Kitabı oku: «Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt», sayfa 3
Die, denen es an Geist fehlt, an Vorstellungskraft, an Eindringlichkeit und Tiefe, brauchen Emotionen, Leidenschaften, Erhabenes und Katastrophen. Von der Scheingröße der Phänomene, ihrer Intensität lassen sie sich packen und messen ihnen Bedeutung bei in Funktion der Intensität.
Es gibt eine Sucht nach Heftigkeit, nach Gram und Jammer, nach Gemütsaufwallung und sogar nach Wirrsal.
Und doch ist diese Unordnung unendlich weniger reich, weniger bedeutsam, weniger groß als die Phänomene, die unsere Klarheit erhalten und uns instand setzen, den Schein vom Sein zu unterscheiden und die Ordnungsbereiche in uns selbst gesondert zu wahren.
Paul Valéry, Cahiers23
4. Ein geschärfter Geist
Der Siegeszug der wissenschaftlichen Methoden war auch im Königsberger Alltagsleben unübersehbar. Mediziner, Botaniker, Physiker und Chemiker hatten im 19. Jahrhundert weithin sichtbar an Ansehen gewonnen, etwa im selben Maß, wie das der Theologen gesunken war. Die wirtschaftlichen und politischen Revolutionen um 1800 hatten den Glauben an ein statisches Weltbild erschüttert und die Wissenschaft war das Vehikel, mit dem die Zukunft erschlossen werden sollte. Sie war der »Erzengel des Fortschritts«, durch den die Welt immer besser und lebenswerter zu werden versprach, und ihr hatten sich die drei Spaziergänger verschrieben. Auch sie waren »ehrlich überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur ›besten aller Welten‹ zu sein. Mit Verachtung blickte man auf die früheren Epochen mit ihren Kriegen, Hungersnöten und Revolten […]. Jetzt aber war es doch nur eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde, und dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen ›Fortschritt‹ hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; […] und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und der Technik.«24
Held des technikverliebten Bildungsbürgertums war Goethes Faust, der für sein hemmungsloses Wissenwollen am Ende nicht einmal büßen musste. Minkowski konnte lange Passagen auswendig.
Die Technik, die den Fortschritt trug, brauchte die Physik, die wiederum von der Entwicklung der Mathematik abhängig war. Nichts anderes als ein Reigen von Anwendungen dessen, was die Mathematik sich in den vergangenen 200 Jahren erarbeitet hatte, war die ganze Industrielle Revolution: »Dieses ganze Dasein, das um uns läuft, rennt, steht, ist nicht nur für seine Einsehbarkeit von der Mathematik abhängig, sondern ist effektiv durch sie entstanden, ruht in seiner so und so bestimmten Existenz auf ihr. Denn die Pioniere der Mathematik hatten sich von gewissen Grundlagen brauchbare Vorstellungen gemacht, aus denen sich Schlüsse, Rechnungsarten, Resultate ergaben, deren bemächtigten sich die Physiker, um neue Ergebnisse zu erhalten, und endlich kamen die Techniker, nahmen oft bloß die Resultate, setzten neue Rechnungen darauf und es entstanden die Maschinen.«25
Die Mathematiker konnten sich guten Gewissens als Teil der gewaltigen Entwicklung sehen, welche die Welt vor ihren Augen zum Besseren verwandelte. Auf die Jüngeren machte all dies den größten Eindruck, und bei Hilbert noch mehr als bei Hurwitz und Minkowski vermengte sich der Glaube an den Fortschritt mit dem Willen, den theoretischen Vorsätzen später auch Taten folgen zu lassen.
Dem unbeschwerten Geist des Fortschritts stand in der Mathematik allerdings ein anderer, strengerer Geist entgegen, der eine Reaktion war auf den lässigen Umgang der Barockzeit mit dieser exaktesten aller Wissenschaften. Die Mathematik war im 17. und 18. Jahrhundert häufiger im Ungefähren verblieben, als es ihr guttat. Sie war und blieb lange eine Hilfswissenschaft der Geographen, Astronomen und Bankiers, die kein Interesse hatten an dem, was wir heute »reine« Mathematik nennen. Sie wurde danach beurteilt, ob sie brauchbar war, geschmeidig im Umgang. Die Mathematiker schmückten sich in dieser Zeit lieber mit Anwendungen und Resultaten als mit der Erklärung der dahinterstehenden Techniken und Überlegungen.
