußeres an ihr entdeckt.

Zuerst war sie erschrocken über die Ernsthaftigkeit, die Länge des Schreibens. Aber dann musste sie doch lachen: Er traute ihr also einiges zu, sieh an, wenigstens das. Na, sie würde mal abwarten. Und vielleicht das eine oder andere aus den Briefen im Kopf behalten. Und wenn auch nur für spätere Vergleiche? Was von den Vermutungen würde eintreffen? Was nicht? Was würde das Leben ihr zu knacken geben, was an Herausforderungen und Schwierigkeiten ihr abverlangen?

Und – ja, - war sie nun eigentlich klüger nach diesen erbetenen Charakteristiken, die sie jetzt auf dem Tisch liegen hatte? War sie so, wie die anderen sie sahen? Oder doch anders? Ganz oder teilweise anders vielleicht in irgendeinem geheimen Winkel ihres Ichs?

Tröstlich war jedenfalls der Gedanke, dass sie sich jederzeit ändern konnte. Je nachdem, was so passierte, wem sie begegnete, was sie entdeckte. Oder nicht? Sie war doch immer in ihre Zeit gebunden. Und vermutlich an Orte, Möglichkeiten und Umstände, die sich ergaben.

Ach, du liebe Zeit, nein, sie lachte doch lieber über das ganze Geschreibsel. Fast gegen ihren Willen nahm sie die Blätter allesamt, stopfte sie in einen Umschlag und versteckte sie zuunterst in der Wäschekommode.

Aufbruch im Sturmschritt

Hinter ihr das leise Knarren der Zimmertür. „Sitzt du hier im Dunkeln?“

Lene fuhr auf. Es war doch hell. Sie wies aus dem Fenster und lächelte dem Bruder verschmitzt zu. „Im Abendlicht. Wie es meinem Alter entspricht.“

Ernst zog die buschigen Brauen hoch. „Deinem-Was? Na, wenn du noch Sonne siehst, bin ich sicher längst im Dämmern verschwunden?“

Das bekannte Lächeln, die alte Ironie. Sie wusste, wie er’s meinte. „Also nicht wir zusammen?“ fragte sie mit gespielter Empörung, „Die läppischen 18 Jahre Unterschied sind doch nichts, oder?“

Er faltete seine langen Gliedmaßen in seinem Sessel zusammen, sie ließ sich gegenüber am Schachtischchen in ihren plumpsen. Sie sahen sich an, mussten beide lachen. Lachen half aus allen Gedankenschluchten. Und lag immer dicht unter der Oberfläche ihrer erprobten Zweisamkeit.

„So lange wie wir‘s aushalten“, knurrte er.

„Ach, Enn, wenn ich dich nicht hätte.“ Sie würden es aushalten, das wussten sie, und sie liebten diese altvertraute und inzwischen eingespielte neue Gemeinsamkeit. Das gleiche Holz, dachte Lene. Das gleiche, beständige Ostpreußen-Holz. Und die gleiche Erziehung zu Rücksicht, Selbstdisziplin, Verantwortungsbewusstsein und Loyalität. Ohne das hätten sie die schlimmen Jahre wohl nicht durchgestanden. Immerhin: sie waren übriggeblieben. Sie hatten viel erlebt. An verschiedenen Ecken der Erde. Auch Enn hatte diesen wechselnden Blickwinkel aus der Nähe oder Weite, dazu – oder deswegen - eine gehörige Portion Menschenkenntnis. Und er hatte wohl eine Art innere Ruhe gefunden zwischen seinen Lieben, den lebenden und gestorbenen.

Und ebenso, wieder in der Nähe, waren die gute Lotte und Martha und – mehr nicht. Denn Dore war seit Jahren nicht mehr da und die gute Therese in diesem Frühjahr 1953 auch gestorben. Jedenfalls zwei Schwestern, dazu sie selbst und Enn waren übriggeblieben und hatten wieder zueinander gefunden. Die Familien-Runde von früher war es nicht mehr, stattdessen verändert jetzt die mit den Kindern und sogar Enkeln. Und immerhin wachte auch über diese neue Familien-Runde der Wüst-Vater in Öl, von Enn gemalt natürlich, wachte mit strengem Blick von der Wand überm Kanapee. Hier war die Familie wieder beieinander und hielt eisern zusammen. Je größer der räumliche Abstand zueinander und je schlimmer und schwieriger die Zeiten, desto fester der Zusammenhalt hinterher. Das hatten sie erlebt.

„Und du bist doch der Mittelpunkt von uns allen“, sagte Enn lächelnd, so, als hätte er ihre

Gedanken verfolgt.

