Kitabı oku: «Der Seelensucher», sayfa 3

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Dem Vikar schwindelte der Kopf. Mit einer verzweifelten Anstrengung suchte er das Gespräch abzubrechen. »Ich danke Ihnen,« begann er, »für diese unvergeßliche Stunde. Sie gaben mir Eindrücke in die geheimsten Abgründe menschlichen Daseins,« August stand gerade am Probestuhl der Gedanken, »und ich wage es nicht, weiter zu hören, auf die Gefahr hin, ganz überwältigt zu werden. Alles das verlangt stilles Denken und Einsamkeit und die Nacht, die jetzt hereinbricht, wird mir Muße geben, mich in die neuen Ideen einzuleben. Gestatten Sie, daß ich an Ihrem Lager sitzend, Ihren Anregungen nachträume. Sie selbst aber sollten Ihre kostbare Kraft schonen und im Schlaf sich für die wunderbare Verwandlung stärken.«

August lächelte zufrieden. Er dozierte sitzend weiter: »Mein Hirn ist in Gärung, das weiß ich, und ich erkenne dankbar Ihre Fürsorge an. Wer, wie ich, berufen ist, Großes zu leisten, darf nicht leichtfertig mit seinem eigenen Menschen umgehen. Gestatten Sie mir nur, meine Ideen kurz abzuschließen. In dieser Wirkung des Gedankens auf den Bau des Körpers haben wir wohl den besten Weg, das ganze Phänomen der Ansteckung zu studieren. Denn um Ansteckung handelt es sich dabei. Der Gedanke, die Scham verletzt zu haben, steckt die Wangengefäße der Frau an, so daß sie sich mit Blut füllen. Die Idee der Vasallentreue durchseucht den Menschen Bismarck so, daß er das Ansehen einer Dogge bekommt. Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Für den tiefsinnigen Forscher, namentlich wenn er solche Erfahrungen machte wie ich, handelt es sich vielmehr darum, zu ergründen, welche körperliche Ansteckung bei großen Männern bestimmte geistige Richtungen hervorgebracht hat, in welchem Zusammenhang beispielsweise Goethes Dichtkunst zu den Pocken steht, die er als Knabe durchmachte. Man wird von jetzt an ganz anders das Leben unserer Geistesfürsten durchforschen müssen, viel genauer.« Bei diesen Worten gab August einen allgemein menschlichen Beweis, wie solch Durchforschen zu denken sei, klappte den Deckel zu und legte sich wieder hin. »Der Schnupfen, den ein Kind durchmacht, hat wahrscheinlich mehr Bedeutung als ein Schulunterricht, ja man wird das Rätsel eines kantischen Verstandes eher durch ein Studium seiner Nasenschleimhäute, als durch das Lesen seiner Werke lösen. Nur müßte dazu jeder Mensch, dessen Geist durch eine Ansteckung verändert worden ist, mittelst eines besonderen Zeichens kenntlich gemacht werden, damit sich das Studium nicht zu sehr zersplittert, noch mehr aber, damit er sich seines hohen Berufes stets bewußt bleibt. Ich habe in der Muße, die mir meine Schwester gegönnt hat, darüber nachgedacht, welches Symbol ich selbst erwählen soll. Mir fiel dabei dies in die Hände.« August holte unter der Bettdecke eine Streichholzschachtel hervor und öffnete sie behutsam. »Sehen Sie, das ist der letzte Feind, den ich hingerichtet habe. Ich dachte daran, ihn von Rubinen umgeben auf schwarzem Grunde fassen zu lassen und als Ring zu tragen, gleichsam als Devise: Durch Nachtkampf zum Lichtsieg. Was meinen Sie dazu? Dies wäre noch mehr als Goethes Seelensucher und Agathe würde sich darüber ärgern. Die Wanze als Symbol der Schlacht in der Finsternis, der Rubin als Wahrzeichen des strahlenden Scharlachsieges.«

Der Vikar seufzte. Gelang es ihm nicht, das Scharlachwanzengespenst zu bannen, so war beider Nachtruhe verloren.

»Halten Sie ein, Herr Müller,« bat er. »Die neue Lehre, die Sie mir gaben, erfüllt all mein Wesen und ich bin nicht mehr fähig, irgend etwas anderes zu denken. Wenn Ihr rastloser Geist weiter schweift, gönnen Sie mir Ruhe, mich zu fassen.«

August schob ruhig seine Streichholzschachtel zu, drückte dem jungen Freunde die Hand und sagte: »Sie haben Recht. Ich darf den ersten Schüler, den ich finde, nicht erdrücken. Gute Nacht denn, für heute.« Damit wandte er sich um und schon in der nächsten Minute hörte der Vikar an seinem Schnarchen, daß er schlief.