Strenge Begründungen waren nicht wichtig, solange Mathematik und Physik noch eng zusammenhingen und sich die Richtigkeit von Rechnungen in der Natur, der größten Rechen- und Beweismaschine von allen, verifizieren ließ. Wenn eine vorhergesagte Wahrscheinlichkeit am Spieltisch keinen Erfolg brachte, wenn die Berechnung einer Umlaufbahn nicht mit der Beobachtung übereinstimmte, wenn eine Schwingung sich anders ausbreitete als vom Modell vorhergesagt, dann musste, wenn es sich nicht um einen bloßen Rechenfehler handelte, die Mathematik an die Realität angepasst werden und nicht umgekehrt. Sie diente als ein Handwerkszeug, das immer weiter verbessert wurde, wie ein Mechanismus, der immer effizienter lief.
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts stiegen die Ansprüche spürbar und das fröhliche Ausschreiten nach vorn hatte ein Ende. Nun wurden konkrete Definitionen verlangt für all die Begriffe, die in den vergangenen 150 Jahren gewissermaßen noch für bare Münze gegolten hatten. Ein Geist allgemeiner Nüchternheit begann sich auszubreiten und der Typ des praxisorientierten Machers wich dem Professor und Denker von Beruf. Strenge war nicht mehr ein Hindernis bei der Erreichung neuer (meist physikalischer) Ergebnisse, sondern das Ziel. Konnte man in der Zeit der Aufklärung Mathematik (wie auch die Philosophie) noch in Salons wie ein Kavalier betreiben und mit Anschauung, Intuition und Ästhetik argumentieren, so galt nun nur noch als seriös, was genau formuliert und begründet war, ohne Rücksicht auf den praktischen Nutzen. Es setzte sich ein misstrauischer Geist durch, der die metaphysisch inspirierten Gewissheiten der großen Vergangenheit nicht mehr akzeptierte. Die Mathematik borgte sich ihre Fragen nicht mehr von der Theologie oder der Naturwissenschaft, sondern stellte sie sich mutig selbst. Die großen Namen der Vergangenheit waren keine Garantie mehr für Richtigkeit.26 In gewisser Weise vollzog sich in der Mathematik derselbe Prozess, wie ihn Kant für die Philosophie auf die aufklärerische Spitze getrieben hatte. Was bislang als gesicherter Bestand des Wissens gegolten hatte, musste zunächst durch das Säurebad der Kritik gezogen werden, um dann, von allem Aberglauben und undeutlichen Gedanken gereinigt, eine tragfähige Geschäftsgrundlage zu bieten.
Als es etwa darum ging, den unsauberen Flirt mit dem Unendlichen zu klären, den Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Isaac Newton (1643–1727), die Schöpfer der Differenzial- und Integralrechnung, bei deren Formulierung eingegangen waren, wurde ein erheblicher Aufwand getrieben, die unendlich kleinen Wesenheiten, die das Herzstück dieser Technik bilden, mit einer Definition wieder einzufangen, die durch und durch endlich und damit greifbar war. Die wesentliche Idee war, sich gar nicht erst auf den Umgang mit unendlich kleinen Größen einzulassen, sondern sich mit beliebig kleinen unteren Schranken zufriedenzugeben, von denen man zeigen konnte, dass sie dennoch größer waren als die »Differenziale«, wie man die verschwindend kleinen Einheiten in der Kurvendiskussion nannte. Begriffe wie Stetigkeit (Kontinuität) und Differenzierbarkeit wurden voneinander abgegrenzt und festgelegt. »Grenzwert« und »Konvergenz« verloren ihre Schwammigkeit. Um den Unterschied zu früher deutlich zu machen, benannte man das Fach in Analysis um, und alles schien sauber und ordentlich, jedenfalls für eine Weile.