„Meinst du?“ Sie überlegte einen Moment, schüttelte dann leicht den Kopf. „Wir beide, Enn, wir beide. Vielleicht, weil wir gleich zwei sind von der alten Familie? Und weil wir als Duo so verschieden sind.“

Das Abendlicht verblasste, schob spielerische letzte Strahlen durchs Laubgeäst der alten Parkbäume. Schon fast menschenleer und stiller geworden lag das matte Grün der kleinen Wiese daunter. Vereinzelte Gestalten eilten noch darüber hin.

Lene erhob sich und wandte sich wieder ihrem Schreibtisch zu. Sie knipste die Lampe an. Schon hatte sie den Stift in der Hand, blickte auf das Papier vor sich. Vorhin hatte sie geblättert, etwas notiert. Erinnerungen? Gedanken-Übungen wie eifriges Lernen früher, ach ja. Mehr noch und immer wieder Gedankenwanderungen zu den Geschwistern, - früher und heute. Das war jene Girlande um ihr eigenes Lebens-Puzzle. Fixpunkte zum Festhalten.

Sie selbst, Lene, hatte viele Menschen kommen und wieder gehen sehen oder verabschieden müssen. Letztere hatten die Furchen gegraben und vertieft, die Lene morgens in ihrem Spiegelgesicht sah. Falten, aber auch Energie sprangen ihr da jeden Morgen entgegen. Jawohl, Energie, die noch nicht ausgedient hatte. Nein, jetzt erst recht nicht. Die Zeiten der Anpassung waren vorbei. Die hatte sie nicht mehr nötig. Manchmal blickte sie ihr Spiegelbild an wie eine Herausforderung: Hatte sie sich früher wirklich so oft untergeordnet? Natürlich, wenn es nötig war, so wie die strenge Erziehung es selbstverständlich machte. Unterordnung mit oft zusammengebissenen Zähnen. Und die dickköpfige Energie immer in der Hinterhand, die Suche nach Schleichwegen zur Auflehnung. Nicht gegen Menschen, sondern immer gegen geltende Regeln und Maßstäbe. Inzwischen war sie wohl viel älter, aber vielleicht nicht viel anders geworden. Früher hatte sogar ihr Vater eines Tages eingesehen, dass seine Jüngste ihren eigenen Weg ging. Nach seinen wiederholten Bitten, Ratschlägen und altersschlauen Vorträgen hatte er ihren Wünschen zugestimmt.

Vielleicht war er selbst ähnlich energisch gewesen? Das hatte sie sowieso immer heimlich gehofft. Aber Vater war ein Mann. Und diese Tatsache hatte immense, nicht zu unterschätzende Unterschiede geschaffen. Und damit Vorteile, die ihm vieles leichter gemacht hatten. Allerdings war von Anfang an mehr von ihm erwartet worden als von ihr, so viel war klar. Vielleicht war das doch nicht so leicht gewesen? Ihr eigener Vorteil dagegen war wahrscheinlich der des von allen geliebten Nesthäkchens.

Ihr fielen die drei ineinander verschlungenen Ebenen der legendären baltischen Armreifen ein. Die drei Dimensionen des Lebens sollten sie verdeutlichen: die eigene Lebenslinie, die Einbindung in die Gesellschaft, Staat und Ordnung, und drittens das göttliche Schicksal. Diese drei Dimensionen seien in jedem Leben untrennbar ineinander verschlungen, so hieß es. Der Gedanke hatte Lene immer fasziniert.

Auch damals in Elbing hatte sie bereits darüber nachgedacht. Ihr Nesthäkchen-Dasein war so eine schicksalhafte Gegebenheit, ebenso wie ihr Frauendasein. Vater als Mann, Mutter als Frau, das war Schicksal, die Erwartungen daran eher sozial bedingt. Die Familie, sowie die gerade lebende Gesellschaft mit ihren Gesetzen und Regeln konnte sie auch nicht abstreifen. Nur die eigene Lebenslinie, die war damals in Elbing gerade dabei sich als dünner Anfang hinein zu fädeln.

Sie liebte es, mit dieser Idee der baltischen Armreifen herumzuspielen, ihn zu drehen und die einzelnen Ebenen aus der verschlungenen Einheit heraus zu fingern….