Paul Ende wischte sich den Schweiß von der Stirn. Halb mitleidig, halb ängstlich beobachtete er den Schlafenden, immer gewärtig, daß er erwachen und dann in Tobsucht ausbrechen werde.

So saß er eine Stunde geduldig da. Allmählich aber, als es im Zimmer stockfinstre Nacht wurde, überschlichen ihn allerlei andere Gedanken und umspannen ihn mit Träumen. Ihm war, als ob er auf der Kanzel stehe um zu predigen, als er jedoch die Hand zum Segen hob, sah er, daß um den Finger eine blonde Locke gewickelt war. Er wollte sie abstreifen, da klang die Locke wie springendes Glas und eine Mädchenstimme tönte an sein Ohr: Herr Vikar. Zweimal machte er den Versuch. Beim dritten Male erwachte er und hörte nun deutlich, daß Alwine vom Garten her nach ihm rief. Gleichzeitig vernahm er, wie ein Steinchen gegen das Fenster anflog. Er erhob sich, sah noch einmal vorsichtig nach seinem Schützling und eilte dann zu dem Balkon.

Wirklich, unten auf dem Rasen sah er ein weißes Kleid schimmern. Als er die Tür hastig aufriß, wollte es das Schicksal, daß Alwinchen gerade einen neuen Stein nach oben warf. Fast hätte er den würdigen Geistlichen mitten in das Gesicht getroffen, aber er wich noch glücklich aus, freilich weder ihm noch allen anderen zum Heil, wie der Verlauf dieser Geschichte zeigen wird. »Warte, du loses Ding,« sagte er zu sich; ohne die Frage des Mädchens nach ihres Onkels Befinden zu beantworten, stieg er über das Geländer des Balkons hinweg und ließ sich an dem Weinspalier geschickt zu Boden gleiten.

7. Kapitel.

August Müller stirbt.

Es muß unentschieden bleiben, ob er dabei wirklich, wie seine Worte vermuten ließen, im Sinne hatte, sich an dem Mädchen zu rächen, auch welcher Art diese Rache sein sollte. Denn das vorwitzige Fräulein sah kaum die Gestalt am Weinspalier herunterklettern, als es erschreckt über die zu ausgiebige Wirkung ihres Anbändelns in das Haus flüchtete. Verdutzt stand Ende in dem leeren Garten. Mit ein paar Sprüngen erreichte er die Haustür, aber sie war fest verschlossen. Es blieb ihm nichts übrig als der Rückzug, und er ahnte, daß auch der einige Schwierigkeiten haben werde. Denn im Hinabgleiten hatte er wohl bemerkt, daß das Spalier unter seinem Gewicht nachgegeben hatte. Während er verdrossen die Stangen prüfte, ob er sich ihrer Festigkeit noch einmal anvertrauen solle, bemerkte er, daß ihm der Rückweg überhaupt versperrt war. Die Glastür, die er vorhin geöffnet hatte, war jetzt verschlossen, und bei dem matten Schein, der aus dem Zimmer drang, sah er, daß August Müller nicht mehr im Bette lag, sondern hastig im Zimmer auf und ab ging.

Verärgert schaute er nach oben. So lange der Kranke wach war, konnte er nicht wieder hinaufsteigen, ohne sich Erörterungen auszusetzen, die bei der Verrücktheit seines Gegners ihn leicht in die lächerlichste Lage bringen konnten. Er beschloß also zu warten und da das Stehen im feuchten Grase seinen jungen Gliedern nicht sehr verlockend erschien, setzte er sich auf eine Gartenbank, von der aus er das erleuchtete Fenster Augusts im Auge behalten konnte. Auf dieser Bank nun überfiel ihn der Teufel in Gestalt des Schlafs. Die Augen sanken ihm und er erwachte erst von der Kälte kurz vor Sonnenaufgang.

Halb noch im Traum reckte er seine steif gewordenen Glieder, wunderte sich über das seltsame Lager, auf dem er ruhte, und erst allmählich kam ihm zum Bewußtsein, wie er hierher gekommen war. Beschämt fuhr er empor. Er, der Geistliche, den die beiden Frauen im vollen Vertrauen als Wächter bei dem Kranken zurück gelassen hatten, hatte seine Pflicht sträflich vernachlässigt, war auf Liebesabenteuer ausgegangen, und schließlich hatte er die Wache verschlafen.

Was mochte inzwischen geschehen sein? Das Licht in Augusts Zimmer brannte noch. Eilig ging er zu dem Balkon hin. Die Tür oben stand weit auf. Von Müller war nichts zu sehen. Wahrscheinlich lag er also im Bett. Aber wunderlich war es, daß das Spalier jetzt vollkommen zerknickt und heruntergerissen war. Der Vikar hatte nicht geglaubt, daß die Verwüstung so schlimm gewesen wäre. Die Finsternis der Nacht mußte ihn getäuscht haben, während der anbrechende Tag jetzt alles in klarem Licht erscheinen ließ.

Gott sei dank stand die Leiter in der Nähe, mit der Agathe den Balkon zu ersteigen pflegte. Rasch hatte er sie angelehnt, war hinaufgestiegen und schlich auf den Zehen in das Zimmer. Im nächsten Augenblick stürzte er schon mit der vollen Wucht seines Körpers gegen die Korridortür mit ihren Eisenstangen. Das Zimmer war leer, der Kranke verschwunden. Der arme Vikar schlug geängstigt mit den Fäusten auf die bretterne Wand los, die ihn von den Hausbewohnern trennte, und rief mit lauter Stimme abwechselnd: »Frau Willen, Frau Willen! Fräulein Alwine, Alwine!« In dem gegenüber liegenden Zimmer saß währenddessen Alwine mit schreckensbleichem Gesicht und zitternden Gliedern aufrecht in ihrem Bett und horchte auf das Geschrei, das zu ihr drang. Als immer von neuem ihr Name gerufen wurde, sprang sie auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und eilte zu der Mutter. Auch die war schon durch den Lärm geweckt, halb angekleidet trat sie gerade aus der Tür.

»Alwinchen,« rief sie jammernd, »Alwinchen, der Onkel tobt wieder. Erschrick nur nicht. Ich werde ihn schon zur Ruhe bringen. Geh doch und leg dich schlafen.«

»Ach Mutter, hör' nur, es ist gar nicht der Onkel, es ist der Vikar. Der arme Paul! Wenn der Onkel nur nicht tobsüchtig geworden ist.«

Agathe hörte nur halb. »Er mordet ihn, er mordet ihn!« schrie sie und lief den Korridor entlang, was sie laufen konnte, das Töchterchen hinterher, sich ängstlich an der Mutter Rock klammernd.

»Frau Willen, öffnen Sie, um Gottes willen öffnen Sie,« schrie es ihnen durch die Tür entgegen.

»Ja, ja, nur einen Augenblick noch. Nehmen Sie alle Kraft zusammen, Herr Vikar, halten Sie den Wütenden fest! Wehren Sie sich! Ich komme zu Hilfe. Seine eigene Schwester wird er ja nicht erschlagen.«

Die Tür ging auf und der Vikar fiel in die ausgebreiteten Arme Agathes, die in der einen Hand wurfbereit eine Flasche mit kaltem Wasser hielt. »Wo ist er?« rief sie. »Fürchten Sie sich nicht, Herr Vikar! Wo ist der Wüterich?« und ließ die Augen durch das Zimmer schweifen, während sie den Arm mütterlich schützend um den jungen Mann schlug.

Der Geistliche wäre am liebsten in ein Mauseloch gekrochen, so schämte er sich. Kleinlaut stammelte er: »Er ist fort.«

Agathe erstarrte in der Stellung, in der sie gerade stand und wahrscheinlich wäre sie so als ewiges Wahrzeichen des schrecklichen Augenblicks, gleich Loths Weib versteinert, wenn nicht Alwine, gereizt durch den Anblick des verfrorenen und zerschundenen Vikars in den Armen ihrer sprachlosen Mutter in ein Gelächter ausgebrochen wäre.

»Was hast du zu lachen, dummes Ding,« rief sie in vollem Zorn, und ehe sich's Alwinchen versah, hatte sie eine feste Ohrfeige erhalten. Ohne sich weiter um das weinende Kind zu kümmern stürzte Frau Agathe vorwärts nach dem Balkon. »Was sagen Sie? Fort ist er?« sagte sie dabei und in den leeren Garten schauend begann sie wieder: »Fort? Aber wie ist das möglich? Haben Sie geschlafen, Herr Vikar?«

Der Pastor Breitsprecher hatte vor einiger Zeit zur großen Entrüstung einiger älterer Damen von dem Vikar gesagt, er besitze noch nicht die nötige moralische Reife zum Prediger. Das, was Paul Ende jetzt tat, gab den Beweis, daß der würdige Pastor Recht gehabt hatte. Der Vikar log.

Hätte er Frau Willen allein gegenüber gestanden, er hätte sicher sein christliches Gemüt vor schwerer Sünde gerettet. Aber das schöne Kind dort, mit dem aufgelösten langen Haar, das eben seinetwegen eine Ohrfeige erhalten hatte und nun gar reizend aussah, wie es sich weinend die brennende Backe rieb, durfte er nicht in den Verdacht bringen, als habe es mit ihm ein Stelldichein gesucht oder gar gehabt.

Mit fliegenden Worten erzählte er, wie er mit dem Kranken auf dem Balkon gestanden habe, wie er ihm den letzten Feind in der Streichholzschachtel gezeigt habe, wie der Feind, diese kostbare Reliquie in den Garten hinabgefallen sei, und wie er selbst Herrn Müller zu Gefallen am Weinspalier sich hinabgelassen habe, das Kleinod zu suchen. Dann zur Wahrheit zurückkehrend, berichtete er, wie ihm der Rückzug abgesperrt ward, und er auf seinem Beobachtungsposten eingeschlafen war.

Die moralische Verderbtheit des angehenden Geistlichen kam jetzt deutlich zum Vorschein, denn statt zu bereuen, freute er sich in sträflicher Weise über das Lächeln, mit dem Alwine, mitten aus ihren Tränen heraus, für seine Diskretion dankte. Er hätte in diesem Augenblick das Dasein Gottes verleugnet.

Glücklicherweise wurde das nicht von ihm verlangt, denn Agathe hatte mittlerweile bei der immer noch brennenden Lampe ein Kuvert mit ihrer Adresse entdeckt. Das nahm sie auf, ehe sie es aber erbrach, löschte sie mit den Worten: »Welche Verschwendung!« die Lampe. Im nächsten Augenblick beugten sich drei Gesichter, das alte, zornrote Agathes, das von dem Weinstock zerschundene des Vikars und Alwinchens mit der geschwollenen Backe, über die Blätter, auf die August Müller seine Abschiedsworte niedergeschrieben hatte.

Das erste Schreiben lautete wie folgt:

»Mit der Mitternachtsstunde des 24. zum 25. . . . . . starb in mir der Mensch August Müller. Kraft mir innewohnender heiliger Gewalt tilge ich den Namen und das Andenken dieses Toten für ewige Zeiten.«

Das Zweite enthielt die Worte:

»In der Wende der Nacht zum Tage schuf ich mich zu einem Menschen um, dessen Name soll sein Thomas Weltlein, zum Zeichen, daß er empfangen und geboren ward vom Zweifel, der allein der Welt Leben gibt.«

Agathe entfaltete das dritte Schreiben und las:

»Bis zu dem Augenblick, in dem ich diese Worte schreibe, glaubte ich noch nicht an mich selbst und an meine Kraft. Daß ich ruhig und unbewegt von dir scheiden kann, beweist mir: das Leben, wie ich es lebte, liegt hinter mir, unter mir. Mit allem was war, habe ich nichts zu schaffen, mein Werk gehört dem, was wird, dem Tag, der mich auf den Flügeln der Morgenröte hinwegführt, im Kopf den Zweifel, im Herzen die Welt. Gedenke des Toten! Hoffe des Lebenden! Thomas Weltlein.«

Agathens Stimme versagte, und der Vikar nahm ihr hilfreich die Rolle des Vorlesers ab:

»P. Scr. Zum Gedächtnis des Sterbens und als Zeichen der Wiedergeburt hinterlasse ich dir den letzten Feind. Er war es, der mich gesund biß. Die Streichholzschachtel, in der er ruht, vertauschest du wohl gelegentlich mit einer würdigeren Grabstätte. Fahr wohl! Hoffentlich hast du die Spalierstangen gut befestigt, so daß ich beim Klettern nicht falle.«

Als der Vikar noch das vierte Schreiben öffnen wollte, fiel sein Blick auf Agathe, die sich krampfhaft an der Stuhllehne festhielt. Er warf den Zettel zur Seite, um sie zu stützen. Alwine fing ihn auf und überflog ihn. Eine tiefe Röte stieg ihr in das Gesicht. Ehe sie jedoch den Mund öffnen konnte, sank die Mutter mit dem Ruf: »Er ist verrückt,« ohnmächtig zusammen.

Niemand erfuhr, was in dem letzten Brief stand, denn während die beiden jungen Leute die bewußtlose Frau zu Boden gleiten ließen, war das Blatt verschwunden.

8. Kapitel.

Thomas Weltlein begegnet dem Sein, dem Werden und dem Fittich der Tat.

Der umgetaufte Thomas Weltlein ahnte nichts von der Verwirrung, die er hinter sich gelassen hatte. Barhäuptig, mit geballten Fäusten eilte er die Landstraße entlang. Von Zeit zu Zeit öffnete er die rechte Hand und blickte nachdenklich auf den Gegenstand, der darin verborgen war. Es war das Steinchen, mit dem Alwine ihn unsanft aus dem Schlaf geweckt hatte. Noch ganz befangen von der Erinnerung an das Gespräch über die innere und äußere Ansteckung hatte er seinen neuen Namen gewählt. Die beiden Worte Thomas Weltlein sollten ihn weiter umschaffen, ihn immer und immer an den hohen Beruf erinnern, zu dem er sich berufen glaubte. Man sieht daraus, wie wenig er selbst noch seiner Verwandlung traute. Und jetzt sann er auf ein weiteres Mittel, seinem unsichern Geist von außen nachzuhelfen.

Er wollte sich ein Symbol seines Wesens schaffen, ein Wahrzeichen dessen, wozu ihn das Wanzenwunder rief. Dieser runde Kiesel, über dem sich seine Finger so leicht öffneten und schlossen, konnte die Erde bedeuten. Dieser Gedanke gefiel ihm, und er lachte freudig auf.

War das die Welt, so war er nicht mit der Nase dagegen gerannt. Nein, sie hatte sich ihm als Eigentum entgegengeworfen, hatte wohl gar absichtlich die hervorragende Stelle seines Gesichts getroffen. Warum sollte ein Stein nicht Absichten haben? Warum sollte nicht bewußtes Leben in ihm wohnen? Die Eitelkeit des Menschen hat den Unterschied zwischen Leben und Totsein erdichtet. Gab es einen Gott, so dachte er allein, und der Stein war ebensogut ein Werkzeug seines Willens wie der Verstand eines Genies. Gab es aber denkende Menschen, so war nicht einzusehen, warum es nicht auch denkende Steine geben sollte; dieser Stein hier dachte gewiß. Er hatte sicher selbst den empfindlichen Platz ausgesucht, den er treffen wollte. Er, Thomas, mußte der Nase nachgehen, hieß das, unbekümmert um Menschenlob und Tadel.

Der Schmerz an der Nase erwachte von neuem, und hastig fuhr Weltlein mit der linken Hand empor, um den Schaden zu reiben. Mitten in der Bewegung jedoch hielt er inne, ja es ging eine so plötzliche Wandlung mit ihm vor, daß er eilig stillstand. Etwas Scharfes, Spitzes war ihm über das Gesicht gefahren, und als er die linke Faust öffnete, sah er darin eine halbverdorrte Weinranke. Sie war ihm, als er beim Hinabklettern mit dem Weinspalier zusammenbrach, zwischen den Fingern geblieben, und er hatte sie, ohne darum zu wissen, in der krampfhaft geballten Hand die ganze Zeit über mitgeschleppt.

Wie ein Blitz durchfuhr es ihn: das ist das Symbol; die Rebe, das alte Sinnbild des Wachsens, der Wandlung und der Auferstehung, der Träger heiligen Rausches, das Werkzeug eines welterobernden Gottes. Mit den Blättern des Weinstocks mußte er sich kränzen, sie als mahnenden Schmuck um das Haupt flechten.

Triumphierend hob er den Arm, um die halbwelke Zierde um die Stirn zu legen, da fiel ihm ein Wort ein, das ihm die Stimmung störte. Schade, ewig schade, daß hier kein Spiegel in der Nähe ist, sprach er leise vor sich hin. Dann lachte er gutmütig über sich selbst, streckte die Arme aus und blickte abwechselnd auf den Stein und die Blätter. Ein wehmütiges Gefühl stieg in ihm auf, fast wie die schmerzliche Erkenntnis seines verrückten Zustandes. Aber mit einer starken Anstrengung scheuchte er die Wahrheit davon und immer auf den Stein und die Blätter starrend, steigerte er künstlich seinen Schmerz höher und höher, bis ihn eine krankhafte Frömmigkeit überwältigte.

»Höre mich, Herr, höre mich, dämmernder Himmel, der du der Sonne harrst! Gib mir ein Zeichen, daß ich es trage zu deinen Ehren, zum Ruhm des Lichts! Siehe, in meinen Händen halte ich den Witz der ganzen Menschheit, das Sein und Werden liegt mir zwischen den Fingern, die Enden aller Philosophie aller Jahrtausende. Du weißt es, Himmel: was sie auch ersonnen haben, in der Mitternachtsstille oder bei der schwälenden Lampe, sie sind nie weiter gekommen als bis zum Sein und Werden. Sie haben auch nie zwischen beiden entschieden. So entscheide denn du! Laß mich nicht in Zweifel stehen, ich gleiche sonst zu sehr dem Esel zwischen den Heubündeln. Du hast ja die Helden geliebt und ihnen Adler zur Rechten und Linken gesandt. So gib auch mir ein Zeichen, daß ich das Rätsel löse.«

Er ließ die Arme sinken und fuhr fort: »Hier ist das Sein« – er legte Alwinens Stein sorgfältig auf die Erde – »und hier das Werden,« die Weinranke fand ihren Platz daneben. »Jetzt werde ich zwanzig Schritte zurückgehen und dann mit geschlossenen Augen wiederkommen. Was ich zuerst erblicke, wenn ich die Augen öffne, das soll mir heilig sein.«

Er richtete sich auf und blickte umher. Von dem Hügel, auf dem er stand, blickte er weit in die dämmernden Lande. Beinahe hätte er über den lockenden Anblick seine Absicht vergessen. Rasch aber raffte er sich zusammen, winkte dem Himmel zu und rief: »Paß auf, alter Heidengott, und mach es gut!« Dann ging er langsam seine zwanzig Schritte, schloß die Augen und kehrte laut zählend zurück. Bei zwanzig hob er den Blick. Aber statt des Seins und Werdens sah er am Ende der Welt die Sonne aus der Erde steigen. Mit einem Freudenruf streckte er die Arme aus, warf sich auf die Knie und jubelte dem aufgehenden Gestirn zu.

»Bist du es, große Sonne? Gibst mir dich selbst, mir, deinem Kinde. Bist du das Zeichen, in dem ich siege? Große Sonne, wie liebe ich dich. Du bist heiliges Licht.«

Er kreuzte die Arme über die Brust und beugte den Kopf nieder. Sofort aber fuhr er empor. »Das ist empörend,« rief er. »Ich bete die Sonne an und zum Dank zeigt sie mir Sein und Werden zu gleicher Zeit. Verfluchter Stein, verfluchter Wein! Was soll ich wählen?«

Er raffte wütend die beiden Symbole auf, da sah er halb im Straßenstaub vergraben eine Feder liegen, die irgend eine alte Krähe dort abgeworfen hatte. Mit ernstem Blick betrachtete er sie, hob sie andächtig empor und der Sonne zunickend sagte er freudig: »Du verlässest keines deiner Kinder, alter Weltfahrer. Du lachst über das Sein und Werden und bestrahlst den Fittich der Tat. Und du hast Recht. Fort mit dem Sein« – er steckte den Kiesel in die rechte Hosentasche – »fort mit dem Werden« – die Weinranke verschwand in die linke Hosentasche – »ade, Philosophie der Griechen und Inder; die Tat ist alles, das Denken nichts. Das wußten schon andere vor dir, Thomas. Aber Dank, Sonne, daß du mich's gelehrt!«

Freudig hob er die Krähenfeder vor das Auge und guckte zwischen dem Flaum in die Sonne. »Du sollst mich tragen zu hohen Höhen. Auf Flügeln will ich dir dienen, ewiges Licht. Schön bist du Welt, liebenswert schön.« Die Rührung überwältigte ihn; er fühlte den unwiderstehlichen Drang irgend etwas zu umarmen und im gewaltigen Druck seine gespannte Seele zu befreien. Um die Hände frei zu bekommen, steckte er die Feder in den Mund, breitete die Arme aus und schritt in Verzückung auf den nächsten Baum zu.

9. Kapitel.

Der Lumpenwilhelm und Agathes Uhr.

»Guten Morgen auch,« tönte es neben ihm. Das Weltlein fuhr sehr rasch herum, öffnete den Mund, um den Gruß zu erwidern und ach, der Fittich der Tat sank langsam flatternd zu Boden. Der arme Thomas aber starrte verwundert auf die krumme Gestalt eines alten Fuhrknechtes, der seinen Wagen führend, ihm gegenüber stand, die Peitsche zwischen die langen Beine geklemmt, deren eines seltsam steif gehalten wurde. Mit den hohlen Händen schützte er das schwälende Streichholz, mit dem er eben die Pfeife anzünden wollte.

Thomas suchte mit dem Blick nach seiner Feder. Sie lag vom Morgenwind verweht im Schmutz der Straße neben dem struppigen Gaul, der mit dem dicken Kopf nickend tiefsinnig das Symbol des Höhenfluges betrachtete. Weltlein hob wehmütig sein Heiligtum hoch. Kaum gefunden, schon verloren. Was sagt, Ihr Götter, dies Zeichen? Lähmt Ihr die Schwinge schon jetzt, noch ehe sie entfaltet war? So fahre dahin und harre des, der dich würdiger führt.

Eben wollte er die Feder fliegen lassen, da griff der Fuhrmann danach, nahm sie und stach mit dem spitzen Kiel in die Pfeife, den Tabak zu lockern. »Die mußt du mir schenken, hörst du. Die kann ich für den Pfeifenschmirgel brauchen.« Der Kerl hob seinen langen blauen Kittel hoch und versenkte seine Eroberung in eine riesige alte Ledertasche, aus der eine abgebrauchte Wichsbürste und ein zerrissener Straußenfächer hervorragten. Dann sah er mit seinen kleinen schlauen Augen sein Gegenüber an.

»Du denkst wohl auch, der Baum da ist die Penne zum roten Apfel, wo sie dich heute Nacht herausgeschmissen haben. Aber wenn du 'nen Schnaps brauchst, bist du bei mir besser aufgehoben. Willst du mitfahren?«

Weltlein war im ersten Moment von der vertraulichen Anrede ganz überrascht und, die Wahrheit zu sagen, sogar empört, aber noch ehe er dazu kam, seine Würde zu offenbaren, fiel ihm ein, daß eine Schicksalsfügung vor ihm stehen könne. Er beschloß, sie auf sich zu nehmen. »Wenn da Platz ist,« sagte er, »ganz gern.«

»Dann steige nur auf! Platz ist schon, ich fahre nach Griesbach Lumpen holen, kann auch einen mitbringen; das geht in einem hin.«

Thomas stand schon mit einem Beine auf dem Rade. Die neue Dreistigkeit brachte jedoch seine Geduld ins Wanken. »Wofür halten Sie mich,« fragte er sehr von oben herab.

»Na, na, machen Sie sich man nicht dicke. Was Sauberes sind Sie schon mal nicht. So 'ne Hosen, wie diese Hosen lägen besser hinten im Lumpensack, als daß Sie Ihre schönen Beine zeigen, und das Gesicht, das Sie machen, könnten Sie auch erst waschen, ehe Sie hier Freundlichkeiten mit Grobigkeiten und Siezereien gut machen. Und nun runter hier mit dem Bein, sonst –« Er hob drohend die Peitsche.

Also kräftig gemahnt prüfte Herr Weltlein zum ersten Male seit seiner Verwandlung seinen äußeren Menschen. Wahrhaftig er sah aus wie ein echter Stromer. Er hatte sein Jagdkleid an, das in manchem Kampf durch Schwefelsäure und Petroleum arg verwüstet war, und zum Überfluß hatten Agathes Spalierstangen noch ein großes Dreieck aus den schadhaften Beinen herausgerissen. Es sah schon arg aus, das mußte wahr sein, und wenn sein Gesicht auch einige Schattierungen lichter sein mochte als seine Hände, schmutzig war es gewiß. Rasch gefaßt streckte er die schmierige Hand dem Lumpensammler entgegen und lachte.

»Recht hast du, Bruder,« sagte er. »Ein echter Lump bin ich und gehöre zu dir. Müde bin ich auch, so nimm mich mit; sollst auch etwas dafür zum Lohn haben.« Er suchte in den Hosentaschen herum, fand jedoch nichts als das Sein und Werden und seine goldene Uhr, die er wie gewöhnlich ohne Kette mit sich trug. Diese gänzliche Armut erschreckte ihn, und jetzt erschien es ihm plötzlich dringend nötig, so rasch als möglich in die Kreisstadt zu kommen, um dort bei seinem Bankier und Freunde Geld zu erheben. Der Lumpenkarren mußte ihn mitnehmen. Das war beschlossene Sache.

Er zog die Uhr hervor und sagte: »Siehst du, hier habe ich etwas, das ist gut für die Fahrt, nicht wahr? Die versetze ich in Griesbach, und wenn du mich bis dorthin mitnimmst, bekommst du dein Teil.«

Der Lumpensammler kniff das rechte Auge zu und pfiff schneidend zwischen den Zähnen. »Man rauf,« sagte er, »mir ist's recht«.

Die Beiden nahmen nebeneinander Platz und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Seit die Uhr zum Vorschein gekommen war, fühlte der Lumpensammler eine merkwürdige, stets wachsende Freundschaft zu seinem Kameraden. »Nun wollen wir es uns bequem machen,« sagte er. Aus der Tiefe seiner Ledertasche brachte er den versprochenen Schnaps hervor, dazu ein Stück Brot und eine Knackwurst, die er brüderlich mit Thomas teilte.

Der saß vergnügt, gleichzeitig seinen Hunger und sein Verlangen nach der Weltanschauung eines Lumpensammlers zu stillen, auf einem alten Sack, ließ die Beine auf die Deichsel hinabbaumeln und hieb wacker ein. Ihm war so froh zumute, als ob er niemals etwas anderes gekannt hätte als dieses gemächliche Vagabundenleben. Schon war die Wurst verschwunden. Bevor er jedoch den letzten Bissen Brot in den Mund steckte, hielt Thomas tiefsinnig inne.

»Wie wenig bedarf doch der Mensch,« sagte er, »wie glücklich ist er, wenn er nichts besitzt! Glaube mir, Freund: das Schlimmste, was dem Menschen begegnen kann, ist, etwas sein eigen zu nennen. Wo das Gold zum Tore hineinzieht, da kriecht die Sorge hinterdrein durch das Schlüsselloch. Verschenke, was du hast, das ist die tiefste Lebensweisheit. Gewiß, man muß seine Blöße decken und dem Magen etwas zu tun geben. Aber eine zerrissene Hose genügt, und ich muß sagen, dieses Stück Brot hat mir so gut geschmeckt wie –«

»Wie ein fetter Hammel,« fiel der Gefährte. ein. »Aber ein Schnaps ist auch nicht zu verachten; trink aus, alter Onkel!« und damit reichte er dem Redner die Flasche.

Thomas ließ sich nicht aus seiner feierlichen Stimmung bringen, beide Hände auf die Knie gestützt, in der einen die Brotrinde, in der anderen den Schnaps, saß er da und blickte ernst in das Land. »In solchen Augenblicken,« fuhr er fort, »empfinde ich ganz die Wahrheit der göttlichen Lehre: Selig sind die Armen. Wenn ich bedenke, welch ein Gefühl der Zufriedenheit mich jetzt durchströmt, hier mitten zwischen den Lumpen, die die Menschen achtlos auf den Kehricht werfen, so danke ich dem Himmel, der mich so weise geführt hat. Ich habe da vorhin in deiner herrlichen Tasche, die mir jetzt wie die Quelle aller menschlichen Einsicht erscheint, eine Wichsbürste gesehen. Welch ein Haufen Sorge steckt selbst in einem so einfachen Werkzeug. Da gibt es Menschen, die ihr Leben damit zubringen, als Bürstenbinder oder Arbeiter in irgend einer Fabrik Borsten in Holz zu kleben, bloß damit Wichse auf Stiefel geschmiert werden kann. Ich bitte dich, hat dazu der liebe Gott Menschen geschaffen, damit sie Tag ein Tag aus nichts anderes denken und empfinden als Borsten? Nimm nur die vielen Flüche, die feine Herren gen Himmel schleudern, weil ihnen der Hausknecht die Stiefel nicht blank genug putzte. Nimm den ehelichen Zwist, der schon am frühen Morgen den heiteren Frieden häuslichen Glückes stört, weil die Magd nicht rechtzeitig das Schuhzeug brachte. Betrachte die Damen auf der Straße, mit welcher Sorgfalt sie um die Pfützen herum gehen, damit ihre glänzende Fußbekleidung ja kein Fleckchen treffe. Mit der Hälfte dieser Mühe, auf edle Zwecke gerichtet, könnte eine solche Frau ein Geschlecht erziehen, dem nichts unmöglich wäre. Bedenke nur, welch ein Troß dazu gehört, um wirklich reine Schuhe zu haben. Wer das will, der muß Wagen und Pferde besitzen, ein Kutscher muß herbei, und wo ein Kutscher ist, da ist auch eine Köchin und ein Stubenmädchen, da wird denn bald selbst bei den Besten das Wichtigste im Leben, was man essen soll, damit die Köchin doch beschäftigt sei, wie man dem Mädchen es angewöhnt, zierlich Tassen zu reichen, wie man das gute Porzellan vor ihren mörderischen Händen schützt. Der Blick der Mutter, der die Seele des Kindes ist, fliegt in alle Ecken um Staub zu suchen, das Auge des Vaters, das den Kindern voranleuchten sollte, späht gierig nach Gelegenheiten, Verdienst zu schaffen. Warum? Weil es Wichsbürsten in der Welt gibt. Ist es nicht viel besser, wie wir es haben, du und ich, wir mit unseren schmutzigen Stiefeln? Auf den Kehrichthaufen gehört die Bürste; da erst ist ihr Platz. Glaube mir, das größte Unglück des Menschen ist der Besitz.« Er hielt inne und steckte die Brotrinde in den Mund.

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