Kitabı oku: «Henriette Jacoby», sayfa 4
Minchen tat recht daran. Denn wie so oft in diesem Leben: Minchen und Eli stritten sich einfach um Worte, Im Grunde ... im Grunde nämlich stimmten sie beide in allem, was sie dachten und sagten, ganz und gar überein.
Also waren – während alle Welt sich in Erregung befand – die, die am nächsten betroffen wurden, ziemlich ruhig.
Ach so, ich vergaß von Jettchen zu erzählen, von Onkel Jason und von Doktor Kößling.
Stosch war am Abend noch dagewesen, aber da Jettchen schlief, sagte er, das wäre besser für sie, er wolle nicht stören. Als er dann früh wiederkam, beklopfte und behorchte er Jettchen; und als Jason ihn fragte, sagte er, es fehle der jungen Frau wohl gerade nichts, aber sie sei mit dem Herzen nicht recht in Ordnung.
»Zu dieser Diagnose, Herr Rat«, sagte Jason, »hätte ich Sie nicht gebraucht.«
Aber der alte Herr war in seinem Beruf nicht für Scherze, und er brummte nur etwas von Schonen, Pflege, keine Aufregungen und etwas Ruhe. Dabei sollte sie aber nicht liegen, sondern tun, als ob ihr gar nichts fehle. Darüber, daß er Jettchen bei Jason traf, und über alles, was sonst geschehen war, verlor der alte Stosch kein Wort.
Jettchen war früh erwacht, und es hatte eine Weile gedauert, bis ihr alles wiederkam, was sie erlebt hatte. Und jetzt erschien es ihr in ganz anderm Licht. Nicht, daß sie etwa ihre Tat bereut hätte; aber sie wußte nicht ein noch aus und war ganz hoffnungslos. Zu alldem kam auch das Lächerliche, daß sie nun einzig ihr weißes Brautkleid besaß und nichts sonst. Keinen von ihren vielen Morgenröcken in allen Farben, für jeden Monat einen, und keins von ihren Gesellschafts- und Straßenkleidern, nicht das von grünem englischem Tuch und nicht das neue, fliederfarbene Seidenkleid, ja nicht einmal das alte, silbergraue Taftkleid oder das mit den goldenen Kornähren, das sie nun für alle Tage auftrug.
Und Onkel Jason machte Jettchen einen Morgenbesuch, nachdem er Fräulein Hörtel zum Parlamentieren vorausgeschickt hatte, ob er auch angenommen würde. Die Damen des vorigen Jahrhunderts, sagte Jason, pflegten vor dem Lever ihre Empfänge zu halten, und er für seine Person finde diese Sitte im äußersten Maße nachahmenswert, ja, er bedauere aufrichtig, daß sie bei der honorigen Damenwelt leider mehr und mehr im Schwinden begriffen sei. Jason hatte vollkommen seinen alten Ton wiedergefunden, und er plauderte mit Jettchen von hundert Dingen – nur nicht von dem, was gestern gewesen war; nicht einmal von dem, was morgen sein könnte, sprach er. Das schien für ihn nicht zu bestehen. Aber er war Feuer und Flamme für die Einstellung der Jahrbücher; das wäre recht, da zeigte man einmal Mannesmut. Was man wohl oben dazu sagen würde? Das hätte man sicherlich gerade jetzt nicht erwartet; und die besten Namen wären mit dabei. Dann bat er Jettchen, sie solle morgen mitkommen; er hätte einen Platz bei einem Freund in der Breiten Straße, ein Fenster, von dem aus sie den Fackelzug der Studenten sehen könnten. Sie solle es nur tun, damit sie wenigstens etwas vom Reformationsfest hätte. Ganz Berlin werde ja auf den Beinen sein. Aber Jettchen sagte, sie werde vorerst nicht ausgehen. Dagegen eiferte Jason. Gerade müsse sie hinaus, unter die Menschen; sie solle nur nicht glauben, daß sie sich einzuspinnen brauche; sie könne ihren Kopf ebenso hoch tragen wie andere Leute, und sie hätte ihn ja sonst immer so hübsch hoch getragen. Sie würden zusammen ins Theater gehen, und er würde ihr peu à peu alle siebzehn Hohenstaufen-Dramen Raupachs zeigen, die man im Winter geben wollte, oder das neue Drama von Herrn Bart aus Neustrelitz, das sie angenommen hätten. Ob sie Herrn Bart aus Neustrelitz kenne? Schon Name und Vaterstadt bürgten für Genialität.
Während aber Jason vor Jettchens Bett saß, das noch vorgestern sein eigenes gewesen war – ein respektvolles Stück davon, auf einer Ecke der Mahagonibergere mit den großen Bronzerosetten saß –, und nun von da aus eine leichte und etwas gezwungen-graziöse Konversation führte, altmodisch und blumenreich, gleichsam als spiele er die Rolle eines galanten Abbé ... und während Jettchen in all ihrem Kummer doch darüber lächeln mußte und lächelnd das erste Mal die neue Umgebung betrachtete, die ihr jetzt so ganz anders dünkte als früher, in der plötzlich alles ein neues Gesicht hatte und in der jede Lithographie an der Wand, auf der mattgrünen Seide, jedes Porzellanfigürchen in den Servanten etwas von dem Wesen seines Besitzers angenommen zu haben schien ... und während also Jettchen so ganz erstaunt und träumerisch in die weiße Helligkeit blickte, die trotz des grauen Tages draußen durch die tiefen Fenster hereinflutete und alles so blank und peinlich sauber machte: den Tisch, die grünen Sessel, die braunen Schränke mit den goldenen Säulenknöpfen und den vielen weißen und bunten Porzellanen, alles, alles, bis in den letzten Winkel hinein – da, ja da mochte es vielleicht an der Tür gepocht haben, und Jason mochte vielleicht »Herein« gesagt haben, denn plötzlich sah Jettchen das Mädchen von Tante Rikchen, ihr Mädchen von zu Haus, vor sich stehen, mit einem ganz verquollenen Gesicht und rotgeweinten Augen. Und daneben das kleine Fräulein Hörtel mit Augen wie eine Fledermaus. Den großen Wäschekorb zwischen ihnen sah sie, der hoch voll lag von Röcken und Matinees, roten, grünen, weißen, blauen und ganz zart pastellfarbigen.
Und das Mädchen schluckte und schluchzte und sagte: Eine schöne Empfehlung von der Madame Gebert, und hier schicke sie der jungen Madame Jacoby ihre Sachen; und die andern Sachen würden auch noch kommen.
Und Jettchen schluckte und schluchzte und sagte: sie ließe sich vielmals bedanken. Ja, selbst Jason meinte, daß das doch rührend liebenswürdig von der Tante wäre. So viel Takt hätte er ihr gar nicht zugetraut. Aber er vergaß, daß die Tante es nicht sehr selbstlos tat, sondern wohl wußte, daß man mit Speck Mäuse fängt.
Aber nun, sagte Jason nach einer Pause allgemeiner Rührung, nun wolle er sich zurückziehen, da Jettchen für die nächsten fünf Stunden ja hinlänglich Beschäftigung hätte. Und er trete ihr noch die Hälfte seines Reiches ab. Dort in dem großen Schrank dürfe sie allen Raum besetzen, der frei wäre. Ihre Sachen würden sich schon miteinander vertragen. Mit dem andern sonst solle sie sich an Fräulein Hörtel wenden.
Und nach einer Weile schellte draußen Kößling. Er müsse sogleich Herrn Gebert sprechen. Früh am Morgen war er schon einmal dagewesen, um sich zu erkundigen, wie es Jettchen gehe. Aber da schlief noch alles. Und jetzt kam er wieder. Er müsse Herrn Gebert sprechen.
Jason ließ ihn bitten, ganz leise hinter zu kommen in das Arbeitszimmer, trotzdem er eigentlich innerlich starke Bedenken gegen diesen Besuch hegte.
Aber ehe noch Jason dazu kam, irgendwie sein Mißfallen zu äußern, streckte ihm Kößling einen Oktavband mit breitem Lederrücken und schöner Goldpressung entgegen, gerade wie man dem Zerberus einen Honigkuchen zuwirft, und sagte, jetzt habe er's. Und wie billig er es gekauft hätte: kaum zur Hälfte des Preises; nur achtzehn und einen halben Silbergroschen habe er dafür gegeben, und dann sei es noch die erste Ausgabe, und ein purer Zufall habe sie ihm in die Hände gespielt. Was er aber nicht sagte, das war, daß er den ganzen Vormittag umhergelaufen war, von einem Büchertrödler zum andern, bis in die kleinsten und entlegensten Keller in der Neuen Jägerstraße, und daß er endlich nicht achtzehn und einen halben Silbergroschen, sondern einen Taler und fünf gute Groschen gezahlt hatte. Aber das war Kößling der Christian Garve heute wert. Und dann war es ja auch die beste Ausgabe und wie neu. Zu teuer, nein, zu teuer war es eigentlich nicht.
»Nun«, sagte Jason, »da haben Sie ja zufällig, Herr Doktor, einen sehr guten Griff getan. Einen Taler ist das Buch schon unter Brüdern wert.«
Aber Kößling versicherte, daß er es so billig erstanden hätte, und er hoffe, bei dem Mann noch mehr zu finden; denn er wollte sich doch seinen Vorwand nicht nehmen lassen. Und von allerlei Büchern und seltenen Ausgaben erzählte er, als hätte er die Absicht, ja zu verhüten, daß irgendein anderes Gesprächsthema aufgenommen würde.
Trotzdem Jason diese kleine List durchschaute und sich innerlich darüber belustigte, daß die Liebe selbst einen ungelenken Menschen erfinderisch machen kann, so brachte es das Gespräch doch mit sich, daß er bald vergaß, daß es eigentlich nur ein Fintenspiel war. Und trotzdem Kößlings Sinn und Herz eigentlich auch ganz woandershin standen, so machte es der Stoff, daß auch er ganz und gar mitgezogen wurde und das andere fast aus dem Sinn verlor – so daß nun bald die beiden miteinander lustwandelten in ihren gemeinsamen Reichen, in die gottlob das Lärmen, die Wirrnis und die Nöte, die das arge Weibervolk den Männern bereitet, nicht hindringen können.
Jason ging auf und ab an seinen braunen Regalen, zwischen den blanken Lederrücken mit den eingepreßten goldenen Sternchen und den roten und grünen Saffianschildchen. Und einmal bückte er sich, und ein anderes Mal mußte er mit dem Arm ganz hoch hinauflangen, um dies oder jenes vorzuzeigen.
Und gerade war er dabei, seine Goethe-Ausgabe von 1775 Kößling zu zeigen, die von Himburg, und ihn auf die Kupfer aufmerksam zu machen, die er den Rambergschen in der Ausgabe letzter Hand weit vorzöge – trotzdem jene ihnen ja viel näherständen –, als die Tür aufging und ganz leise Jettchen hereintrat. Ganz leise. Denn sie hatte ein paar neue Hausschuhe aus rotem, weichem Leder an, die eigens für ihren Fuß gefertigt waren. Einen von den Morgenröcken trug sie, die man ihr eben gebracht hatte, einen ganz neuen, silbergrauen. Den Hals ließ er frei und auch die weißen Arme bis über die Ellbogen. Und das schwere Haar hatte Jettchen nur aufgesteckt. Eigentlich war sie hintergegangen, um sich Jason zu zeigen und, vor allem, um ihm ein freundliches Gesicht zu weisen und ein paar Worte mit ihm zu sprechen, damit er sehe, daß sie nun ganz wieder die alte sei und er sich etwa keine Sorgen um sie mache. Daß Kößling bei ihm war, hatte sie jedoch nicht vermutet. Für ihn war diese neue Morgentracht auch nicht bestimmt.
So erschrak sie, und Kößling erschrak gleichfalls. Kößling fühlte, daß er jetzt irgend etwas sagen müsse, ihr danken müsse für das, was sie um ihrer beider willen getan hatte. Aber er brachte kein Wort hervor. Und Jettchen fühlte sich plötzlich beengt und verschüchtert und wußte nicht, wie sie sich verantworten sollte. Hier im Licht des Tages lag die gestrige Nacht so fern, daß Jettchen sie in ihrer Kühnheit kaum noch verstand.
»Nun«, sagte Jason und steckte vorsichtig dabei das Buch wieder zwischen die andern an seinen Platz, » den Besuch hast du wohl hier nicht erwartet?«
»Gerade deswegen ist er mir nur desto lieber«, meinte Jettchen und hob Kößling langsam die Hand entgegen.
Der war ganz verwirrt und stammelte etwas von Dank, als er sich auf die Hand niederbeugte.
Jason aber bemerkte plötzlich etwas Wunderbares an seinen Büchern, das ihm noch nie vordem aufgefallen war und das er sich mit höchster Anteilnahme aus nächster Nähe betrachten mußte ... eine ganze Weile lang.
Als er sich aber umwandte, standen die beiden noch an der alten Stelle, und Jason hatte auch nicht gehört, daß sie zueinander gesprochen hätten, und doch war es ihm, als fühlte er deutlich in seiner Hand die beiden Schicksalsfäden, die miteinander verknüpft und verknotet waren, und es war ihm, als wäre es seine Pflicht, sie nur noch fester miteinander zu verschlingen und zu verbinden.
Aber wie so Menschenhände sind – gerade als er glaubte, daß er sie noch dichter und inniger ineinanderflechten würde, lockerte er nur ihre Schleifen und Maschen. Denn er selbst fühlte, wie die beiden sich während seiner Worte voneinander entfernten.
»Wissen Sie, Doktor«, sagte er und drohte Jettchen lachend mit dem Finger, »sie gefällt mir. Ich liebe solche Menschen, die auf eigenen Wegen wandeln. Und wenn sie auch jetzt alle draußen schreien: Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schlimmen Gang – passen Sie auf, es ist für das Diesseits wie für das Jenseits nun einmal so eingerichtet, daß die guten Wege zum schlechten Ende führen und die schlechten Wege zum guten.«
Aber Jettchen schüttelte und Kößling lachte gezwungen.
»Ich habe Ihrem Onkel nur ein Buch gebracht«, sagte er, als müsse er seine Anwesenheit entschuldigen.
Und Jason zeigte es und pries den guten Kauf, während Kößling – froh über seine List – Jettchen zublinzelte, und Jason tat, als merke er es nicht. »Ja«, meinte er, »jetzt mache ich es wie Ritter Blaubart und führe dich hier umher durch mein Schloß. Zu allen Zimmern wirst du den Schlüssel bekommen, Jettchen, alle darfst du betreten, soviel und sooft du willst, nur, siehst du, diese eine Kammer hier ...«, und er wies auf eine Reihe seiner Regale, »hier dieses eine Zimmer meines Schlosses ist dir verboten.«
Kößling überflog die Reihe mit einem kurzen Blick, und als er »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen« sah, wußte er, warum Jason wünschte, daß dieses Zimmer für Jettchen verschlossen bleiben sollte.
Jettchen aber lachte. »Nun«, sagte sie, »die andern Zimmer in deinem Schloß, Onkel, sind ja geräumig genug. Aber eigentlich wollte ich dir nur einen kurzen Gegenbesuch für vorhin machen.« Und damit hatte Jettchen wieder die Klinke in der Hand.
»Ich muß auch zur Bibliothek«, meinte Kößling und griff schnell nach seinem grauen Schlapphut, den er in der Eile auf einen Stuhl gelegt hatte.
»Haben Sie etwas Neues über die Jahrbücher gehört?« fragte Jason im Hinaustreten.
Kößling wußte nichts.
»Schade, ich hätte gern einmal etwas darüber aus Universitätskreisen erfahren«, sagte Jason. »Also ja, dann kommen Sie nur bald wieder einmal auf einen Augenblick zu mir herauf. Ich werde mich immer über Ihren Besuch freuen. Und jemand anders vielleicht ebensosehr. Aber entschuldigen Sie mich jetzt, ich habe ja dem Garve – ich danke Ihnen noch, Herr Doktor –, ja richtig, dem Garve noch nicht seinen Platz gegeben.«
Und damit hinkte Jason wieder ganz schnell zurück, zog die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu und ließ die beiden allein auf dem halbhellen Korridor, der sein kümmerliches Licht nur durch ein paar Türfenster bekam und dämmerig und grau mit seinen paar kleinen goldenen Hockern und seinen paar kleinen goldgerahmten Spiegeln vor den beiden lag.
Eine ganze Weile standen sie einander gegenüber, scheu und verwirrt. Denn das, was bisher ihrer beider Geheimgut gewesen war, das war plötzlich eine öffentliche Angelegenheit geworden, und Sehnsucht und Leiden hatten sich über Nacht in Trotz und Kampf gewandelt; und noch hatten sie sich beide nicht dazu gefunden, und wie etwas Fremdes, Trennendes stand es zwischen ihnen.
»Jettchen«, fand Kößling endlich das Wort, »du liebes Mädchen, du, was hast du alles inzwischen ausgestanden um unsertwillen!«
»Ja«, sagte Jettchen, »das habe ich wirklich. Und am Ende, da wird doch alles vergeblich sein. Gestern, da war es noch möglich und klar, aber heute? – Wenn Onkel Jason nicht noch wäre, ich wüßte ja überhaupt nicht, was ich täte.«
Kößling sprach ihr Trost zu. Es werde schon alles nach ihrem Wunsch gehen; zwingen, mit Gewalt zwingen, könne sie doch kein Mensch. Sie seien doch auch nicht schlecht zu ihr, und er werde schon zu etwas kommen. Zu alt wären sie ja beide nicht, um nicht auf ihr Glück warten zu können.
Dann nahmen sie Abschied zwischen Tür und Angel, umschlangen sich mit langen Küssen, die die Unersättlichkeit des Feuers in sich trugen und die immer mit neuem Sehnen aus den Tiefen ihrer Wünsche stiegen. Aber kaum daß sich die Arme voneinander gelöst, so verschlangen sie sich wieder, als ob sie wie Kettenglieder miteinander verschmiedet werden sollten. Erst als Jason hinten laut nach Fräulein Hörtel rief, huschten sie auseinander, und Jettchen lehnte sich weit übers Geländer draußen und warf Kußhände hinab und lauschte, bis unten die letzten Schritte klangen. Dann schlich sie hinein, müde und zerschlagen. Ihre Füße trugen sie kaum.
Das Leben aber zog weiter; dieser unversiegbare Strom, dessen Wellen nie zurückpulsen, er trieb weiter, und auf die Erregung kurzer Tage kam Ruhe und stetes Dahingleiten, kam das ermüdende Ineinandergreifen von Stunde in Stunde, von Abend in Morgen, von Morgen in Abend. Und keiner trug etwas in Händen, keiner brachte etwas, und jeder machte, ohne daß man es wußte, nur älter und müder.
Wenn Onkel Salomon nur versucht hätte, Jettchen zurückzuholen, sie wäre ja gegangen. Denn das fühlte sie: Dort war ihr Platz, und dort gehörte sie hin. Sie war es gewohnt, zu schaffen und in der Wirtschaft Anordnungen zu treffen. Sie liebte ihre kleinen Sorgen; und hier gab es nichts für sie, und sie sehnte sich tagelang nach ihrem einfachen Zimmerchen mit den Birkenmöbeln und nach ihren Büchern, die sie kannte und wieder las, von dem »Immergrün der Gefühle« bis hinab zu dem Vogelbuch mit dem marmorierten Deckel und den vielen, vielen Sprachfehlern. Hier hatte sie eine ganze Bibliothek, aber es waren doch nicht ihre Bücher. Sie war nur bei ihnen zu Gast geladen.
Wenn noch die Tante Rikchen gekommen wäre und ihr Vorwürfe gemacht hätte, sie hätte schon Worte gefunden, sich zu verteidigen. Und Jettchen legte sich in langen Stunden eine wohlklingende Rede zurecht, in der sie von ihren Herzensrechten sprach und von Liebe und Dankbarkeit und daß sie durchaus alle menschlichen Vorzüge des Vetters Julius anerkenne und gar keinen Haß gegen ihn hege, aber sie könne und könne ihm nun einmal nicht angehören. Und Jettchen war fest der Meinung, daß es ihr gelingen würde, Tante Rikchen auf ihre Seite herüberzuziehen.
Tante Rikchen aber – sie hatte zwar die Sachen geschickt und freundliche Grüße dazu – kam selbst nicht und ließ vorerst nichts weiter von sich hören und verlauten. Sie war nämlich nicht dafür, die Speisen allzu warm zu genießen, da die Erfahrung sie gelehrt hatte, daß es besser sei, bei allen heißen Dingen abzuwarten.
Auch Tante Hannchen kam nicht und keines von den Kindern. Nicht Jenny, die das Brautgedicht gesagt hatte, noch Wolfgang, der in Charlottenburg Wochen bei ihr gewohnt hatte – keine Seele ließ sich blicken. Jeder mied sie.
Nein, das entspricht doch nicht ganz der Wahrheit. Gleich am dritten oder vierten Tage erschien Tante Minchen, wenn auch der Nebel bis auf die Dächer hing und der Regen nicht aufhören wollte. Es war ja gewiß nicht weit vom Hohen Steinweg nach der Klosterstraße – aber da kam sie gar nicht her, sie war erst noch bei Madame Fournier gewesen, »Unter der Stechbahn«, trotz Wind und Wetter. Da hatte sie drei schöne, mattgelbe Apfelsinen gekauft, für Jettchen zur Stärkung. Und Apfelsinen waren jetzt nicht billig. Sie hatte lange geschwankt, ob sie ihr nicht statt dessen ein Glas von ihrem Eingemachten mitbringen sollte – vielleicht Quitten oder Hagebutten. Aber das sah so alltäglich aus; Apfelsinen jedoch konnte man nicht alle Tage haben. Und wenn – wie man sagt – sauer lustig macht, so hätte Jettchen nach den Apfelsinen eine Woche lang die lustigste Person von ganz Berlin sein müssen.
Ja, die kleine, gute Tante Minchen, die so verschrumpelt wie eine Backbirne war und einen Mund hatte wie ein ausgerissenes Knopfloch, sie hatte sogar eigens zu diesem Besuch ein schwarzes Seidenkleid angezogen, damit Jettchen nicht meinen solle, sie halte nichts auf sie. Leicht fiel ihr dieser Besuch gewiß nicht, denn sie wußte noch gar nicht, wie er bei den andern ausgelegt würde; aber sie hatte sich trotz alledem dazu entschlossen. Und es war das nicht allein der Wunsch ihres alten Ehegatten – dem hätte sie wohl ihren eigenen Willen entgegengestellt –, es war auch ihr Wunsch. Nur wußte sie nicht recht, was sie mit Jettchen reden sollte. Beschönigen wollte sie nichts, tadeln wollte sie nichts, und umgehen wollte sie die prekäre Angelegenheit schon gar nicht.
»Nu, Jettchen«, sagte Tante Minchen, bevor sie sich noch gesetzt hatte, »ich komm' eben e bißchen hier vorbei. Jason hat neulich auf de Hochzeit gesagt, du wärst nich ganz wohl, und da wollt' ich doch mal zusehn, wie's der geht.«
Jettchen dankte. Es gehe ihr schon besser.
»Nu«, meinte Tante Minchen feierlich und wickelte jede der Apfelsinen mit ihren kleinen, welken Fingern aus dem Seidenpapier und legte sie fein säuberlich auf die blanke Tischplatte, »nu, Jettchen, da hab' ich der drei Apfelsinen mitgebracht, für deine Gesundheit. Iß se mit Verstand, was dir ja nicht schwerfallen kann. Se sind nämlich von de Fournier und kosten fünfzehn Silbergroschen.«
Jettchen sagte, daß diese Ausgabe für sie aber wirklich unnötig gewesen wäre.
»Nein«, meinte Minchen, »ich wollte dir, liebes Jettchen, gerade damit zeigen, daß mir für dich nichts teuer und gut genug ist. Nach wie vor. Und wenn sie auch in de Zeitungen über dich schreiben.«
Jettchen erschrak.
»Nu, hat der Jason nich gesagt?« schwabbelte Minchen ohne böse Absicht. »Im ›Beobachter an de Spree‹ stand doch de ganze Sache, das heißt nich mit richtige Namen, aber es war ganz deutlich deine Geschichte; weißte, von Herrn Gimpel, Herrn Schlau und Fräulein Pfiffig hieß es da.«
Das hatte Jettchen nicht erwartet, und sie brach in Tränen aus.
Minchen beschwichtigte. »Was brauchste der daraus was zu machen«, sagte sie. »Weißte, was Eli gesagt hat? – Wenn er noch jünger wäre, als er is, hat er gesagt, würde er einfach hingegangen sein auf de Zeitung und hätte, ohne e Wort dabei zu sprechen, dem Mann rechts und links ein paar hinter die Ohren gegeben ...« Wenn Ferdinand jedoch nur noch etwas auf de Familie hielte, dann müßte er's tun. Und ihr Eli, der würde es auch Ferdinand sagen.
Aber selbst dieses Versprechen der Blutrache vermochte nicht Jettchens Tränen zum Versiegen zu bringen, und deshalb beschloß Tante Minchen, geschickt das Gespräch auf ein anderes Thema hinüberzuspielen.
»Lächerlich«, sagte sie, »du wirst dich ärgern! De Meinungen sind doch sehr verschieden darüber. Ich muß ja in Wahrheit dir eingestehen, ich bin eigentlich nicht deiner Ansicht. Man muß sich aneinander zu gewöhnen versuchen. Wenn de Angelegenheit mit de Scheidung so leicht war' wie de Hochzeit, würde keine Ehe länger wie e Jahr dauern. Und wir – Eli und ich – sind nächsten Herbst, so Gott will, siebenundvierzig Jahre verheiratet. Aber Eli sagte wieder, de hättst ganz recht gehabt. Und viele andre – weißte, man spricht ja von nichts weiter – sagen auch, se begriffen nicht, wie Salomon dich an Julius Jacoby hätte geben können. Aber wirklich, mein Kind, trotzdem und trotzdem ... ich versteh' dich nich. Was haste an de Männer? Se sind doch alle gleich. Meinste, de merkst nachher 'n Unterschied?«
»Sage, liebe Tante, kann ich dir irgend etwas anbieten? Ein Glas Wein vielleicht?«
Aber Minchen war nicht abzubringen. Sie schüttelte nur den Kopf und blieb beim Thema. Und um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, beleuchtete sie es einmal von rechts und einmal von links.
»Mir«, sagte sie, »hat er eigentlich nicht so schlecht gefallen wie Eli. Der nennt 'n immer nur 's litauische Pferdchen. Aber das eine muß er doch auch zugeben, daß Leder immer noch e aussichtsreiche Branche ist. Und e guter Geschäftsmann soll er ja sein. Und der andere? Nu ja, hätt' er vielleicht damals de Stelle gehabt, die er heute hat, hätt' man drüber reden können. Aber damals war er doch gar nichts ... wie e Doktor. Aber endlich, Jettchen, was geht's mich an? Das is doch deine Sache. Tu, was du willst. Uns soll's gleich sein. Bei uns wirste – nach wie vor – immer e offenes Haus finden. Und Eli fragt schon jeden Tag, warum de eigentlich nich mal auf e Viertelstündchen zu uns rüberkommst. Er freut sich doch immer so mit dir.«
So sprach Tante Minchen. In schöner Regelmäßigkeit des Redeflusses. Und doch wäre es falsch, wenn man annehmen wollte, daß sie es etwa böse meinte. Sie meinte es gut und war Jettchen wirklich zugetan. Aber das hinderte eben nicht, daß sie Jettchen mit ihren Worten das Herz abstieß; wie wir ja auch gemeiniglich denen am meisten weh zu tun pflegen, die wir am liebsten haben.
Als Onkel Jason kam, sah er auf den ersten Blick, daß Jettchen traurig und mutlos, noch trauriger und mutloser als sonst war. Aber er tat, als bemerke er es nicht.
»Ach«, sagte er, »Jettchen, da ist mir heute vormittag eine merkwürdige Geschichte passiert. Weißt du, hier an der Ecke am Köllnischen Fischmarkt sitzt doch die dicke Bücklingsfrau. Und als ich vorbeikomme, zählt sie gerade ihre Bücklinge ab. Eine, zweie, dreie, viere – das eine Dutzend stimmte nicht. Sie zählt noch mal. Wieder dreizehn. Na, mich interessiert das, und ich stell' mich zu der Frau hin. Mit einmal ruft sie: ›Herrgott‹, ruft sie, ›richtig, richtig, da is mir doch wirklich die olle Tante Minchen mang die Bücklinge mang jekommen.‹«
Jettchen mußte lachen. Und Jason nahm ihre Hand. »Mädel, du mußt nicht immer zu Hause hocken. Du verklönst mir dabei ganz. Witz und Schönheit sind gesellige Kräfte. Denn, heißt es, was gewänne ein witziger Einsiedler und eine schöne Einsiedlerin? Wenn du rätst, wer das sagt, nehme ich dich morgen mit ins Schauspielhaus. Oder wollen wir übermorgen in die ›Schuld‹ gehen?
›Dort ist oder nirgends Heil,
dort versöhnt das Henkerbeil
mich mit mir, vielleicht mit Gott.‹
Willst du das hören, Jettchen?«
Aber Jettchen wollte doch lieber noch nicht ins Theater gehen, weil sie dort so viele Leute sehen könnten.
»Dann, Jettchen, wollen wir wenigstens einmal des Abends musizieren. Früher hast du noch manchmal gesagt: ›Jason, ich weiß ein Lied.‹ Aber jetzt bist du ganz still geworden.«
Für das Musizieren war Jettchen eher zu haben.
»Ja, schön«, meinte Jason, »dann lade ich dir deinen Freund ein, und er soll uns auf dem alten Tafelklavier eins vorspielen. Wer weiß, wie lange da keiner drauf gespielt hat. Denn mein bißchen Geklimper kann ich ja nicht Spielen nennen. Und wenn ihr ganz brav seid, dann zeige ich euch Sibirien.«
Was Sibirien sei?
Das dürfe er nicht sagen.
Jettchen bat ihn, und Jason freute sich, sie aus ihrer Reserve zu locken.
»Siehst du«, sagte er, »Sibirien ist die kleine Zierkommode da«, und Jason zeigte auf ein ganz niederes, geschweiftes Schränklein, das mit vielen Fächern bescheiden in der Ecke am Fenster stand. Es machte gar nichts von sich her neben den hohen Servanten mit den vielen bunten und weißen Prozellanen. Aber wenn man es näher ansah, so mußte man eine ganze Zeit bei seiner Betrachtung verweilen. Denn es war über und über eingelegt mit Elfenbein, Buchsbaum, Kirschholz und Rosenholz, und jedes Schubfach zeigte eine andere Szene aus dem Alten Testament; fein säuberlich in den Raum zwischen die beiden schweifigen Bronzegriffe hineingeschrieben. Da war die stolze Lea am Brunnen; und Josua und Kaleb, die die große Traube trugen; und Absalon, der mit den Haaren am Ast sich verfangen hatte und nun elendiglich sich verzappelte. Auch Josua als Reitergeneral war da, der der Sonne Vorschriften machte, wie sie sich zu benehmen hätte.
»Du wunderst dich, warum das Schränkchen Sibirien heißt. Das hat noch dein Vater so getauft. Weißt du, es gehörte eigentlich dem alten Onkel Simon. Und wenn der von der Leipziger Messe kam, dann brachte er immer Lebkuchen mit und Bonbons und alles erdenkliche Schöne. Alles wanderte vor unseren Augen in das Schränkchen hinein. Nie ist wieder was herausgekommen. Und deswegen hat dein Vater das Schränkchen Sibirien genannt. Als es nachher keiner haben wollte, habe ich es mir genommen; nun bewahre ich eben meine Heiligtümer darin auf.«
Und Jason zog ein Fach nach dem andern und wies Jettchen Briefe, Locken und goldene Chatelaines; Büchlein und Bänder, Blumen aus Haar gebastelt; einen Fetzen roter Seide mit den Lilien der Bourbonen aus dem zerstörten Thronzimmer der Tuilerien; eine kleine Alabasterbüste der Sontag, ein Täßchen mit dem Bild des Studenten Sand; ein Papiermaché-Figürchen mit Saphirs Wollkopf und ein paar Verse von ihm dazu; Uhren und Medaillons aus dem väterlichen Geschäft; silberne Riechbüchslein in Form von Schnecken mit beweglichen Hörnern oder solche wie Muskatnüsse mit vielem Geäder. Aber all das lag nicht wirr durcheinander, jedes hatte sein Plätzchen, sein Schächtelchen, sein Zettelchen mit der Lebensgeschichte.
Doch Jettchen sah da auch – daran hatte Jason vielleicht nicht gedacht – einen kleinen Fingerhut mit einer roten Granatplatte, der ihr einmal gehört hatte und den sie wähnte, verloren zu haben. Auf dem Blättchen standen – das sah sie – ein paar Verszeilen von Jasons steiler und zierlicher Hand. Und Jettchen wurde über und über rot.
Und der Regen schwand, und es gab wieder sternklare, frische Nächte und Reif am Morgen auf niedern Dächern, auf Remisen, auf den Holzfassungen der Abwässer. Und es gab klare, mattblaue Winterfrühen, an denen die Sonne so ganz tief stand und die gewölbten Scheiben von Jettchens Zimmer mit roten Strahlen streifte.
Das sonderliche Paar! Es lebte doch bald besser zusammen, als es sich selbst zugestand. Jettchen lernte sich in die kleinen Eigenheiten Onkel Jasons fügen, kleine Eigenheiten, die Jason außer dem Hause nie zeigte. Wer wußte zum Beispiel, daß er heimlich ein wenig schnupfte; wer, daß er selbst seine Porzellane und Gläser abstaubte und ihren Platz nach einer vorgeschriebenen Vorlage mit dem Zollstock bestimmte. Wer hätte geglaubt, daß er manchmal den alten, hohen Jägertschako aufstülpte und aus einem abgegriffenen Bändlein alte Lieder sang, mit deren Inhalt seine Anschauungen von heute so gar nicht mehr übereinstimmen wollten; oder daß er einen geheimen Kult mit einer Frau trieb, von der er alles an Bildern und Stichen und Plakaten sammelte, dessen er nur habhaft werden konnte.
An diesen kleinen Eigenheiten lernte Jettchen still vorübergehen, und es war gar nicht nötig, daß Jason sich hin und wieder mit der Sentenz des kleinen buckligen Physikers verteidigte: »Jeder ist in seinen vier Pfählen ein Sonderling« und dann nach einer geheimnisvollen Pause hinzufügte: »Das wissen am besten die Eheweiber.«