Kitabı oku: «Der Seelensucher», sayfa 2
Stunde für Stunde hielt sie Wache. Dort fand sie auch Dr. Vorbeuger. Lachmann sei verreist und könne erst in einigen Tagen bestimmte Antwort geben. Es sei aber nicht unmöglich, daß unter seinen Kranken Scharlachfälle vorgekommen seien.
Agathe nahm die Nachricht wie eine Siegesbotschaft auf. Es freute sie, daß sie Recht behalten hatte, und in ihrem Triumphgefühl schrie sie mitten in den Sport des Bruders hinein: »Du hast doch Scharlach. Ich wußte es ja«.
August lachte laut auf. »Keine Spur von Scharlach. Ich bin ganz gesund. Das sollst du sehen morgen; heute habe ich noch zu tun. Ich habe Steinschnüfflers Rezept! Wehe den Feinden! Jetzt laß mich in Frieden! Es dämmert schon; ich bin auf dem Anstand. Kein Laut darf das Wild schrecken.«
Agathe stand wie auf Kohlen. Sie sah, wie Vorbeuger die Ohren spitzte, um zu hören, was der Mann da drinnen sprach. Die Wanzen im Hause Müller waren längst Stadtgespräch. Frau Willen aber sprach nie davon, sie hoffte immer noch, durch hartnäckiges Schweigen das Gerücht ersticken zu können. »Fieberphantasien!« log sie, »Scharlachfieber, der Arme,« und dabei zog sie den Arzt so hastig fort, daß er sich fast die Nase an der Wand zerstieß. Sein Groll von heute Morgen erwachte wieder und die Nase reibend, wiederholte er drohend: »Ich hoffe, es wird Ihnen gelingen, den Kranken abgesperrt zu halten, Frau Willen. Sonst – ich bin verantwortlich, und in dem Spital ist er sicher.«
Unter dem Eindruck dieser schrecklichen Worte verbrachte Agathe den Rest des Tages und die ganze Nacht. Schlaflos saß sie auf dem Stuhl und fertigte ihr Scharlachkostüm an, ein langes weißes Gewand, Segeltuchschuhe, eine dicht anschließende Haube und eine Maske, die nur die Augen frei ließ. So gewappnet wollte sie der Gefahr trotzen. Ab und zu seufzte sie tief. Drinnen regte sich nichts. Aber sie kannte den Bruder. Ihn floh der Schlaf gewiß ebenso wie sie selbst. Er lag auf der Lauer.
Je mehr der Morgen nahte, umso schwüler ward ihr zu Mute. Sie malte sich aus, wie der Bruder, sobald sie die Tür öffne, sie über den Haufen rennen und von neuem flüchten werde. Und dann sah sie Leute mit roten Kragen hinter ihm herrennen, ihn mitschleppen, um ihn dem schwer beleidigten Vorbeuger auszuliefern. Fast wären ihr Tränen gekommen, und voll Ingrimm dachte sie des fernen Lachmann, der sie in diese Lage gebracht hatte.
Endlich brach der Tag an. Sie erhob sich. War sie erst im Zimmer, so wollte sie schon mit dem Kranken fertig werden. Gefährlich war nur der Moment des Öffnens. Stand er fluchtbereit hinter der Tür, so war alles verloren. Vorsichtig hob sie die Eisenstange fort, leise drehte sie den Schlüssel, legte noch einmal das Ohr an die Tür, dann riß sie sie auf und schoß hinein.
Ihr Erstaunen war groß, als sie des Bruders ansichtig wurde. Er saß friedlich auf seinem Bett und wandte der Eintretenden nicht einmal das Gesicht zu, so tief war er in Nachdenken versunken. Den Gruß Agathes erwiderte er nicht. Und als sie ihn aufforderte, auf den Balkon zu gehen, bis sie das Zimmer geordnet habe, erhob er sich, reckte sich zu seiner vollen Höhe empor, schritt langsam auf die Schwester zu und sprach, dicht vor ihr stehen bleibend: »Es hat mich nicht gebissen«. Dabei riß er die Augen weit auf, so daß seine Schwester später behauptete, er habe ausgesehen wie ein sterbendes Kalb. Dann wandte er sich und schritt zu dem Balkon. An der Tür drehte er sich noch einmal um, schüttelte ernsthaft den Kopf und sagte wieder: »Es hat mich nicht gebissen. Weißt du, wie das ward?« Während nun Agathe das Zimmer ordnete, ging er, die Hände auf dem Rücken, den Balkon hin und her. Die Worte der Schwester, mit denen sie ihn von Zeit zu Zeit ansprach, beantwortete er nur mit einem ärgerlichen Kopfschütteln und dem Ausruf: »Stör' mich nicht, ich habe zu tun«.