Sobald sie ihre Lehrzeit in Elbing abgeschlossen hatte, nahm Lene eine Stelle auf einem Rittergut in Westpreußen in der Nähe von Streckentin an. Die Gelegenheit hatte verlockend geklungen, und sie hatte keine Lust gehabt, lange zu warten. Sie unterrichtete dort ein zehnjähriges Mädchen in der sechsten Klasse. Von Oktober 1908 ein Jahr lang. Und sie war nicht nur als Lehrerin angestellt, sondern auch als „Erzieherin“. Das bedeutete, dass sie auch die Freizeit ihrer Schülerin teilte. Zu den Vergnügungen zählten Tennisspielen, Schwimmen, ausgedehnte Spaziergänge und gemeinsame Ausflüge. So bekam Lene einen Einblick in das nach außen hin sorglose Leben der vornehmen Gesellschaft. Wie es um die Arbeit des Rittergutsbesitzers stand, wusste sie natürlich nicht näher. In dieser Zeit wurde sie jedenfalls selbst fast vornehm und richtig erwachsen, so empfand sie es damals. Zwar hatte sie rund um die Uhr gut zu tun mit ihren ersten Unterrichts- und Erziehungsversuchen, aber nebenbei war oft Gelegenheit, sich auch mit eigenen Beschäftigungen zu vergnügen. Sie las, schrieb Briefe und hatte Zeit, für ihre Zukunft Pläne zu schmieden. Über diese immer mehr gefestigten Zukunfts-Pläne schrieb sie den Eltern. Und erhielt Antworten, die von vielen mitfühlenden Gedanken, aber auch Sorgen zeugten.

Zu ihrem 20. Geburtstag am 29. April 1909 erhielt Lene von den Eltern einen Brief aus Osterode. Zuerst schrieb Vater in seiner energisch ausgeschriebenen Schul-Schrift.

Mein liebes Lenchen!

Dein lustiges Lachen tönt mir noch in den Ohren, und wenn ich Dir zu Deinem Geburtstage etwas wünschen soll, so ist mein herzlicher Wunsch der, dass Du im neuen Lebensjahr oft in der Gemütsstimmung sein möchtest, die Dich zu fröhlichem Lachen anregt. Dann wirst Du auch Trauriges, das etwa kommt, überwinden und wegstecken. Daraus will ich der Oberflächlichkeit nicht das Wort reden, aber zu der neigst Du ja ohnehin nicht. Hoffentlich leben wir in Göttingen oder in Breslau bald wieder ganz zusammen und studieren fleißig Genaueres zum Examen, - der Oberlehrerinnen-Prüfung? Noch besser freilich wäre es, wenn Du Dich verlieben und verloben wolltest, und Du bist ja nachgerade in den Jahren, in denen man auch das einem jungen Mädchen zum Geburtstag wünschen kann, was ich hiermit getan haben will. Lateinische Arbeiten zu korrigieren ist mir eine Freude, wenn sie von Dir kommen. Also schicke nur immer Deine Übersetzungen her. Alles andere Schreiben macht Mama und die Sprachen, und so bleibt mir nur noch übrig, Dich herzlich zu grüßen. In Liebe und Treue Dein Vater E.L.W.

Göttingen oder Breslau, diese Wohnorte überlegte Papa vermutlich für die Zeit nach seiner Pensionierung. Mama hatte sein Geschriebenes ergänzt, - darunter, darüber und daneben und an den Rändern, wo eben noch Platz war -, in ihrer feinen, gleichmäßigen Schrift:

Mein liebes Lenchen! Viel Gutes und Liebes wünsche auch ich Dir zum Geburtstage, den Du hoffentlich recht vergnügt verbringst. Papa und ich schenken Dir die gewünschten

Tennisschuhe, die quittierte Schneiderrechnung und die Süßigkeiten, der Kuchen ist leider gar nichts geworden, iss nur nicht alles auf einmal auf. Einen Teil Sommersachen schicke ich mit, der Rest kommt nach der Wäsche, die nächste Woche ist. Anbei nur ein Blusenübertuch, ich bekam aus Versehen falschen Stoff und muss alles erst waschen. Die Auslagen verrechnen wir in den großen Ferien. – Papa hat sich seinen falschen Zahn ausgebrochen und kann nun vorläufig nicht singen. Gestern Nachmittag waren Schachers hier und blieben, weil ein starkes Gewitter kam, zum Abendbrot. Um acht kam noch der Bürgermeister, es war sehr nett. Neues gibt es kaum, in voriger Woche ist Frau C. gestorben und heute kam die Todesanzeige von Frau D. Für heute lebe wohl. Mit herzlichem Gruß für Dich und einer Empfehlung an die anderen Herrschaften Deine M.(utter) M. Wüst

Wenn wir etwas besorgen sollen schreibe nur. Morgen schicke ich dann Schuhe etc.

Die anderen Sachen bekommst Du gelegentlich, ich schicke ja öfter.

Heute fehlt Oberlehrer Schmidt wieder, an Pfingsten hat er Urlaub genommen.

Von dem neuen Kleid sind noch eine Menge Flicken übrig.

Die Jungen wollten das neue Boot (ein Boot im schuleigenen Ruderhaus am See) „Ernst Leberecht Wüst“ nennen. Papa geht aber nicht darauf ein.

