Kitabı oku: «Henriette Jacoby», sayfa 5

Yazı tipi:

Nein, Jettchen spann sich auch so langsam in die gleichen Kreise wie Jason ein, in denen man die Kapricen liebte und dem einfachsten Ding im Leben Bedeutung beimaß – in denen man vom Schnitt eines neuen Rockes sprach, als ob es eine Sache von hochpolitischer Bedeutung wäre, und über eine hochpolitische Tat wie die Amnestie witzelte, als ob es sich nur um den Schnitt eines neuen Rockes handelte.

Jason war viel daheim. Nun ja, jeden Nachmittag von vier bis fünf ging er zu Stehely, und alle vierzehn Tage einmal stahl er sich heimlich zur Therbuschschen Ressource. Seine alte Gepflogenheit, auf Tage für alle Welt verschollen zu sein – man vermutete dann geheime Wege –, schien er jetzt ganz abgelegt zu haben. Ja, ob überhaupt in seinem Leben irgendein weibliches Wesen Figurantin oder Statistin spielte oder ob gar mehrere dieser leicht beschwingten Grazien ihre flatternden Schleier um seine geheimen Stunden woben, davon bemerkte Jettchen nichts. Jason schien jede Stunde in und außer dem Haus nur für Jettchen zu leben. Er brachte ihr immer etwas von seinen Ausgängen heim, und wenn es selbst einmal nur Neuigkeiten waren. Ohne daß Jettchen es äußerte, hatte er herausgefunden, daß man vergessen hatte, Jettchen einen Muff mitzugeben, und er kaufte ihr nun einen ganz kostbaren von Danneberg, einen aus grünem Samt mit einem breiten Nerzbesatz, lang und groß wie eine Ziehharmonika. Den sollte sie nehmen, wenn sie mit ihm ausginge, des Abends einmal ins Theater.

Aber Jettchen ging nicht viel vor die Tür. Und des Abends schon gar nicht. Höchstens, daß sie manchmal mit Fräulein Hörtel Einkäufe für den Haushalt machte. Aber dann eilte sie immer wieder, heimzukommen, denn sie fürchtete, Bekannte zu treffen. Und wenn sie wirklich irgend jemand sah, mit dem sie früher vielleicht ein paar Worte gesprochen hatte, dann beschleunigte sie noch ihre Schritte und bog hastig in eine Nebenstraße ein. Oder wenn das nicht ging und sie doch an ihm vorüber mußte, dann klopfte ihr das Herz bis in den Hals, während sie leise den Kopf zum Gruß senkte, mit Mienen reglos wie eine Statue.

Kößling kam nicht gar oft. Er brachte eine Nachricht oder ein Buch für Jason, blieb am Nachmittag eine Stunde und ging. Und immer wieder war es das gleiche. Man sprach, man plauderte, Jason zeigte Bücher, Stiche, ja, er las auch einmal einen Abschnitt vor, schritt mit langen, klappenden Schritten auf und nieder an seinen Bücherreihen, die ausgerichtet standen wie preußische Soldaten. Und er deklamierte, während er sein Gedächtnis nur manchmal mit einem Blick auf das Büchlein in seiner Rechten stützte, den Schlußchor des Helena-Aktes. Wie das schön sei! Wie griechische Verse. Die ganze »Braut von Messina« gäbe er dafür, gebe sie für ein paar Worte, für diese letzten Worte des Euphorion:

Laß mich im finstern Reich,

Mutter, mich nicht allein.

Das seien Worte, über die man Stunden weinen könnte, alle Schauer der ewigen Nacht seien da in einen Schrei gepreßt. So einfach sei es, daß es ein sterbendes Kind lallen könnte; und so gewaltig, daß der markerschütternde Klageruf des Prometheus uns nicht tiefer in den Ohren gellen könnte. Die schwersten Nöte des Menschen, sie klängen darin wieder; das angstvolle Sichhineinschmiegenwollen in zwei weiche Arme; und alle Jubel des Lichts klängen darin wieder, doppelt leuchtend im Augenblick des Abschieds. Schiller – Herrgott, Schiller ... alle Welt käme jetzt mit Schiller! Man sollte ihm ein ähnliches Wort bei ihm zeigen. Ob Kößling das könnte! Er sage: Reichtum; er sage: Fülle. Ob er das Gastmahl des Trimalchio kenne? Ob er Heinse kenne? Das wäre Reichtum, das wäre Gold und Purpur. Im Faß müßte es gären, nicht in den Flaschen.

Und Jettchen fühlte während dieser Gespräche, wie sie beide, Kößling und sie, sich langsam und trotzig voneinander entfernten. Nur in den Dämmerstunden, wenn Kößling sich an das Spinett setzte und die feinen Tonfolgen der Mozartschen Sonaten über die Bücherreihen hinzogen und zu den Fenstern flüchteten, durch die der wilde, rote Abendhimmel über graublaue Dachrücken hereinsah – nur dann strebten sie sich entgegen und suchten einander. Dann gingen ihre Blicke nicht aneinander vorüber, sondern sagten sich Schmeichelworte.

Stets war es dasselbe Spiel. Jason fiel es ein, daß er irgend etwas noch zu tun hätte. Darauf erhob sich Kößling, er wolle nicht länger stören. Und Jettchen und Jason begleiteten den Besuch bis auf den dämmrigen Flur hinaus. Aber dann mußte Jason zu seinem Bedauern gerade irgend etwas vergessen haben und mußte die beiden gerade jetzt sich selbst überlassen. Und es folgte der Abschied zwischen Tür und Angel, wortlos und stürmisch, ein Aneinanderpressen in dem kaum gelichteten Dunkel, als müsse dem Augenblick die Kraft und die Tiefe von Stunden gegeben werden. Ein kurzes und schmerzvolles Auseinanderreißen folgte, ein Zusammenstürzen von neuem und ein Sichtrennen mit brennenden Lippen ... Immer dasselbe unbefriedigte, zerrissene Spiel der Sehnsucht.

Über ihre Lage sprachen sie nicht und nicht über ihre Aussichten. Sie nahmen nur ohne Besinnung die flüchtigen Sekunden des Beieinanderseins.

Was hätten sie auch groß davon sprechen sollen. Sie standen auf dem alten Punkte, nicht einen Zoll waren sie weitergekommen die ganzen Wochen. Nicht um einen preußischen Zoll; wenn auch draußen die Frau Fama, die immer noch mit vier Rossen und zwei Vorreitern ihres Weges durch die Stadt kutschierte, sich jeden Tag Neues zu erzählen wußte über sie und ihre Lage.

Was war denn daran wunderbar? Die Anteilnahme der Menge war eben einmal erregt und konnte nicht zur Ruhe kommen. Und da die Wirklichkeit keinen Anhalt bot und allzu langsam dahinfloß, so waren viele Köpfe und Sinne damit beschäftigt, etwas mehr Strömung dem trägen Fluß der Ereignisse zu verleihen und täglich – je nach Partei – die baldige Rückkehr und Aussöhnung oder die sofortige gerichtliche Scheidung zu proklamieren oder gar noch andere, lebhafte und freudige Ereignisse in Aussicht zu stellen.

Aber was blieb denn eigentlich von alldem? Jettchen wußte, daß Onkel Jason ihretwegen Gänge machte, daß er Advokaten aufsuchte. Sie hörte zu, ruhig und widerspruchslos, wenn er ihr Gesetzesparagraphen vorlas, die sie nicht verstand und die ihr wie eine Verhöhnung der Vernunft und jedes natürlichen Empfindens vorkamen. Ja, Jettchen erfuhr, daß Jason selbst mit dem Onkel Naphtali, dem Senior aller Jacobys, der nun doch den teuren Gasthof mit der billigeren Wohnung seines eheverlassenen Neffen vertauscht hatte, mit Onkel Naphtali bei Stehely konferiert hatte; daß Onkel Jason zweimal vergeblich versucht hatte, den Vetter Julius in höchsteigener Person im Geschäft zu stellen; daß Onkel Jason mit seinem Bruder Salomon ganze Stunden im Kontor hin und her gesprochen hatte und daß Ferdinand wichtige Wege ihrethalben machte – über all das war Jettchen wohl und genau unterrichtet. Aber was eigentlich hinter den Kulissen sich abspielte, auf welchem Punkte man stand, davon hatte sie doch nur ganz vage Vorstellungen.

Soviel erfaßte sie immerhin, daß es nicht um sie allein mehr ging und daß die ganze Ehesache sich außerordentlich verwickelt und verknotet hatte, daß alles Erdenkliche mit daran hing: Familiendinge und Geldsachen.

Jettchen hörte von großen Summen, die dabei auf dem Spiel standen; und sie sollten von dem braven Vetter Julius mit einer Schnelligkeit ins Treffen geführt worden sein, die selbst der Kriegskunst eines Napoleon alle Ehre gemacht hätte. Und sofern sie sich nicht in duftende Lederballen gelöst hatten, taten sie nun mit bei allen möglichen Unternehmungen, von denen Kaufleute alten Schlages fein säuberlich die Finger ließen. – Von ganz großen Summen hörte Jettchen, die auf dem Spiel standen, ohne daß sie sich einen rechten Begriff machen konnte, was sie eigentlich zu bedeuten hätten. Denn was Geld war, hatte Jettchen im Hause Onkel Salomons nie erfahren. Man bezahlte das, was man kaufte; und kaufte das, was man brauchte. Und wenn es wirklich mehr war wie bei anderen Leuten, so machte man sich auch keine Gedanken; man hatte den lieben Gott so gewöhnt, und es gehörte nun einmal zum Leben.

Eines Vormittags aber kam Jason heim mit nassen Sachen, denn es war draußen ein unfreundlicher Tag. Er bringe eine wichtige Neuigkeit für Jettchen, sagte er; ob sie es schon wüßte ... das rate sie gewiß nicht. Und Jettchen wurde es ganz heiß bei Jasons Worten, da sie glaubte, daß das eine Wendung in ihrem Geschick beträfe.

Ja, meinte Jason und ließ plötzlich hinter dem Rücken eine Knarre kreisen, er sei eben da entlangegangen. Auf dem Schloßplatz schlügen sie schon die Buden auf; und die ganze Breite Straße herunter sei man auch schon an der Arbeit; und auf der Schloßbrücke säßen nun wieder die Kinder mit ihren Dreierschäfchen und riefen: »'n Sechser der Bock, 'n Dreier das Schaf!« Vor den Walddeibeljungen aber wüßte man sich gar nicht zu retten. Wenn erst alles im Gange wäre, morgen oder übermorgen oder nächste Woche, da müßten sie einmal beide nachmittags auf den Weihnachtsmarkt gehen. So zwischen vier und fünf, wenn gerade das Licht angezündet würde und man doch noch etwas sehen könnte. Dann wär's am schönsten: unten die langen erleuchteten Budenreihen und das Schloß darüber und der farbige Winterhimmel dazu. – Oder wenn es vielleicht Schnee gäbe, dann müßten sie hingehen.

Und es gab Schnee – schon am nächsten Tag.

Des Abends hörte Jettchen noch den Ostwind durch die Straßen heulen wie einen herrenlosen Hund, und als sie an das Fenster trat, sah sie oben auf einem tiefschwarzen Himmel weiße, ganz helle Wolken dahingleiten, wie mächtige weiße Bettücher mit zerschlissenen Rändern. Und wenn für einen Augenblick ein Stern zwischen ihnen in den schwarzen Rissen aufblinkte – schon war er verschwommen, schon war er verschleiert; aber kaum daß er wieder aufzuckte, verlosch er von neuem. Zur Nacht aber ließ der Wind nach und ächzte nur noch manchmal auf in der Ferne; bis er endlich ganz einschlief. Ein jedes Schwarz am Himmel schwand dahin, daß er nur so ganz stumm herniederhing, wie in grauen Wattelasten.

Als jedoch Jettchen dann in der nächsten Frühe erwachte, fand sie das grüne Zimmer so seltsam hell und ruhig. Kein Laut von der Straße drang herauf. So war es die ganze Zeit über nicht gewesen. Und als Jettchen darob erstaunt sich umwandte, sah sie durch das Fenster in ein Stück trübgrauen Himmels hinein, und daraus tanzten immerzu kleine, weiße Plättchen und Federchen herab, langsam und sorglos. Und als sie nun aufsprang und an das Fenster eilte, da sah sie, daß drüben schon ganz dicke weiße Samtpolster auf allen Dächern lagen und daß schon jeder Vorsprung und schon jede Kante an Fenstern und Giebeln mit einem breiten Streifen von weißem Pelz besetzt war. Ein paar heidnisch nackte Götterfiguren, die sonst drüben auf dem Gesims froren und fröstelten, daß Jettchen oft fast glaubte, sie mit den Zähnen klappern zu hören, hatten schnell aus weißem Zobel dicke Mäntel umgebunden und schienen nun ganz glücklich und zufrieden. Der ganze Straßenzug aber unten war blank und licht, wie ein Leinentuch; kaum daß auf dem Bürgersteig ein paar erste frische Stapfen durch den lockeren Schnee führten; kaum daß eine erste breite Wagenspur auf dem Damm ihn niedergepreßt hatte. Doch jeder Zaunpfahl beim Lagerhaus hatte schon eine Großmutterhaube sich umgebunden; und auf das Laubendach war über Nacht ein schweres damastenes Tischtuch gedeckt worden – so rein, so neu gewebt, wie das keine Bleicherin von der Bleiche bringt. Auch die schweren Äste der Bäume hinten jenseits der Mauer hatte der Schnee weiß nachgezogen und mit jeder Krümmung in Silber nachgezeichnet. Und in die feinsten schwarzen Netze der Zweige und Zweiglein der Büsche und Hecken hatte er noch vorerst wenigstens flockige, lockere Watteballen gesteckt und geheftet. Die Brunnen jedoch, die strohumwickelten Holzbrunnen, standen nun ganz und gar eingemummelt da – wie Schneemänner.

Aber wenn eine Schneelast sich löste und von dem Gesimse oder den Zweigen herabschwebte, so vermählte sie sich mit dem weißen Boden, und man sah schon im Augenblick nachher nicht mehr die Stelle, wo sie niedergesunken war. Und immer von neuem glitt und flatterte das vom Himmel herab – leise, müde und gleichmäßig, ohne Aufhören und ohne einen Windhauch, so daß die Fernen vor den weißen, rieselnden Schleiern licht verdämmerten. Und dazu diese Stille ... diese wundervolle Ruhe, die wie mit Katzenpfoten durch die Straßen schlich! Jeder Laut – das Zwitschern eines Spatzen, das Knarren einer Wagenachse, der Ruf eines Fuhrmanns, der von unten heraufdrang verlor sich sofort wieder und machte die weiche Einsamkeit des Schneetages nur noch müder und noch träumerischer.

Gegen Mittag aber ließ der Schnee nach, und es kam der kalte Nebel und der rauhe Frost von draußen hinein in die Straßen, und sie trugen die Schönheiten des Winters bis an die letzte und geschützteste Stelle. Was vordem der Schnee vergessen hatte, das überzog nun der Rauhfrost mit seinen ganz feinen, glitzernden Kristallnadeln, die wie die Haare eines Pelzes emporstanden. Die Muster der niederen, verrosteten Eisengitter vor Jettchens Fenster wurden zu klaren weißen Linien; und die alten Spinnennetze, die dazwischen taumelten und an denen Jettchen wohl nun an hundertmal achtlos vorbeigesehen hatte – sie wurden plötzlich zu feinen Stickereien von weißen Perlenfäden. Wenn vordem nur die schweren Äste der Bäume drüben sich Weiß aufgelegt hatten, so zog jetzt der Rauhfrost auch das letzte Zweiglein, die heimlichste Knospe nach und machte sie weithin sichtbar, als wären sie aus blinkendem Glas und grauem Silber gesponnen. Um die Großmutterhauben der Zaunpfähle aber und um die weißen Pelzkappen der Figuren drüben auf dem Dach, da häkelte er – der Rauhfrost schnell mit ganz leichter Hand zarte Spitzenbesätze und zierliche Blonden. Und wenn Wagen unten vorüberfuhren mit dampfenden Gäulen, so hatte er auch schon die Geschirre umflochten und umzogen!

Aber wie jeder Laut der Stadt in dieser weißen Stille ertrank, so versank auch der Blick in diesem träumerischen Weiß, in diesen dumpfen Nebelwänden, die von allen Seiten herandrückten und schon machten, daß die Dächer weiter drüben und die Spitze des Kirchturms hinten sich ganz im Dunst verloren.

Am späten Nachmittag jedoch, kurz vor dem Dunkelwerden, als die Zimmer nur noch der Widerschein des Schnees draußen erhellte – Jettchen hatte gewartet auf Kößling, der ihr versprochen hatte zu kommen, und Jason ordnete hinten an seinen Stichen –, da brachte der Hausdiener Gustav ein Brieflein von Tante Rikchen; er müsse Antwort heimbringen. Jettchen, die jetzt sehr schreckhaft war, dachte, wunder was es gäbe. Aber es hieß nur da, ganz kurz und freundlich: sie beide möchten den Abend zu Salomon Gebert kommen.

»Jettchen, willst du?« fragte Jason.

Doch Jettchen, die fürchtete, die Tante hätte es so eingerichtet, daß sie dort jemanden träfe, den sie um keinen Preis treffen mochte, und die lieber eine erste Aussprache mit Tante Rikchen oder dem Onkel Salomon unter vier Augen gehabt hätte, sagte, sie ließe vielmals danken, aber sie fühlte sich nicht so recht wohl, und sie würde dafür in den nächsten Tagen die Tante besuchen.

Jason aber antwortete, daß er gern kommen würde, und fragte, ob Herr Elias Geben und Herr Ferdinand Gebert auch da wären. Zu Jettchen hingegen äußerte er, daß er diese Zusammenkunft schon lange gewünscht habe und daß er sich viel von ihr für ihre Sache verspreche.

Und draußen kam dann die Nacht heran – frostig und seltsam. Der Himmel schien schwarz und war doch von einem eigenen, unheimlichen Leuchten durchdrungen. Die Häuser, die sonst im Dunkeln untertauchten, zeigten mit phantastischen weißen Bändern die Linien und Rhythmen ihres Baus; und gleich breiten Rücken schlafender Tiere lagen die Dächer darüber. Die Straße unten aber dämmerte dahin in einem grauen Band; und nur dort, wo die Laternen ihre zuckenden Lichtscheine über den Schnee warfen, war sie mit schnell wechselnden gelblichweißen Quadern bedeckt. Es war ganz still; und der Schatten, der vielleicht neben dem Lichtschein auftauchte, war im Augenblick wieder verschwunden. Kaum daß man vermuten konnte, ob das nun ein Mann oder eine Frau gewesen war. Den ganzen Abend lehnte Jettchen am Fenster und sah in die halbe Dunkelheit hinaus. Das Essen stand unberührt vor ihr; knapp, daß Jettchen einen Schluck Tee genommen hatte und einen Bissen Fleisch. Und wenn Jettchen etwa zu lesen versuchte – es waren die »Vertrauten Briefe über Schlegels Lucinde«, ein Buch, das ihr Jason unter Vorbehalt eingehändigt hatte: es wäre auch eine Seite des Lebens, die bestehe und seinen Wert habe, aber über die man zu schweigen sich angewöhnt habe –, wenn Jettchen etwa zu lesen beginnen wollte, schwammen die Zeilen ihr ineinander, so erregt und ängstlich war sie. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie mit Jason zu den andern hätte gehen können. Gewiß war die Stube hier warm – fast zu warm; der weiße Feilnersche Porzellanofen strahlte förmlich vor Hitze, und jeder Winkel atmete Heimlichkeit; wie ein goldner Kreis lag der Schein der Messinglampe überm Tisch. Aber es war doch nicht warm – dieses Zimmer – von Menschen, von Worten, von häuslichen Gewohnheiten. Es hatte nie etwas vom Geruch des Bratens oder vom Blinken des schweren Silbers und des roten Glases. Es war eine Stube, in der noch kein Kinderlachen erklungen war oder das sorglose Geplauder von schwatzenden Frauen. Und diese Empfindung legte sich Jettchen auf die Brust, wenn sie allein war. – Aber heute kam noch die Angst dazu um Kößling, der am Nachmittag hatte kommen wollen und um den sie nun jede Minute wieder an das Fenster eilte; dessen Gestalt sie in jedem vermutete, der unten neben der Laterne auftauchte, nur um nach wenigen Schritten wie verweht und vergessen wieder in der Winternacht zu verschwinden.

Es war in letzter Zeit öfter geschehen, daß Kößling sich verspätet hatte. Dann kam er angelaufen, mit hochroten Wangen und wirren Haaren, noch ganz fiebrig vom Schachtisch her. Er hätte sich nicht trennen können. Bilgner sei auch im Royal gewesen und Löwenthal. Das hätte eine interessante Partie gegeben; ein Zweispringerspiel. Er habe den Schluß nicht abwarten können; aber er habe die Stellung aufgeschrieben. Bilgner stände um eine Idee stärker, doch es schien ihm fraglich, ob es auch zum Siege ausreiche. Jettchen war dann das Weinen näher als das Lachen. Sie hätte so gern einmal mit Kößling gesprochen, von dem, was ihn anging, von seinen Arbeiten und Plänen; sie glaubte an den Dichter in ihm. Und immer kam er mit roten Wangen und leuchtenden Augen und erzählte von einer Schlußkombination, die eines Stamma würdig gewesen wäre: die schwarze Königin hätte sich auf der H-Linie geopfert, und Läufer und Springer hätten dann ein vierzügiges Matt gegeben. Jettchen verstand diese plötzliche Leidenschaft Kößlings nicht, und sie vermochte auch nicht in irgendeinem Zug das Überraschende und Neue zu erblicken, daß Kößling noch am nächsten Tage in seinem Bann hielt. – Nur manchmal kam Jettchen so ganz dumpf die Empfindung, als ob diese plötzliche Hingabe an das Schach für Kößling mehr bedeute als eine bloße Zerstreuung, als ob sie eine Flucht und eine Betäubung wäre; dann meinte Jettchen, daß er es tue, weil er sie nicht mehr liebe, und war noch unglücklicher denn vorher. Heute war er nun ganz fortgeblieben.

Jason hatte ihn zwar entschuldigt und gemeint, daß der Schnee daran schuld sei und das schlechte Wetter oder daß Kößling nicht ganz auf dem Posten sei. Aber das glaubte Jettchen nicht, und sie konnte sich gar nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß er nicht käme. Immer wieder drückte sie die Stirn gegen die Scheiben und sah – einmal nach rechts und einmal nach links – die Straße hinab, folgte jedem mit spähenden Blicken, der unten im Lichtkreis der Laternen auftauchte und im Dämmer wieder verschwand. Aber immer seltener wurden diese einsamen Gestalten, und schon wollte Jettchen sich mutlos von ihrem Fensterplatz zurückziehen, als sie sah, wie unten jemand ganz hastig an der Laterne vorüberging, mit langen Schritten. Am Gang meinte sie Kößling erkannt zu haben; und sie lief an die Korridortür und lauschte hinaus in das halbhelle, breite Treppenhaus, in dem ordentlich die Kälte von unten emporstieg. Erst nach einer ganzen Weile hörte Jettchen Stufen klingen und vernahm ein hastiges Atmen. Und dann – dann stand Kößling vor ihr: ganz erregt, rot vom Frost, mit offenem Mantel und verzerrter Krawatte. Und Jettchen warf sich ihm entgegen. Aber Kößling erwiderte ihre Liebkosungen kaum, so daß Jettchen sich ganz erschrocken aus seinen Armen wand.

Ob ihm denn etwas zugestoßen sei, daß er so spät käme ...

»Nein – nichts«, meinte Kößling in einem Ton, der seine Worte Lügen strafte, »nein – gar nichts.«

Doch – doch, er solle es ihr sagen.

Nein – er habe sich wirklich nur verspätet; ob ihr Onkel Jason vielleicht da sei.

Der sei heute abend bei Onkel Salomon. Aber warum sie denn hier draußen ständen! Er möchte hineinkommen. Ob er denn nicht vielleicht noch etwas essen wollte.

Nein, nein, er könnte nicht hineinkommen, er müsse nach Haus; er hätte eben nur gern heute noch Jason Gebert gesprochen.

Warum er denn nicht wenigstens auf einen Augenblick hineinkomme!

Kößling zögerte, und Jettchen sah neben ihm zu Boden, unmutig und traurig.

»Mein liebes Jettchen«, begann Kößling endlich, »meinst du denn wirklich, du großes Kind, ich bliebe nicht lieber hier bei dir, ganz bei dir, immer und ewig? Ich denke ja nichts anderes mehr als dich, Tag und Nacht, und zähle die Stunden, bis ich dich wiedersehe.«

Und Jettchen wurde heiß unter seinen Küssen.

»Aber ich habe deinem Onkel mein Wort geben müssen, nie in seiner Abwesenheit diese Wohnung zu betreten. Und Jettchen – wirklich, Jettchen, es will mir fast selbst scheinen –, es ist besser so.«

Ob ihm denn etwas zugestoßen sei, er solle es doch sagen.

Nein, nein, gar nichts. Aber er hätte doch gern noch Jason Gebert gesprochen.

Und wieder warfen sie sich einander in die Arme. Wortlos und stürmisch. Aber als Jettchen drinnen Fräulein Hörtel mit dem Geschirr klappern hörte, da war es ihr, als ob sie etwas Böses täte, als ob sie ein Vertrauen mißbrauche; und auch ein anderes, was sie vordem nicht gekannt, flammte dazwischen auf: Angst vor sich selbst und vor ihren Sinnen. So löste sie denn die Arme von Kößlings Schultern und die Lippen von Kößlings Lippen und schlich sich auf den Zehen zurück zur Tür, ihm winkend, daß er ganz still sein sollte. Leise, zitternd und leise zog Jettchen dann hinter sich die Tür ins Schloß.

Aber als sie im Zimmer war, da überfiel sie von neuem die Unruhe, daß Kößling etwas zugestoßen sei, daß er ihr etwas verschwiegen habe, und sie mochte sich nicht entkleiden, bis Jason wiederkommen würde.

Alle Augenblicke stand nun Jettchen vom Buch auf und sah in die Winternacht; sah auf die phantastischen weißen Bänder und Linien der Häuser drüben; sah auf die weißen Rücken der Dächer drüben; sah auf das dämmrige Band der Straße, in die zuckenden Lichtscheine unten, und blickte hinauf in den schwarzen Himmel, der doch wieder von einem unheimlichen Leuchten durchdrungen war.

Und wenn Jettchen jetzt noch auf die Gestalten geachtet hätte, die unten im Schnee sich bewegten, so hätten sie die gleiche Gestalt, den gleichen Gang wie vorhin wohl noch oft sehen können. Denn immer wieder trieb es Kößling um das Haus, und hundertmal kämpfte er mit sich, ob er noch einmal unter irgendeinem Vorwand sich heraufwagen könne. Nur für einen kurzen Augenblick, nur für ein Wort und einen Gruß. – Und er schlich immer wieder um das Haus, vorsichtig nach oben spähend wie der Marder in der Winternacht um den Taubenschlag.

Als Jason draußen die Galoschen auszog, war bei Tante Rikchen schon die Stube voll von Leuten. Und der Lärm von vielen Stimmen und die Wärme der gutgeheizten Zimmer und der Geruch von Braten drang zugleich mit der reichen Helligkeit auf den Ankömmling ein. Alle waren sie eigentlich schon da. Man hatte nur auf ihn noch gewartet, um zu Tisch zu gehen. Das ganze Zimmer war voll von Menschen; man konnte auf den ersten Blick gar nicht sehen, wer das etwa alles war.

Jason Gebert kam es ganz seltsam vor. Denn er war lange Monate nicht hier oben gewesen, seit dem Spätsommer, seit seiner Krankheit nicht mehr. Zu seinen Besprechungen, mit dem Bruder war er in der letzten Zeit stets in das Geschäft gegangen. – Ganz seltsam kam es Jason im ersten Augenblick vor, daß alles noch wie einst war; daß kein Möbelstück in der Zeit verschoben worden war und daß an den Fenstern immer noch die Biskuitbilder an ihren kleinen Ketten zitterten und schaukelten, über den Fensterkissen mit den Rosengirlanden unschuldweiß hüben und rosenrot drüben. Ganz seltsam kam es ferner Jason Gebert vor, daß wieder die schweren Damasttücher auf dem Tisch lagen und all das Silber wie einst dastand: die beiden Fruchtschalen aus blauem Glas, die von den silbernen Delphinen getragen wurden, und die vier hohen silbernen Leuchter ... wie ionische Säulen daneben. Und ebenso, als ob sie gar nicht inzwischen fortgegangen wären, saßen auch wieder auf den beiden hohen Stühlen einträchtig nebeneinander Minchen und Eli. Das schiefe, kleine Minchen mit dem violetten Kleid und dem Blondenhäubchen, gleich einem Veilchen, das im Verborgenen blüht, gleich einem fliederfarbenen Miniaturgebirge, und Eli mit seiner besten weißen Perücke und in seinem besten blauen Frack mit neu geputzten Goldknöpfen daneben; und in all dem Lärm hielt Eli wieder sein Nickerchen, treu behütet von der kleinen Person neben sich.

Gewiß, Jettchen fehlte, die immer hier wie das Licht in einem alten holländischen Gemälde gewesen war, das Licht, um das sich ja all die anderen halbhellen Töne anordnen; aber keiner schien das Licht auch nur zu vermissen. Und wenn Jason selbst nicht gewesen wäre? Nun, was dann? Auf seinem Stuhl hätte dann vielleicht auch ein anderer gesessen, wie auf dem Jettchens; oder es hätte eben ein Stuhl weniger am Tisch gestanden. Aber kein Silberleuchter hätte deshalb weniger auf der Tafel geblitzt; keine Salatiere weniger ihre gemalten Blumensträuße zur Schau getragen; sein Bruder Salomon hätte ebenso förmlich und liebenswürdig den Wirt gespielt, und man hätte die gleichen Gespräche geführt, und der gleiche Duft von stiller, in sich zufriedener Wohlhabenheit hätte – fast sichtbar – wie eine Wolke über dem Raum und den Menschen sich gelagert. Er und seine beiden Schützlinge, Jettchen und Kößling – sie drei –, das fühlte Jason wie eine Beklemmung, als er in das alte, wohlbekannte Zimmer trat, waren eben nur die Vorübergehenden, das hier waren die Bleibenden.

»Ach, Jason«, rief Tante Rikchen ihren Schwager an, der so ganz verwirrt von all dem Lärm in der Tür stehengeblieben war, »es freut mich, daß du doch gekommen bist. Nun können wir gleich anfangen. Warum hast du aber Jettchen nicht mitgebracht?«

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺72,31

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
370 s.
ISBN:
9783754181577
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:

Bu kitabı okuyanlar şunları da okudu