Agathe wurde bei diesem hartnäckigen Schweigen ängstlich. Sie glaubte immer deutlicher wahrzunehmen, daß Fieberphantasien den Bruder beschäftigten; wenn sie jedoch in sein gesundes frisches Gesicht blickte, das so gar nicht erhitzt aussah und nicht den geringsten roten Fleck mehr zeigte, wurde sie wieder irre. Endlich überwand die Sorge um den Bruder ihre Ansteckungsfurcht, und an ihn herantretend, fragte sie: »Fühlst du dich wohl?«
Er nickte lebhaft mit dem Kopf, schritt aber ungeduldig weiter. »Ich habe zu tun«.
Agathe machte noch einen Versuch. »Aber du tust ja nicht das Geringste. Was hast du denn zu tun?«
Da blieb er vor ihr stehen, und aus der tiefsten Brust kam nur das eine Wort: »Nachdenken«.
Agathe ging rückwärts zur Tür, so eingeschüchtert war sie von dem Benehmen des Bruders. »Drinnen ist alles fertig. Willst du nicht hineingehen? Du wirst dich erkälten«.
Statt jeder Antwort tönte es zum dritten Male: »Es hat mich nicht gebissen«.
Agathe ging seufzend davon, verschloß die Zelle und legte die Stange vor.
Das seltsame Schweigen des Bruders und sein feierlicher Ernst verwirrten und ängstigten sie noch mehr, als sein früheres Toben. Unruhig lief sie immer wieder in den Garten, um von dort aus den wandelnden Kranken zu beobachten. Am Nachmittag stieg ihre Sorge so, daß sie all ihre Absperrungsvorsicht vergaß und zum zweiten Mal das Giftzimmer betrat. Diesmal nahm August überhaupt nicht von ihr Notiz. Aber zu ihrer Freude sah sie, daß er einen großen Teil der Eßvorräte vertilgt und dem Wein tapfer zugesprochen hatte. Das beruhigte sie einigermaßen.
Trotzdem war die Nacht für sie mehr als schlecht, und mit den trübsten Erwartungen betrat sie am Morgen Augusts Zimmer. Er lag noch im Bett, blieb auch darin, ungeachtet der schwesterlichen Ermahnungen aufzustehen; er sprach kein Wort, sondern starrte mit demselben Kalbsblick wie gestern zur Decke empor. Es blieb Agathe nichts übrig, als ihn liegen zu lassen.
5. Kapitel.
Die Wanzen werden angesteckt. Augusts Berufung.
Ganz anders ging es am Nachmittag her, als Frau Willen den zweiten Versuch machte, ihren Kranken aus dem Bett zu holen.
»Kommst du endlich,« rief er ihr schon entgegen. »Setz' dich hierher, dicht zu mir; ich habe dir etwas zu sagen.« Im Vertrauen auf ihren bazillensicheren Panzer folgte Agathe seiner Aufforderung, ja sie überließ ihm sogar die gut geschützte Hand, als sie seine Aufregung gewahr wurde.
Mit zitterndem Finger wies er auf das Fußende des Bettes. Dort hatte er mit zwei Stecknadeln den Zettel, Steinschnüfflers Rezept aufgehängt. »Lies,« sagte er ihr. Mit gespanntem Ausdruck verfolgte er, wie sie die Worte entzifferte:
»Unfehlbares Wanzenmittel.
Töte jede Wanze, die du findest. Hast du die letzte getötet, so ist keine mehr da«.
August begann hastig zu sprechen: »Nicht wahr, das ist logisch, das ist einfach und wahr. Das ist unfehlbar. Ich bewundere Steinschnüffler, er ist ein großer Mann. Aber wie, wenn ich noch etwas Besseres wüßte? Etwas, was niemand weiß als ich.«
Agathe drückte schweigend die Hand des Bruders. Sie war wiederum zu dem Glauben geneigt, er fiebere. August aber nahm das für ein Zeichen des Zutrauens. Der Schwester Hand wieder drückend, sagte er: »Ich danke dir. Ich weiß nun, daß du an mich glaubst. Aber ich muß es laut sagen, damit ich es selbst fassen kann. Sie sind alle vernichtet, ich habe zum ersten Mal ruhig geschlafen. Begreifst du? Die Wanzen sind verschwunden. Es fragt sich nun, wie das zugegangen ist. Zwei Möglichkeiten gibt es. Entweder das Viehzeug ist vom Scharlach angesteckt und samt und sonders verreckt. Oder –« er schwieg. Im nächsten Augenblick aber richtete er sich wild im Bett auf und sah die Schwester mit Augen an, als ob er ihr Herz und Nieren prüfen wollte. Agathe wich vor diesem Blick zurück und suchte ihre Hand loszumachen. August aber streckte ihr den Kopf immer näher, bis sein gesträubtes Haar fast die Maske der Schwester berührte. Dann flüsterte er: »Glaubst du an eine Berufung durch höhere Mächte, glaubst du an himmlische Geister, die den Menschen zum Richter und Rächer auf Erden machen?«
Agathe riß sich los und flüchtete in die äußerste Ecke des Zimmers, so sehr war sie überrascht. »Nein,« stammelte sie.