Sorgen der lieben Eltern, natürlich, Lene hatte kaum anderes erwartet. Denn das Nesthäkchen hatte ja immer noch seine Extrawünsche. Aber ihre Pläne, ja, die hatte sie natürlich inzwischen richtig entwickelt. Nichts Geringeres als das Abitur sollte es sein. Das hatte sie sich in den Kopf gesetzt. Und was sich dort einmal eingenistet hatte, blieb unweigerlich da sitzen. Basta. Armer Vater, mit seiner jüngsten Tochter hatte er es wahrlich nicht leicht. Wissensdurst in allen Ehren, aber als Mädchen musste man das seiner Meinung nach ja nicht übertreiben. Lenchen war doch jetzt fertige Erzieherin. Wozu denn noch mehr? Überkluge Mädchen waren als Haus- und Ehefrauen weniger beliebt, so die Volksmeinung. Vater Wüst seufzte, aber er gab natürlich nach. Die Wünsche seiner Kinder nahm er ernst. Wenngleich dieser Wunsch bedeutete, dass das liebe Lenchen, inzwischen mit 20 Jahren auch nicht mehr die Jüngste, noch immer kein eigenes Geld verdienen wollte. Er selbst kam auch allmählich in die Jahre. Seine Gesundheit war schon lange nicht mehr die beste. Diese Sorgen konnte Lene durchaus verstehen. Die Idee mit dem Abitur wollte Vater noch immer nicht recht schmecken. Das machte ein weiterer Brief der Eltern vom Juni 1909 deutlich. Wieder schrieb zuerst Vater, dann Mutter, wo noch Platz an Rändern, Kopf- und Seitenenden war.

Mein liebes Lenchen!

Ich habe mich über Deine Entschließung, das Abitur nachzuholen und zu studieren doch sehr gewundert. Das Entgegenkommen, das der Minister durch seine letzte Verfügung den Lehrerinnen beweist, lehnst Du ab. (Statt eines Examens wählst Du lieber garni, also Erzieherin im Privathaushalt). Statt einer Verbeamtung von fünf Jahren sprichst Du Dich für solche von sieben Jahren aus. Auch werden die Prüfungskommissionen auf solche Lehrerinnen, die das Abiturientenexamen gemacht haben, nicht die geringste Rücksicht nehmen, sondern sie behandeln wie die Kandidaten, die heut zu Tage mindestens acht Semester studieren, während man die Lehrerinnen, die für höhere Mädchenschulen geprüft sind und dann der letzten Verfügung entsprechend die Oberlehrerinnenprüfung ablegen wollen, mit einiger Nachsicht zu behandeln gar nicht abgeneigt sein dürfte. Vor allem glaube ich, dass Du Dir die Vorbereitung auf das Abitur-Examen zu leicht vorstellst. Dass Dich die Aussicht so vielen Kram in Mathematik, Chemie und Physik u.s.w. wieder in den Kopf „einzupremsen“ Dich nicht zurückschreckt!! Aber alles das, was ich eben ausgesprochen habe, soll Dich nur veranlassen, noch einmal alles zu überlegen. Falls Du wirklich von dem Wunsch beseelt bleibst erst noch das Abiturexamen zu machen, so werde ich Dir, soweit ich es vermag, zur Erreichung des Zieles behilflich sein: in Deines Vaters Hause wird stets eine Wohnung und Essen und Trinken, wo wir auch weilen, bestehen, nur dass ich den Abschluss Deiner Studien noch erleben sollte, ist ja sowieso nicht anzunehmen, später wohnst Du dann mit Mama zusammen. Dass Du zum 1. Oktober Streckentin verlässt, scheint mir, wenn Du die Oberlehrerinnenprüfung ablegen willst, ob so oder so, unerlässlich, und Herr und Frau Guhse werden ja ein Einsehen haben und Dir eine Kündigung Deiner Stelle nicht übelnehmen. Das ganze Mädchenschulwesen und alles, was drum und dran hängt, ist immer noch in der Entwicklung und man ist vor Überraschungen keinen Augenblick sicher. Ob schließlich die Mühe und Arbeit, die Du aufzuwenden gedenkst, im Verhältnis stehen wird zum pekuniären Erfolge, wer will es heute sagen. Ob ein dreijähriges Studium auf einer Malerakademie und das Examen für Zeichenlehrerinnen nicht den gleichen Erfolg bringen sollte, wobei freilich Begabung und Neigung eine Hauptrolle spielen, wer kann’s wissen. – Rieke Fuhrmann ist z.Z. so geschwächt, dass sie ihr Studium in Bonn abgebrochen hat und in Olivar weilt zur Erholung. Sie wird sich freilich in Crefeld bei der Pflege der Mutter erheblich angestrengt haben. Sonst nichts Neues von Paris.

₺340,39

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
520 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783742769664
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre