Kitabı oku: «FRANZ», sayfa 7
Captains Voice
verhieß nichts Gutes für München. Dreizehn Grad und Nieselregen. Na Bravo! Aber man wollte ja weiter, durch Österreich nach Italien, zum Gardasee. Dort würde das Wetter mit Sicherheit besser sein. Werners Fahrer übergab am Flughafen den Jaguar und man fuhr Richtung Kufstein, wo in einem Berghotel zwei Zimmer angemietet worden waren, um dort gemeinsam in Franzens 65. Geburtstag hinein zu feiern.
Der noch Vierundsechzigjährige saß im Fond, hielt die Augen geschlossen, suchte nach ihrem Bild. Aber sein visuelles Gedächtnis versagte ihm den Dienst. Die Frau, die zu diesem Zeitpunkt sicherlich wieder am Saum des Meeres saß oder in ihm schwamm, wollte nicht erscheinen. Franz rief Haarfarbe, Hautfarbe, Augenfarbe ab, aber es entstand nur ein unvollkommener Steckbrief, eine Schimäre – unmöglich ihrer habhaft zu werden. Aus seiner Jackettasche holte er die Zigarettenschachtel hervor. Außer der Vorstellung, die Frau besitzen zu wollen, die Frau, deren Bild partout nicht in ihm entstehen wollte, sich verweigerte, war die Zigarettenschachtel die einzige Verbindung zu ihr. Er klappte den Deckel mit einer Ehrfurcht auf, als handele es sich um eine Reliquie und betrachtete ihre Handschrift. Ungelenk. Krakelig. Telefonnummer und E-Mail-Adresse mit aufgeregter Hand hingekritzelt, wie in die Luft geschrieben. Eine Luftnummer? Teilweise fehlender Kulistrich, dafür Vertiefungen, farblose Minen-Schluchten. Franz versuchte ihre Schrift zu deuten, suchte im Schriftbild ihre Gefühle zu erlesen, die sie während des Schreibens gehabt haben könnte. Wie ein pubertierender Schüler ließ er die Schachtel an seiner Nase vorübergleiten, hoffte einen Restgeruch ihrer Hand zu erschnuppern, roch aber nur Tabak. SIE blieb verschwunden. Dann schlief er ein und träumte, dass er nackt am Bug eines Bootes stand, dass auf eine Felsenküste zusteuerte. Er hatte eine gewaltige Erektion und sein Glied ragte weit über den Bugspriet hinaus und die Angst wuchs, dass es an den Felsen stoßen und abbrechen könnte. Aber kurz bevor das Boot den Saum der Küste erreichte, trat Frau Doktor auf einen Felsvorsprung, ließ ihr Kleid fallen und mit weit gespreizten Beinen legte sie sich dem Meer entgegen. Franzens Schwanz fuhr in ihre Möse und beide schrieen vor Lust. Als er ihn jedoch wieder herauszog, hatte sich sein Schwanz in einen Eiszapfen verwandelt. Im selben Moment fuhr das Boot rückwärts und als Frau Doktor ihm hinterherwinkte, brach der Eiszapfen ab und fiel ins Meer. Franz erwachte mit einem Stöhnen. Natia fragte besorgt nach seinem Befinden, aber verschlafen murmelte er nur etwas von einer Eiszeit, die auf ihn zukommen werde, drehte sich auf die Seite und versuchte, in einem schöneren Traum Unterschlupf zu finden.
„Das Berghotel ist so, wie ich es nicht ausgesucht hätte. Weder zu meinem Geburtstag noch zu meiner Beerdigung!“, schrieb Franz tags darauf in sein Tagebuch. „Mit seinen vier Sternen gehört es zu jener Kategorie von Übernachtungsstätten, vor denen meine Mutter in gemeinsamen Urlauben mit leuchtenden Augen stehen geblieben, für die aus pekuniären Gründen aber ein Betreten, geschweige denn eine Übernachtung, nie in Frage gekommen wäre. Die Ausstattung war geschmacklos zu nennen. Im hellen, sterilen Holz gehalten, sozusagen keimfrei, Stühle, Eckbänke in der Regel mit grüngolden gemustertem Stoff bezogen, getrocknete Alpenblumen zu Strohskulpturen dekoriert und in Tongefäßen auf handschmalen Webteppichen platziert. Die Wände selbstverständlich zu jeder Saison frisch getüncht. Weiß. Davor nachgebaute Kommoden, Bauernschränke, in Österreich Kästen genannt, und hie und da ein paar falsche Heilige am oft grob geputzten Mauerwerk.“
Werner und Natia schmeckte die Vorspeise, eine Kartoffelsuppe mit frischen Gartenkräutern, ausgezeichnet. Nach dem zweiten Gang, einem passablen Rehrückenfilet, entschuldigte sich Franz auf die Toilette und setzte dort mit vor Aufregung zitternden Fingern – das Gift der Liebe hatte sich bereits in ihm ausgebreitet – eine SMS an die Telefonnummer ab, die in der Zigarettenschachtel ihrer Verwendung harrte.
Liebe, sehr verehrte Frau Doktor von O. – Sie glauben gar nicht, wie sehr ich (wir) Sie und Ihr Lebensabschnittsgespons, den überaus liebenswerten, äußerst großzügigen und herzensguten Kosta vermissen! Bei Zithermusik, Grünem Veltliner und der Vorstellung, wie wir zu fünft dieses Restaurant aufmischen würden, versuche ich (wir) Ihr Fehlen zu kompensieren. Ich wünsche Ihnen beiden einen schönen Abend, hoffe, dass ich Ihnen, Frau Doktor, ein wenig fehle, herzlichst, Ihr Onkel K.
Zum Reinfeiern, wie ursprünglich angedacht, waren Werner und Natia zu müde. Sie verabschiedeten sich auf ihr Zimmer und Franz war froh, mit seinen Gedanken und Gefühlen allein zu sein. „Es hat dich erwischt!“, stellte er halblaut fest. Ein wirres Staunen in ihm. Das waren keine Raupen, auch keine Puppen mehr in seinem Magen, da hatte schon die Metamorphose zu Schmetterlingen eingesetzt, zu jungen Schmetterlingen, die beschlossen hatten, in Franzens altem Bauch ein Tänzchen zu wagen, ein Schmetterlingstänzchen und, obwohl völlig übermüdet, war er hellwach, sodass an Schlaf nicht im Entferntesten zu denken war. Er wechselte vom Speisesaal in den Eingangsbereich des Hotels und bestellte bei der etwas schläfrig wirkenden Jungkellnerin, die zuvor auch schon das Abendessen serviert hatte, eine Flasche Rotwein. Als sie den ‚Cuvée Pannobile 2008‘ einschenkte, fiel Franz erneut das kleine silberne Medaillon auf, das sie verdreht um den Hals trug. Für einen Moment überlegte er, ob er sie darauf ansprechen solle und gleichzeitig, was denn wäre, wenn er aufstünde und das Kettchen mit der Edelweiß-Vignette so drehte, dass es richtig herumhing. Aber das wäre mit seinen zittrigen Alkoholhändchen, wie seine jüngste Tochter das Tremolo seiner Finger zu bezeichnen pflegte, schlechterdings ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, hatte er zum Abendessen doch erst zwei Gläser Grünen Veltliner getrunken – da konnte von einer ruhigen Hand noch nicht die Rede sein. Als hätte die Kellnerin seine Gedanken erraten, war sie auch schon verschwunden. Nach dem dritten Glas stellte er sich eine Was-wäre-wenn-Frage. „Was wäre, wenn ich mir das schläfrige Mädchen zum Geburtstag schenkte?“ Aber wie sollte die Übergabe des Geschenks vonstattengehen, dachte er, und wie, wann, wo mit dem Auspacken beginnen?
Drei Jahre später, am Tag seines 68. Geburtstages, notierte er über sein Verhältnis zu Geburtstagen und Jahreswechseln: „Meine Geburtstage waren mir immer ein Graus. Es gibt zwei Tage im Jahr, die ich fürchte: den Abend vor meinem Geburtstag und den Silvesterabend. An diesen Tagen verdichtet sich Gewesenes und Kommendes in allerkürzester Zeit. Ein für mich schmerzhafter, kaum auszuhaltender Moment. An jedem der beiden Tage überlege ich mir immer wieder, wann das alte Lebens- oder Kalenderjahr aufhört und das neue beginnt. Gibt es dazwischen eine Zeit? Und wenn ja, wie lang und wie kurz ist sie? Oder gibt es kein Ende und keinen Anfang? Sozusagen ein nahtloser Übergang, wo Neues und Altes sich kurz begegnen, eine Rutschpartie, weshalb man sich auch einen „Guten Rutsch“ wünscht. Das Neue überlappt ruckzuck das Alte. Das Gewesene wird vom Kommenden ausradiert. Ich weiß um meine Ansammlung von Gewesenem und habe überhaupt keine Neugier auf das Kommende, weiß ich doch aus Erfahrung, dass das Neue sehr schnell zum Alten wird. An diesen beiden Tagen, die ohne einen Rückblick beziehungsweise ohne einen Blick nach vorn undenkbar sind, wünsche ich mir immer, nie geboren worden zu sein oder mit einem großen Knall in den Boden zu versinken. In meines Lebens fünftem Akt angekommen, habe ich immer mehr das Bedürfnis, an diesen Tagen allein zu sein. Das entspricht einerseits meinem allmählich zur Neige gehenden Dasein, aber auch einer gewissen Alterssentimentalität, um die ich zwar weiß, sie in der Öffentlichkeit auch mehr oder weniger zu tarnen verstehe, die mir aber andererseits dergestalt zu schaffen macht, dass ich bei dem Gedanken, diese beiden Tage alleine verbringen zu müssen, in kräftiges Selbstmitleid versinke.“
Ungefähr in der Mitte des 30. Lebensjahres war bei Franz der Punkt erreicht, wo er dachte, den nächsten Geburtstag sowieso nicht mehr zu erleben, geschweige denn das Rentenalter. Immer wieder beschäftigte ihn der Gedanke eines frühen Todes. Und dann näherte sich sein fünfzigster Geburtstag. Franz sah ihn mit Grauen auf sich zukommen. Ein halbes Jahrhundert! Ein Lebensabschnitt, wie behauptet wird. Ein Tag des Zurückschauens. Mit Stolz oder auch ohne. Ein Tag der Zwischenbilanz. Aber Franz wollte nicht zurückschauen, weder mit Stolz noch ohne. Er wollte auch nicht bilanzieren. Es gab in seinem bisherigen Leben nichts zu bilanzieren. So hatte er damals gedacht. Er wollte den Geburtstag alleine begehen, allerhöchstens noch mit seiner Frau, die seinen Wunsch dahingehend unterstützte, dass sie ihn am Vormittag mit der Bemerkung in den Wald geschickt hatte, dass er dort, im Wald, seinem Wunsch nach Alleinsein nachkommen könne und am Abend werde man dann sehen – je nachdem wie er aus dem Wald zurückkehre, könne man vielleicht zu zweit essen gehen oder fernsehen oder was auch immer. Als Franz am Abend aus dem Wald zurückkehrte, traute er seinen Augen nicht. Im Garten hatten seine damalige Frau und seine Tochter liebevoll Biertische und Bänke aufgebaut. Die weißen Papiertischdecken waren mit bunten Blumen und Luftschlangen geschmückt, Lampions und Lichterketten in Sträuchern und Bäumen drapiert worden. Zwei Bierfässer wurden gerade angeliefert und Franzens Freund Bommes, der Fischverleiher und Weinhändler, war dabei einen Grill aufzubauen, neben dem ein nacktes Spanferkel seine vier Beine in den Himmel streckte. Alles war mit sehr viel Liebe arrangiert worden, und als Franz seine Frau ansah, die ihn mit einem Blick bedachte, in dem Ängstlichkeit und Stolz (ob der Überrumpelung ihres Mannes) miteinander rangen (sie wusste, dass dieser Mann Überraschungen nicht mochte), schlich sich eine Träne in sein Auge und er hatte sie, nicht ohne die ihm eigene Sentimentalität, in den Arm genommen. Der Geburtstag, der mit viel Liebe arrangiert worden war, war am späteren Abend noch heftig aus dem Ruder gelaufen. Erst hatte sich ein schlechter Schauspieler mit einem guten Kabarettisten prügeln wollen, was zunächst verhindert werden konnte, dann hatte der schlechte Schauspieler, der zu dem Zeitpunkt der Freund einer guten Schauspielerin gewesen war, ins Ehebett gekotzt, derweil Franzens ältester Freund, der wohl erfolgloseste Galerist aller Zeiten, mit der guten Schauspielerin im strömenden Regen auf einer Bierbank gesessen hatte und irgendwann, wie von einer Axt gefällt, rückwärts ins Gebüsch gekippt war, was die gute Schauspielerin jedoch nicht bemerkt und einfach weiter geredet hatte. (Das Weiterreden bestreitet die gute Schauspielerin heute noch. Allein deswegen kann man davon ausgehen, dass sie immer noch eine gute Schauspielerin ist!) Später war es noch zu einer Schlägerei gekommen, die trotz oder gerade wegen des ausgezeichneten Rotweins nicht verhindert werden konnte. Am nächsten Tag hatte Franz gemeinsam mit seiner damaligen Frau beschlossen, keinen seiner Geburtstage mehr zu feiern.
Weit nach Mitternacht saß Franz noch immer in der Eingangshalle des Hotels; mittlerweile bei der zweiten Flasche ‚Pannobile‘. Durch den Alkoholnebel in seinem Hirn geisterte die Frau Doktor und immer wieder griff er zum Handy in Erwartung einer Antwort auf seine SMS. Aber der Nokia-Knochen blieb stumm. Franz befand sich in einem Verliebt-Seins-Rausch. Ihm kamen Taucher in den Sinn, die ab einer gewissen Tiefe immer weiter tauchen, hinein in das Schwarz, das ihren Tod bedeutet. In letzter Zeit hatte er auch das Gefühl, dass etwas Schwarzes in ihm Oberhand gewann. Eine gewisse Lebensmüdigkeit oder eher ein Lebensüberdruss hatte sich in ihm eingenistet. Nicht in dem Maße, dass er sich hätte suizidieren wollen, aber Abneigung, Unlust und der Widerwille gegen das Tagesgeschäft namens Leben verstärkten sich. Wie sollte es weiter gehen? Wann würde das Ganze in eine solche Schieflage geraten, dass er aus dem Leben rutschte? Die Jungkellnerin unterbrach seine Gedanken durch einen Hustenanfall. Sie hing mehr hinter der Bar, als sie stand. Sicherlich ist diese Arbeit in der Hotelgastronomie, noch dazu in einem Seitental der Tiroler Alpen, kein Zuckerschlecken – dachte Franz – korrigierte aber seinen Gedanken sofort, da ihm klar war, dass das Wort ‚Zuckerschlecken‘ nicht annähernd die Bürde dieser Arbeit auszudrücken vermochte und der Begriff ‚hart verdientes Brot‘ eher zuträfe. Da war es wieder, dieses Kreißen im Kopf, diese ständige Suche nach dem richtigen Wort, was ihn immer wieder verzweifeln ließ, besonders in der Nacht, wenn alle falschen Worte wach wurden, sich am Fußende seines Bettes versammelten und im Gleichschritt auf ihn zu marschierten. Viele Worte verschwinden auch. Einfach so. Werden nicht mehr gebraucht. Schaffen sich selbst ab – wie Fräulein vom Amt, Tropfenfänger, Wählscheibe, Henkelmann, Bandsalat oder Matrizendrucker - oder werden abgeschafft, wie das 63 Buchstaben lange Wort:
Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz.
Franzens Blick glitt wieder auf die Bedienung. Er stellte sich vor, sie, so müde wie sie war, einzupacken und mitzunehmen, wenn er in ein paar Stunden nach Torri del Benaco führe. Dorthin hatte er Werner und Natia auf zwei Nächte und ein Abendessen ins ‚Gardesana‘ eingeladen, ein Hotel, in das André Gide (wie es die Anekdote will) krank einzog, um dort zu sterben. Beim Anblick des Sees aber, vom einzigen Balkon des Hotels, erwachten seine Lebensgeister aufs Neue und er beschloss ein weiteres Buch zu schreiben. Dieses ‚André Gide Zimmer‘ hatte Franz für Werner und Natia reservieren lassen, obwohl die nicht ans Sterben dachten und auch keine Schriftsteller waren. Für ihn und die Jungkellnerin stünde im Zimmer mit Seeblick ohne Balkon sicherlich ein großes Doppelbett bereit. Was brauchte es da noch einen Balkon, dachte er, trank und hatte für einen Moment gegenüber der Frau Doktor ein schlechtes Gewissen.
Zwei Jahr zuvor, einen Tag nach seinem 63. Geburtstag, hatte ihm seine damalige Frau mitgeteilt, dass sie ihn nach dreißig Jahren des Zusammenlebens verlassen werde, was sie ein knappes halbes Jahr später auch tat. Sie wollte ihr Geld und seinen Alkohol-Konsum nicht weiter mit ihm teilen. Als sie ihm das mitgeteilt hatte, im Garten, die Sonne schien aus einem juniblauen Himmel, hatte sich Franz zum ersten Mal im Leben aus Schwäche hinsetzen müssen. Er hatte immer wieder mal von „weichen Knien“ gehört, diese aber ins Reich der Redensarten verortet. In diesem Moment jedoch, im sommerlichen Garten, hatte er erlebt, wie Worte eine physische Reaktion auslösen können, wie ein nicht erwarteter Aufwärtshaken. Und als er so saß auf der Gartenbank, dachte er daran, dass man doch so sitzen wollte, irgendwann, nebeneinander auf einer Bank in Irland mit Blick übers Meer bis nach Amerika. „Du bist doch meine Lebensliebe“, hatte er laut gesagt, da war aber die Frau schon aus dem Garten verschwunden und aus dem Wort ‚Lebensliebe‘ entstand in seinem Kopf ‚Lebenslüge‘. Lange Zeit wütete der Schmerz so in ihm, dass er ihn immer wieder auskotzen musste. Das geschah oft ohne große Vorankündigung. Dann musste er auf die Bremse treten, an den Seitenstreifen fahren, und oft schaffte er es gerade noch, die Tür zu öffnen. Das zog sich fast über ein ganzes Jahr hin. Er versuchte so gut es ging mit dem Schmerz zu leben und wenn er im Morgengrauen unter der Bettdecke nach dem kleinen Fuß mit der schrundigen Ferse suchte, war ihm so traurig zumute, dass er nicht wieder hatte einschlafen können. Aber auch das war vorübergegangen.
Franz schaute auf die Uhr, und, wie er sich selbst das Versprechen abnahm, zum allerallerletzten Mal aufs Handy. Es war halb zwei, das Handy war stumm geblieben, die Jungkellnerin gähnte und sah von Minute zu Minute älter aus. Franz winkte sie heran und hielt ihr einen Fünfzigeuroschein hin. Sie schaute irritiert. „Ein Geschenk, weil ich seit anderthalb Stunden Geburtstag habe!“, sagte er mit schon schwerer Zunge. Darauf war sie nicht vorbereitet. Kam in der Berufsschule nicht vor. Wahrscheinlich in ihrem bisherigen Berufsleben auch nicht. Sie zögerte. „Warum?“ – „Einfach so!“, murmelte er. Der Schein zitterte in seiner Hand. Zu gering sein Wert, um die Geste misszuverstehen, zu generös hinsichtlich der kurzen Dienstleistung des Weinentkorkens und Einschenkens. Sie nahm ihn schließlich dankend an, nicht ohne ihm zu gratulieren. Ihre Hand war so schlaff wie ihre Gesichtszüge müde. Er stand auf, korrigierte ohne großen Aufwand das verdrehte Medaillon oberhalb ihrer Brust, wünschte eine gute Nacht und sah, im Weggehen sich noch einmal umblickend, wie das Medaillon wieder in die alte Position zurückhüpfte.
Der Nokia-Knochen gab Laut.
Schlaf- und rotweintrunken tastete Franzens Hand neben dem Bett nach dem linken Pantoffel, in dem er über Nacht immer sein Handy deponierte. Da war aber weder ein Handy noch ein Pantoffel. Mit einer Verzögerung stellte er fest, dass er nicht in seinem, sondern in einem Hotelbett lag. Dann fiel ihm ein, dass er sein Handy vorm Zubettgehen, das man eher als ein Zubettfallen hätte bezeichnen können, noch ans Ladegerät angeschlossen hatte. Jetzt fehlte ihm aber die Brille, um das Handy zu suchen. Daheim lag sie immer im rechten Pantoffel, da es aber in diesem Hotel nur weiße Badelatschen gab, erinnerte er sich, die Brille auf die verwaiste Doppelbetthälfte gelegt zu haben, wo er sie nach einigem nervösen Tasten auch vorfand. Er war fürchterlich aufgeregt und konnte es kaum erwarten, bis das Handy vom Einschalten über die Pin-Eingabe endlich in den Betriebsmodus wechselte. Sein Herz tat einen Hüpfer, als er den Absender der SMS las.
Betrifft: Ich hoffe und wünsche, dass ich Ihnen ein wenig fehle! – „Ein wenig fehlen“ ist wohl die Übertreibung schlechthin ... Wird ein seltsam reduziertes Frühstück heute. „It is always painful to part from people whom one has known for a very brief space of time. The absence of old friends one can endure with equanimity. But even a momentary separation from anyone to whom one has just been introduced is almost unbearable“*. Und wie sehr erst, wenn derjenige nicht bloß anyone ist ... Hoffe, das „momentary“ zieht sich nicht zu lange und es gibt bald eine Fortsetzung des Esprit der letzten Tage. K.v.O.
*(„Es ist immer schmerzhaft sich von Leuten zu trennen, die man für sehr kurze Zeit gekannt hat. Die Abwesenheit alter Freunde kann man mit Gleichmut ertragen. Aber die vorübergehende Trennung von jemandem, dem man gerade vorgestellt wurde, ist fast unerträglich.“) 2. Akt, Cecily, von Oscar Wilde
Wenn es stimmt, dass man vor Glück manchmal einen Luftsprung tut, dann stimmte es an diesem Morgen für Franz. Sein altes Herz sprang in ihm wie ein junger Grashüpfer auf einer Sommerwiese. Vier Minuten später schrieb er:
Betrifft: „Ich hoffe und wünsche, dass ich Ihnen ein wenig fehle!“
Sehr verehrte Frau Doktor, liebsten Dank für Ihre SMS! Sie hat mich berührt! Trinken Sie beide auf mein Wohl, zahlen tu ich später, herzlichst, Ihr Onkel aus Dingsda
Torri del Benaco
Man saß im Schatten des steinernen Säulengewölbes, das sich über die ganze Front des Hotels hinzog. Es war heiß. Die Bedienung, eine kleine, runde weibliche Person mit starken Augengläsern, kurzen Beinen und schief gelaufenen Absätzen brachte Wein. Mit einer kleinen Wehmut dachte er an die Jungkellnerin von gestern Abend. Aber man kann nicht alles haben, dachte Franz und ließ seinen Blick über den See gleiten, auf dessen anderer Seite sich im blauen Dunst ein riesiges Bergmassiv erhob. Der zweite Wein kam – die Gläser waren beschlagen.
Genauso hatte sich Franz das ‚Gardesana‘ vorgestellt. Vor seinem inneren Auge sah er Vila und Renz (die beiden Hauptfiguren aus Bodo Kirchhoffs Roman „Die Liebe in groben Zügen“) und eine ganze Truppe geschlechtlich und ungeschlechtlich Verzahnter seinen Geburtstag feiern. Er jedoch abwesend, im ‚André-Gide-Zimmer‘ mit der Frau Doktor beschäftigt, deren Lebensgefährte gerade dabei war, der Gratulanten-Runde seine Lache anzudienen.
„Ich dachte, diese Viecher gehen nur auf altes Obst!“, grummelte Franz vor sich hin und verscheuchte mit fahrigen Handbewegungen Fruchtfliegen, die ihn umtanzten und auf seiner schweißnassen Haut zu landen versuchten. Werner lachte. Drei von den Viechern hatte Franz schon aus seinem Weinglas entfernt, wobei Natia bereits bei dem ersten aufschrie und Franz aufforderte, das Glas auszuschütten, da die Tierchään in den Wein hineinschaiisen. „Ich den Wein wegschütten, weil Du ‘nen Knall hast?“, dachte Franz und nahm provozierend einen neuen Schluck. „Wenn Du Wein mit Schaiise trinken willst, bittaschöön!“ Wenn sie ihrem Knall mit den ‚Viechäärn‘ frönte oder zum hunderttausendsten Male behauptete, sie sei zu ‚dieek‘, hörte Franz ihr einfach nicht mehr zu. Das hatte er sich von Werner abgeschaut.
Außer den ‚Viechäärn‘ im Weinglas war Natia auch nicht entgangen, dass Franz immer wieder verstohlen auf sein Handy guckte. Ein unübersehbar Wartender. Sie kniepte ihm verschwörerisch zu, so, als hätte man ein gemeinsames Geheimnis. Hatte man aber nicht. Zum wiederholten Mal schaute Franz auf sein Handy. Da ihm das mittlerweile unangenehm war, zog er es unterhalb der Tischkante nur noch halb aus der Hosentasche, um einen Blick darauf zu werfen. Und dann: Bingo! Sein Herz blieb kurz stehen und fiel dann in einen gestreckten Galopp. Eine SMS von ihr. Unübersehbar: Katharina v. O. Franz schob das Handy schnell in die Hosentasche zurück, erhob sich demonstrativ gleichmütig, gab an, sich ein wenig die Beine vertreten zu müssen und ging, den Blick auf die dunstverschleierten Berge auf der anderen Seite des Sees gerichtet, betont lässig Richtung Wasser, um dort, außerhalb des Gesichtskreises von Werner und Natia, den Nokia-Knochen schon in der Hand, sich auf eine Bank zu setzen, eher fallen zu lassen. Ein gewaltiges Herzbeben begleitete seine zittrigen Finger beim Öffnen der Nachricht.
Da ich heute früh ob der fortgeschrittenen Stunde nicht annehmen durfte, der erste in der langen Reihe der Gratulanten zu sein, wollte ich wenigstens der letzte sein, und die 34. Wiederholung des freudigen Ereignisses mit den einfachen Worten eines Wiener Kindes beschließen. Und da es noch nicht 23.57 Uhr ist, gibt es auch keine Geburtstagswünsche. Noch nicht. Egal, wie ungeduldig der Vater des Vetters aus Dingsda schon wieder ist. Aber das ist ja nichts Neues.
So ganz verstand Franz den Inhalt der SMS nicht, besonders das mit der 34. Wiederholung und dem Wiener Kind und dem Vater des Vetters aus Dingsda, aber das war ihm egal. Verliebten kann man ja jeden Schrott anbieten, dachte er. Erst recht wenn sie fünfundsechzig geworden sind, Franz heißen, denken, dass ihnen, wegen einer frischen Liebesböe, die Welt wieder offen stünde und das Leben von vorn begänne. Wenn auch nicht ganz von vorn, so jedoch zu einem Zeitpunkt, an dem Franz sich wider besseres Wissen noch für jung und aufbruchsfähig hielt. Aber mit besserem Wissen ist kein Liebesfeuer zu löschen. Wie eine quadratische Zahlenfolge sollte in naher Zukunft Franzens Verstand abnehmen und durch einen sich kontinuierlich steigernden Liebeswahn ersetzt werden. Im Moment war er einfach nur glücklich, dass sie an ihn gedacht, ihm geschrieben hatte, egal, ob und was er verstand.
Er wollte gerade antworten, da schlenderten Werner und Natia auf ihn zu. Zum ersten Mal sah er sie händchenhaltend. Holzpflock und Stacheldraht. Aber wer war Pflock und wer Draht? Die beiden schienen glücklich, wollten vor dem Abendessen noch einen Spaziergang unternehmen und Franz mitnehmen. Obwohl ihm nicht danach war, sagte er zu. Dabei hasste er Spaziergänge. Schon allein das Wort! Ein sinnloses Wort für eine sinnlose Tätigkeit. Um es zu diskriminieren, sprach er es gern mit einem harten ‚t‘, hart mahlenden Wangenmuskeln und einer völlig überzogenen Artikulation aus: ‚Spatziiergang‘; ‚Spatziieren gehen‘. Da war nur noch Wut und Verachtung gegenüber einer Verrichtung, die Franz bis an sein Lebensende als etwas Kleinbürgerliches und Spießiges ansah. Flanieren ja – Spazieren nein. Und da war es wieder, sein Lebensproblem: Er ging Spazieren, obwohl er nicht wollte. ‚Neinsagen‘ war für ihn immer und immer wieder ein Gewaltakt. Und vor Gewaltakten scheute er zurück, obwohl er wusste, dass sie manchmal überlebensnotwendig waren.
Franz strebte danach, ein kompromissloser Mensch zu werden, aber der Abstand zwischen dem Franz, der er war, und dem, der er sein wollte, war immer noch zu groß. In dem Raum zwischen dem Ist und dem Soll hatten sich die Tragödien seines Lebens abgespielt, zum Teil voraussehbar, offenen Auges rein in die Scheiße, zum Teil, wie man so sagt, von hinten durch die Brust ins Auge geschossen. Und immer wieder waren Frauen mit im Spiel. Für seine Schwäche, sich nicht genügend abgrenzen zu können, hatte er in seinem Leben schon viel zahlen müssen, und er würde – was er zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht wusste – in dieser Hinsicht und in absehbarer Zukunft noch einmal heftig zur Kasse gebeten werden.
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