»Nein,« wiederholte er und dehnte das kurze Wort zu einer Ewigkeit voll Entrüstung, »aber du wirst daran glauben, du wirst es mit Augen schauen.« Und die Bettdecke zurückwerfend sprang er mit einem Satz in die Mitte des Zimmers, hob stolz das Haupt und rief: »Sieh mich an!«
Agathe hatte sich gegen die Wand gedreht. »Zieh' dir erst Hosen an,« sagte sie kaltblütig.
August war wie vom Blitz getroffen. »Wie!« schrie er, »in diesem heiligen Moment, wo du einen Blick in die Tiefe der unaussprechlichen Natur tun kannst, denkst du an Hosen? Pfui, du Weib, du!« Voll Verachtung kroch er in sein Bett zurück und zog sich die Decke über die Ohren.
Agathe war über den Auftritt so erschrocken, daß sie nicht wagte, den Kranken allein zu lassen. Mechanisch begann sie das Zimmer noch einmal aufzuräumen. Schließlich trat sie zu dem Bruder. »Willst du nicht aufstehen, August? Ich möchte dein Bett machen.« An der hastigen Bewegung, mit der er ihre Hand zurückstieß, merkte sie seinen Zorn und in der Angst, Aufregung könne ihm schaden, suchte sie ihn zu beruhigen. »Ich habe es nicht bös gemeint,« sagte sie. »Du kennst mich ja, ich glaube alles, was du sagst. Aber vorhin sahst du so furchtbar aus, daß ich nicht wußte, wohin ich die Augen wenden sollte.«
August fuhr herum. »Ich sah furchtbar aus?« fragte er. »Ja, das ist möglich, das glaube ich. Ich strahlte Ehrfurcht aus, ich weiß es.« Als er das fragende Auge Agathes sah, wurde er wieder gereizt. »Nun ja, man kann von einem Frauenzimmer nicht verlangen, daß es an Größe ohne Hosen glaubt. Lassen wir das!« Er drehte sich wieder gegen die Wand. »Übrigens bin ich mir selbst noch nicht klar. Vielleicht habe ich magnetische Kräfte, vielleicht auch nicht. Dann sind die Bestien wie ich am Scharlachfieber erkrankt. Welch ein Labsal, daß sie sich selbst den Tod getrunken haben? Das wäre eine Entdeckung, die die Welt mit einem Schlage fördern würde. Gegen Mäuse braucht man schon Seuchengifte. Nun komme ich mit der Tatsache, daß Wanzen durch Scharlachfieber vernichtet werden. Ich muß das verfolgen, wissenschaftlich ergründen. Ein Arzt muß damit experimentieren. Dem Lachmann werde ich diesen Gedanken vortragen. Er soll in seinem Laboratorium Versuche machen. Und einen Maler brauche ich dabei. Bedenke, welch eine Umwälzung es in allen ästhetischen Anschauungen geben wird, wenn man das neue Farbenspiel des Scharlachs auf dem Wanzenrot erst kennt. Eine neue Technik der Farbenbereitung kann entstehen. Denn gewiß wird man, wie man durch die Seuche bei Wanzen fabelhafte Roterscheinungen hervorruft, bei anderen Objekten durch geeignete Übertragungen blaue, grüne, gelbe Farbentöne erreichen. Ja, vielleicht gelingt es sogar, das Schillern der Giftfliegen oder der Libellen, den Zauber der Schmetterlingsfarben durch Ansteckung neu zu gestalten und praktisch zu verwerten; nationalökonomisch allein schon erstaunlich. Denn was bedeutet alles künstliche Indigo gegen diese zukünftige Pracht. Und wenn jetzt Tausende vom Anilin leben, so werden später Zehntausende vom Scharlachwanzenrot ihr Brot haben. Steinschnüffler muß auch heran, es ist nicht ausgeschlossen, daß er hier die Lösung findet, wie frühere Maler ihre unverwüstlichen Farben herstellten. Ungeziefer gab es damals genug und Seuchen erst recht. Unzählige Versuche, unzählige Erfolge werden sich anschließen. Alles was beißt und zwickt wird man zähmen, in den Dienst der Menschheit stellen. Der Mensch wird den Teufel austreiben, er, der Herr des Herrn der Ratten und der Mäuse. Zähle die Augenblicke zusammen, die täglich unnütz im Kampf mit Küchenschaben und Blattläusen verloren gehen; du gewinnst eine Ewigkeit, verwendbar für hohe Ziele. Eine unberechenbare Masse von Denkkraft wird jetzt zum Töten von Raupen, Mücken, Wespen verschwendet, Millionen für Mäusefallen, Insektenpulver, Fliegengifte ausgegeben, die wertvollsten Gedanken können über dem plötzlichen Biß eines Flohs verloren gehen, ja die heiligsten Momente des Lebens, der Liebe werden dadurch zerstört, Ehen gesprengt. Eine neue Welt wird sich aufbauen, eine Welt, erhaben über alles Jucken und Kratzen, über alle Niedrigkeiten des Lebens.«
Er schwieg einen Moment, um Atem zu schöpfen, Agathe benutzte die Pause und entfloh. Ihr Herz war zum Springen voll, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
6. Kapitel.
Der Vikar wird durch ein junges Mädchen in die Geschichte verwickelt und hat ein Stelldichein.
Als sie weinend den Gang hinab in ihr Zimmer eilte, streckte die Tochter mitleidig den Kopf aus ihrem Stübchen. Frau Agathe scheuchte sie heftig zurück. »Kind, Kind, wann wirst du vernünftig werden? Du siehst doch, ich habe meine Uniform an, komme vom Onkel, und du sollst mir nicht nahe kommen.« Damit schlug sie ihr die Tür zu. In ihrer Verzweiflung über ihres Bruders wunderliches Wesen blieb sie jedoch zögernd davor stehen, und nun entspann sich zwischen den beiden Frauen eine eifrige Unterhaltung.
In fliegender Hast erzählte Agathe ihre Abenteuer. Ratlos schlug sie schließlich die Hände zusammen und seufzte: »Was soll ich tun? So kann es nicht weiter gehen. Der Onkel schnappt einfach über. Den gräßlichen Vorbeuger mag ich nicht rufen. Er ist imstande, meinen leiblichen Bruder in ein Irrenhaus zu sperren. Wer soll mir helfen?«
Während die Frau draußen jammernd sich auf den Stuhl warf und sich die Maske vom Gesicht riß, um sich die Tränen zu trocknen, hatte Alwine drinnen ganz andere Kämpfe zu bestehen. Um den Onkel sorgte sie sich nicht. Sie war von Kindheit an gewöhnt, in ihm den Unfehlbaren zu verehren, dem alles glücken mußte, und sie zweifelte auch jetzt nicht, daß seine Krankheit zum Besten ausgehen werde. Aber schon lange harrte sie auf eine Gelegenheit, ihre eigenen heimlichen Pläne zur Ausführung zu bringen. Sie war entschlossen ihr Glück selbst zu schmieden. Jetzt stand sie unschlüssig da und wurde bald rot bald blaß, so schämte sie sich ihrer versteckten Wünsche. Zweimal hintereinander öffnete sie den Mund, um zu sprechen, zweimal stockte ihr das Wort. Ehe sie zum drittenmal begann, kniff sie sich selbst in den Arm, um sich Mut zu machen, setzte das frechste Gesicht auf, das sie zur Verfügung hatte, so wie sie es in der Schule zu brauchen pflegte, wenn sie mit ihrem lockengeschmückten Geschichtslehrer unterhandelte, und sagte dann kaltblütig. »Weißt du, Mama, der Onkel braucht gar keinen Arzt, er braucht geistlichen Zuspruch.«
»Kind,« rief Agathe mitten im Weinen jubelnd, »den Gedanken hat dir Gott eingegeben. Gewiß, der Pfarrer muß her, der Onkel lästert ja mit seiner höheren Berufung den Himmel und alle Heiligen. Unser guter Breitsprecher, der wird helfen.« Plötzlich sank ihr der Mut. »Nein,« unterbrach sie sich. »Das geht gar nicht. Du weißt, er hat August neulich auf meinen Wunsch ins Gebet genommen und ihm vorgestellt, Wanzenstiche seien eine Schickung Gottes, man müsse sie in Demut hinnehmen und dürfe nicht einmal kratzen; dafür hat ihm August ein lebendes Exemplar zugeschickt als nächtliche Versuchung der Demut. Es war der einzige Feind, den er nicht hingerichtet hat. Seitdem ist es zwischen den Beiden aus.«
Alwine stockte der Atem. Jetzt mußte die Entscheidung fallen. Alle Kraft zusammennehmend, zwängte sie die Worte hervor: »Es braucht ja nicht gerade der Breitsprecher zu sein.«
Agathe sprang auf. »Ausgezeichnet«, rief sie. »Der andere, der Vikar, der ist der Richtige.«
Alwine bestätigte das jenseits der Wand mit einem ernsten Kopfnicken.
»Küssen möchte ich dich,« fuhr Agathe fort, »warte nur bis ich die Uniform abgelegt habe. Vikar Ende, der paßt zum Onkel. Der versteht zu reden und August mag ihn gern leiden. Auf Wiedersehen, mein Herzenskind.« Eilig rannte sie davon und kurz darauf ging die zahnlose Trude, den Herrn Vikar herbeizuholen.
Alwine stand noch eine ganze Weile an der Tür. »Der ist der Richtige,« wiederholte sie leise und ihr Kleid fassend, tanzte sie in der Stube herum und sang dazu nach eigener Melodie: »Der und kein anderer, der ist der Richtige.« Plötzlich hielt sie inne. Die Klingel tönte. Das war der Vikar. Hurtig, hurtig, ein Schürzchen vor, daß man fleißig ausschaut, die Haare gestrichen, daß man der Madonna ähnlich wird, mit der man neulich verglichen ward. »Langweilig ist es, solch frommes Gesicht. Die Vorliebe treib' ich ihm aus,« dachte sie, als sie sich prüfend beschaute. Sie trat recht ehrbar zur Türe, blieb aber noch einmal stehen und zerrte mit raschem Griff ein Löckchen am Ohr hervor. Das Ohr sollte er sehen, das war hübsch.
Er sah es auch wirklich und fühlte nicht übel Lust, es zu zausen, als er nun in eifriger Beratung neben den beiden Frauen saß. In Kurzem war der Kriegsplan entworfen und sicheren Mutes schritt Paul Ende seinem Schicksal entgegen, das tolle Pläne brütend in der Scharlachkammer lag.
Dort war Herr Müller inzwischen seinen Gedanken nachgegangen, die ihn auf immer weitere Abwege führten. Anfangs merkte er gar nicht, daß seine Schwester sich fortgeschlichen hatte. Das Gesicht zur Wand gekehrt, sprach er weiter: »Diese Vernichtung des Wanzengeschlechts durch Scharlach ist ein Symbol. Es zeigt den Weg, auf dem das Schicksal vorwärts schreitet. Es läßt uns einen tiefen Blick in das Geschehen der Dinge tun. Da steht sie vor uns, die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, ein tausendfacher Wanzenmephistopheles im roten Mantel. Nicht wahr, das hast du nicht gedacht, daß ich von meinem Standpunkt aus eine neue Epoche der Goetheforschung anbahnen werde. Was gäben wohl die Herren Gelehrten darum, wenn sie plötzlich das Wesen des Dichters vor sich sähen, so deutlich wie ich es sehe. Oder hältst du es für Zufall, daß der Teufel sich den Herrn der Wanzen nennt, daß die Diener des Gutes schaffenden Bösen Insekten sind? Geheime übersinnliche Zusammenhänge bestehen da, die prophetische Zunge des Dichters redet von dem, was jetzt geschieht. Mich ruft ein großes Werk in tausend Stimmen und auch die Goethes erklingt. Ein unermeßliches Feld der Forschung, des Nachdenkens öffnet sich vor mir. Und immer fester wurzelt sich in mir die Überzeugung, daß in diesem Kopf zukünftige Welten verschlossen sind.«
August fühlte den Drang, diese Welten in seinem Kopf mit einer Gebärde zu zeigen. Da er jedoch gerade dabei war, sich unter der Bettdecke die Strümpfe anzuziehen, hatte er die Hände nicht frei, stieß also mit aller Kraft den weltenschwangeren Schädel gegen die Wand, gleichsam um sich selbst durch den Klang von seiner Fülle zu überzeugen. Der Schmerz kam ihm unerwartet, verdutzt fuhr er herum und starrte nun, verwundert über der Schwester Flucht, in das leere Zimmer.
Sofort aber begann er seine Fäden für sich weiter zu spinnen. Das Gebiet des Gutes schaffenden Bösen flüchtig ins Auge gefaßt erschien ihm endlos. Rasch begann er es zu teilen. Das Studium vom Nutzen der Krankheit stellte allein schon eine Lebensaufgabe vor. Die Grausamkeit, der Neid, die Dummheit, alles erschien ihm auf einmal in neuem Licht. Er versenkte sich so in seine seltsamen Ideen, daß er alle Laster, Gemeinheiten, Fehler im Augenblick lieb gewann, daß er sie gleichsam liebkosend hätschelte.
Der rote Schimmer, der jetzt bei Sonnenuntergang den ganzen Himmel bedeckte und sein Zimmer mit feurigem Licht erfüllte, brachte ihn auf blutige Gedanken. Die Geschichte der Religionen zog in raschen Bildern an ihm vorüber, die Menschenopfer, das Foltern der Märtyrer, die Ketzerverfolgungen, die Glaubenskämpfe, all das sah er jetzt wie eine blutige Abendröte, die den heiligen Frieden der Nacht verkündet. Und diese Nacht selbst, die verschriene, düstere, böse Nacht, war sie nicht die Schöpferin alles Lebendigen, die Freundin der Zukunft, die unzählige Leben weckte? Plötzlich zum Ausgangspunkt zurückkehrend, lachte er voll Siegesbewußtsein und Stolz, als ihm einfiel, daß es ja die Nacht war, in der er das Symbol alles Schlechten, die roten Feinde gemordet hatte. Alles war ihm in Rot getaucht, was er sah und dachte, und zwischen allem Blutigen tanzte neckisch das Rot als Liebesfarbe hervor und verwirrte seine Gedanken noch mehr.
In diesem Augenblick, als Augusts Verstand just zwischen der Kirche und der Liebe stand, trat der Vikar in sein Zimmer. Sein Erscheinen gab dem armen Narren Gelegenheit, sein Gewebe weiter zu spinnen. »Sie kommen wie gerufen, lieber Vikar, wie eine Erscheinung von oben, als ein echter Bote Gottes«. Dabei streckte er ihm vom Bett aus die Hand entgegen.
Ende ging mit den besten Vorsätzen ans Werk, er wollte vorerst still zuhören, um sich ein unbefangenes Urteil über den Kranken zu bilden, dann aber mit ruhiger Würde als wahrer Seelsorger eindringlich sprechen. Trotzdem war er seiner Rolle gerade jetzt nicht gewachsen. Mochte es das Ungewöhnliche seiner Aufgabe sein oder das vertraute Gespräch mit den beiden Frauen, kurz sein Gemüt war erregt, und seine Verwirrung wurde noch größer, da August die einmal ergriffene Hand nicht wieder losließ. Ein Gefühl der Unfreiheit überkam den Geistlichen.
»Ich dachte gerade über das Eheverbot für Geistliche nach und gleichsam als Verkörperung dieser Frage stehen Sie vor mir, im roten Sonnenlicht, jung, wie auf Freiersfüßen wandelnd. Wäre ich nicht hellsehend geworden, ich könnte glauben, Ihr Kommen entscheide das Problem zu Gunsten der Priesterehe. So aber blicke ich tiefer und erkenne nur ein Vorzeichen Ihrer Zukunft. Sie passen nicht zum Verlobten Gottes, und ich sehe die Locken wehen, in denen Sie sich fangen werden.«
Der Vikar machte seine Hand aus dem Griff des Kranken frei und strich mit der Rechten über die Augen; es tanzte wirklich eine Locke davor. »Verzeihen Sie, Herr Müller,« begann er, »wenn ich freimütig spreche. Ich bin protestantischer Geistlicher, und mir tut es weh, Sie so reden zu hören. Die Seele des Menschen ist ein rätselhaftes Wesen, mit heimlichen Winkeln und Schatten. Nur das Licht, das aus einer anderen Seele strahlt, hellt sie auf. Wir Priester bedürfen der Ehe, der offenen wahrhaftigen Gemeinschaft mit einem anderen Wesen, an dem wir lernen Seelsorger zu werden. Die Ehe ist die große Schule für jeden, eine Bestimmung des Menschen, wie es die alten Geschichten von der Schöpfung des Weibes tiefsinnig lehren. Das Wesen des Priesters, wie es der Ehrgeiz Roms geschaffen hat, ist der ärgste Abfall von Christi Lehre. Das ist gerade der tiefste Sinn des Evangeliums,. daß sich niemand zwischen das Herz des Menschen und seinen Gott drängen soll. Der Geistliche ist Mensch und bleibt es auch in seinem Amte. Nichts Menschliches darf ihm, dem Verkünder der Menschenliebe, fremd sein, am wenigsten die Ehe, die ihn die eigenen Schwächen überwinden, die fremden liebevoll dulden lehrt.«
In diesem Augenblick wurde der feurige Redner von einem schallenden Gelächter seines Zuhörers unterbrochen. »Entschuldigen Sie, lieber Herr Ende, entschuldigen Sie mein ungebührliches Lachen. Sie sprechen so warm, und ich nehme herzlich teil an Ihrem zukünftigen Glück, das aus Ihren Augen leuchtet. Aber der Schluß, das war der ganze Breitsprecher, ein typisches Beispiel geistiger Ansteckung.«
Der Vikar fiel ein: »Oh bitte, alles Persönliche wollen wir doch aus dem Spiel lassen.«
Müller lachte noch lauter. »Haben Sie keine Angst, ich verrate es der Schönen nicht, daß Sie sie gewissermaßen als Geduldsprobe heiraten wollen.«
Paul Ende verlor die Fassung. »Ich meinte das nicht,« rief er hastig. »Das Hineinziehen meines Amtsgenossen und Vorgesetzten möchte ich vermieden sehen.«
In Müllers Augen leuchtete der Spott auf. »Aber das gehört gerade hierher. Nein, bleiben Sie ruhig sitzen! Sie sind von ihm mit Demut angesteckt worden, und das ist eine Gefahr, diese Infektion. Wenn Sie sie aufkommen lassen, so dauert es kein Jahr, und Sie sind aus einem Verkünder der Menschenliebe ein Priester geworden. Denn Priester, oder wenn Sie wollen Pfaffen gibt es auch unter den sogenannten Protestanten; das werden Sie mir zugeben. Ja, es will mich bedünken, der evangelische Geistliche sei auch von Amts wegen zwischen Gott und Menschen gestellt. Nur gibt ihm unser Bekenntnis nicht die Macht, die der katholische Priester mit seiner Kraft, in der Messe den Leib Gottes zu schaffen, besitzt. Das ist ein großer Fehler unsrer Kirchenverfassung, an dem die evangelische Lehre einmal zu Grunde gehen wird.«
»Es ist der große Vorzug unsrer Lehre,« entgegnete der Vikar, »daß sie den Aberglauben der priesterlichen Macht, zu binden und zu lösen, gebrochen hat. Der Glaube allein, nicht die Kirche gibt uns Erlösung. Das Wesen des Protestantismus ist die Freiheit des Einzelnen.« Er hatte ganz vergessen, daß er mit einem Verrückten sprach, aber schon die nächsten Worte Müllers erinnerten ihn daran.
»Ich habe nie begriffen,« begann dieser, »was das Wort Protestantismus noch mit unsrer Lehre zu tun hat, es sei denn, daß sie pro testiculus eintritt gegen das Zölibat. Unser Bekenntnis beruht nicht mehr auf einem Protest gegen eine Lehre, sondern ist selbst eine Lehre, eben die Lehre vom Glauben. Das Wort evangelisch paßt für uns, schon deshalb, weil bei uns so schön geredet wird. Protestanten können niemals eine gemeinschaftliche Kirche bilden, ja gerade die Kirche verwirft jeder Protestant ohne weiteres, wie Christus selbst sie verwarf. Die Bildung einer Kirche, der Anschluß an die Gemeinschaft einer solchen ist eine Infektionskrankheit der Seele, für die der Protestant unempfänglich ist.« August hatte sich auf die Bettkante gesetzt und betrachtete nachdenklich seine nackten Beine. »Man weiß zu wenig von ansteckenden Krankheiten, geistigen und körperlichen. Das wird sich nun ändern. Wenn ich die Erfahrungen der letzten Tage mir erst ganz zu eigen gemacht habe,« – er riß hastig das Bettlacken oben von der Matratze fort und suchte nach irgend etwas in den Falten des Überzugs – »werde ich sie wissenschaftlich erproben und bearbeiten, und ich zweifle nicht daran, daß sich sehr bald auf der neuen Grundlage eine neue Wissenschaft aufbauen wird. Einiges läßt sich schon jetzt darüber sagen. So möchte ich annehmen, daß auch hier ein gewisses Gesetz der Gegensätze herrscht; ich meine, daß eine psychische Infektion den Körper umgestaltet, während die körperliche Ansteckung den Geist verändert. Das letztere habe ich an mir selbst erfahren. Mein Scharlachfieber hat meinen gesamten inneren Menschen verwandelt, so sehr, daß ich noch gar nicht daran zu glauben wage. Für die geistige Infektion aber bietet gerade die Kirche ein gutes Beispiel. Ist ein Mensch priesterlich angesteckt, so erleidet sein Gesicht, seine Haltung, sein ganzes äußeres Wesen eine bestimmte Wandlung. Das zeigt sich sogar in der Kleidung. Sie ist die unausbleibliche Folge der Ansteckung. Genau so wie ich rot geworden bin, weil ich das Scharlachfieber bekam, so tragen Sie schwarzes Gewand, weil Sie an dem Kirchenfieber leiden, an einer ganz bestimmten Sorte, demDemutsfieber; das ist eine fatale Abart. Ihr Gift ist das Bewußtsein der Sünde und der Angst. Die Demut will nicht bemerkt sein, sie schleicht im Dunkeln. Sie verbreitet um sich die Nacht in Gestalt des schwarzen Talars. Es ist ein psychischer Ausschlag; ebenso wie die Tonsur der Katholiken ein psychischer Haarausfall ist, in dem sich der Gedanke ausdrückt, daß der Priester dem Himmel näher steht, als andere Menschen, daß die Seligkeit aller Heiligen sich in ihm widerspiegelt, daß die Offenbarung leichter in seinen Schädel eindringen kann. Sehen Sie, wie kahl mein Kopf ist! Sehen Sie doch? Und ziehen Sie Ihren Schluß! Die Erleuchtung von oben sengt gewissermaßen das Haar fort, und wird sie sehr stark, so kommt es zu einer Ansammlung von Strahlen, zum Heiligenschein.«
Der Vikar hatte schweigend zugehört. Er sah ein, daß er mit seinem Widerspruch die Verwirrung nur vergrößert hatte, und versuchte nun, auf die unsinnigen Gedanken seines Schutzbefohlenen einzugehen. »Sie eröffnen da wirklich eine weite Aussicht für den Forscher und Seelenkünder, und ich werde mich bemühen, diesen Ideen weiter nachzudenken. Mich will aber bedünken, als ob Sie doch noch andere Hilfsquellen herbeileiten müßten. Sie erklären Massenerscheinungen vielleicht richtig, vielleicht falsch, jedenfalls aber eigentümlich. Wie aber stehen Sie zu den Einzelerscheinungen, zu den großen Männern mit ihren ausgeprägten Eigenheiten, ihren merkwürdigen Gesichtern und Gewohnheiten. Ich kann mir denken, daß eine ganz bestimmte Geistesrichtung gewisse äußere Merkmale herbeiführt. Man könnte Nietzsches Schnurrbart aus seinem Willen zur Macht herleiten, Ibsens gesträubte Mähne als Symptom des Zwiespalts zwischen Lebenslüge und Lebenswahrheit nehmen. Aber das alles ist doch nicht Infektion. Allenfalls Krankheit.«
»Autoinfektion ist es, mein Lieber. Pfui über das häßliche Wort. Selbstansteckung also. Wir sind gewöhnt anzunehmen, die Denktätigkeit spiele sich nur in dem Gehirn ab. Das ist aber düstrer Aberglaube, den sich bloß Leute leisten können, die niemals gebissen worden sind. Wenn das Gehirn denkt, so denken die Schnurrbartspitzen mit, ebenso wie die Fingernägel oder die Darmhäute. Das weiß jeder. Zweifellos sind diese Vorgänge einer wissenschaftlichen Forschung zugänglich, und unsere Zeit, die sich so aufgeklärt vorkommt, beweist nur, daß sie noch tief im Aberglauben steckt, wenn sie darüber lacht, daß Menschen mit verschiedenen Seelen verschieden riechen, wenn sie dummstolz behauptet, man könne die Zukunft nicht aus der Hand lesen oder den Charakter nicht aus der Schädelbildung beurteilen. Ein Hühnerauge entsteht ebensogut durch den Druck der Gedanken, wie durch den Stiefeldruck, und die Wissenschaft wird noch so weit kommen, aus der Form der Entleerungen die Gedanken festzustellen, mit denen sich der Mensch am stillen Ort einsam beschäftigte.« Augusts Blick strahlte Begeisterung, als er im selben Moment das Gerät sah, mit dem Agathe vorsorglich seine Zelle ausgestattet hatte. »Sehen Sie, Herr Vikar, solch einen Stuhl, bei uns gemeinhin Nachtstuhl genannt, wird man später Probestuhl der Gedanken nennen. Man wird ihn in allen Gefängnissen aufstellen, um den Geheimnissen der Verbrecher auf die Spur zu kommen. Die Könige werden fremden Staatsmännern Ehrengeschenke damit machen und besondere Spione, mit dem Titel Gedankenriecher halten, um die Pläne der eifersüchtigen Nachbarn zu erforschen. Dann erst wird es eine hohe Politik geben.« Ergriffen von der Tiefe dieser Gedanken hob August die Augen zur Decke und schwieg in ehrfurchtsvollem Staunen über den Reichtum seiner Eingebungen.