Aus dem Bestreben um die Sicherung der Grundlagen mit Hilfe von Konstruktionen entstand eine ebenso starke Tendenz zur Abstraktion. Zwei früh gestorbene junge Leute, Niels Henrik Abel (1802–1829) und Évariste Galois (1811–1832), schufen die Grundlage für die moderne Algebra, indem sie bei der Lösung des sehr alten Problems, wie man ein regelmäßiges Fünfeck mit Zirkel und Lineal konstruierte, weniger auf die Form des Ergebnisses als auf die Struktur und Symmetrie des Problems blickten (und damit noch zwei andere, ebenso alte Probleme lösten: die Verdopplung des Würfels und die Dreiteilung des Winkels). Die Antwort, warum diese Konstruktion unmöglich war, gab Galois, kurz bevor er sich in einem Duell erschießen ließ, aber sie war derart kompliziert, dass es noch viele Jahre dauerte, bis sie überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. Allerdings war sie so originell, dass sich die heute so genannte Gruppentheorie daraus entwickelte, einer jener ebenso wichtigen wie abstrakten Theoriebausteine, die für die moderne Mathematik (nicht nur die Algebra) unverzichtbar geworden sind (und deren Sinn und Stellung im Folgenden noch erklärt wird). Damit verfestigte sich in der Mathematik die Tendenz, Probleme weniger durch konkrete Konstruktionen als durch die logische Analyse abstrakter Strukturen zu lösen – und so für den Laien, dem das Abstrakte trocken und unfruchtbar erscheint, ungenießbar zu werden. Abstraktionen sind eigentlich Vereinfachungen, aber sie fühlen sich bei der ersten Begegnung oft nicht an wie eine Hilfe. Ihr Ziel ist es, große Klassen von Problemen auf ihren Wesenskern zu reduzieren. Durch die Einführung neuer Begriffe und Definitionen lässt sich ein höherer Standpunkt einnehmen, der tiefer blicken lässt und dadurch größere Zusammenhänge offenbart, die sich der bisherigen, naiveren Sichtweise entzogen.
Ein Feld, welches stark vom Streben nach Reinheit und Abstraktion im 19. Jahrhundert profitierte, war die Zahlentheorie. Hier können einfach klingende Fragen (nach den Eigenschaften der ganzen Zahlen) extrem unangenehme Antworten nach sich ziehen. So fällt etwa die Goldbachsche Vermutung unter die Zahlentheorie, wonach jede gerade Zahl, die größer als 2 ist, die Summe zweier Primzahlen ist (z. B. 8 = 5 + 3 oder 18 = 7 + 11 = 5 + 13). Diese These ist richtig für alle Zahlen bis 4 × 1018 (so weit haben es Computer heute geschafft, das Problem nachzurechnen), aber ein Beweis ist das nicht. Die Zahlentheoretiker tüfteln seit 1742 an einer Antwort.
Oder etwa der Große Satz von Fermat, wonach die Gleichung an + bn = cn für positive ganze Zahlen a, b, c, n, die größer als 2 sind, keine Lösung besitzt. Was also etwa für 32 + 42 = 52 geht, funktioniert nicht für höhere Exponenten. Warum? Pierre de Fermat (1607–1665), ein Jurist und Zahlentheoretiker, schrieb an den Rand eines Lehrbuches, er habe einen »wahrhaft wunderbaren Beweis« gefunden (demonstrationem mirabilem sane detexi), warum es keine Lösung geben könne, dieses Prachtstück könne er aber in der Kürze der Marginalie nicht ausführen. Damit gab er ein Rätsel auf, das erst 1994 gelöst werden konnte. Fermats Behauptung ist also richtig, aber der (heutige) Beweis ist erschütternd kompliziert – zu kompliziert für Fermats Möglichkeiten. Mit Fragen dieser Art beschäftigte man sich gerne im 19. Jahrhundert, und wer dies tat, hatte tatsächlich nur reine Mathematik im Kopf, denn Anwendungen waren hier nicht zu erwarten. Die Zahlentheorie ist das Gebiet der Mathematik, wo sie ganz bei sich ist und keine Rücksicht auf Planetenbewegungen oder sonstige praktische Dinge nehmen muss. Und wenn ihre Erkenntnisse doch einmal einen Anwender finden (wie heute in der Verschlüsselungstechnik), dann seufzen die Zahlentheoretiker und betonen, damit hätten sie nichts zu tun.
Die drei Königsberger Spaziergänger waren von genau diesem Aspekt besonders angezogen. Sie entwickelten eine gemeinsame Leidenschaft für die abstraktesten Teile ihrer Wissenschaft, neben der Zahlentheorie begeisterten sie sich auch noch für die Algebra (welche die Eigenschaften von Rechenoperationen untersucht). Sie waren fasziniert von den Möglichkeiten, die sich durch das Operieren in einer abstrakten Allgemeinheit ergaben, insbesondere von der Verbindung der verschiedenen Zweige der Mathematik durch die kreative Anwendung von Methoden in Bereichen, für die sie ursprünglich nicht bestimmt waren.
Methoden haben in der Mathematik etwa denselben Stellenwert wie die Fragen in der Philosophie: Sie sind das Ursprüngliche. Neue Methoden werden zum Zentrum neuer Zweige der Wissenschaft und treiben den Fortschritt voran. Sie geben den Begriffen erst ihren natürlichen Sinn und Ort, sie sind die eigentliche Idee. In einer immer abstrakter werdenden Gedankenkonstruktion werden die Methoden zum Wesentlichen, überwölben alle Anwendungsaspekte, die einst am Beginn der Überlegung gestanden haben mochten. Sie sind in der Mathematik das eigentliche Wagnis, wichtiger als die Sätze und Ergebnisse, die von ihnen nur abhängen. Neue Methoden sind aber anfangs immer umstritten, und der Weg vom kühnen »Ich darf das!« bis zur allgemeinen Akzeptanz und Anerkennung ist oft lang und steinig. An den alten Gewissheiten und den dazugehörigen Methoden zu rütteln ist jedenfalls ein Geschäft für junge Leute.
Die aufregendste methodische Neuerung zur Zeit der Königsberger Spaziergänge stammte zweifellos von Georg Cantor (1845–1918), dessen Name an vielen Ecken dieser Geschichte auftaucht, weil sein Thema die Unendlichkeit ist. Er bereicherte die Mathematik um einen ganz neuartigen Umgang mit dem Grenzenlosen und hinterließ dabei der Mengenlehre einen Sack voll Flöhe. Cantor war ein manisch-depressiver Professor aus Halle, dessen zweites Lebensthema (neben der Erforschung des Unendlichen) die Aufdeckung von Shakespeares wahrer Identität war. Beides waren Aufgaben, die leicht in den Wahnsinn führen konnten. Cantor kam mit Shakespeare nicht entscheidend weiter, aber für den Umgang mit dem Unendlichen schuf er Definitionen und Beweistechniken und errichtete damit ein Werk von bleibendem Einfluss und unbezweifelbarer Größe. Das Unendliche mit unseren irdischen Gehirnen zu umfassen, war (neben der Überwindung der »klassischen« Euklidischen Geometrie) das wohl ambitionierteste Projekt in der Mathematik des 19. Jahrhunderts, und es überrascht nicht, dass die daraus entstandene neue Mengenlehre in einen großen Streit über die Grundlagen der Mathematik insgesamt mündete.
Cantor führte verschiedene Grade der Unendlichkeit ein, eine Idee, die seine Lehrer an der Berliner Universität (insbesondere Leopold Kronecker (1823–1891)) erschauern ließ. Die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen 1, 2, 3, … ist eine Selbstverständlichkeit, denn es lässt sich keine größte natürliche Zahl benennen. Cantor zeigte nun, dass etwa die rationalen Zahlen (die sich als Brüche ausdrücken lassen, z. B. ½, ⅔, ¾, , ) so aufgeschrieben werden können, dass sich jede von ihnen einer natürlichen Zahl zuordnen lässt. Die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen entspricht damit der Unendlichkeit der rationalen Zahlen, obwohl es von den letzteren offensichtlich mehr gibt. Dies ist ein Resultat von Cantors Aufschreibtechnik, an der es nichts zu deuteln gibt. Die rationalen Zahlen sind also gleichermaßen abzählbar unendlich wie die natürlichen. Cantor zeigte nun, dass es sich mit den reellen Zahlen (die, grob gesprochen, neben den rationalen Zahlen auch solche enthalten, die sich nicht als Bruch schreiben lassen, also etwa die Kreiszahl – also alles, was sich irgendwie als Kommazahl ausdrücken lässt) anders verhält. Ihre Unendlichkeit hat eine andere Kragenweite – oder wie es richtig heißt: Sie ist von anderer Mächtigkeit (ihre Elemente lassen sich nicht in eine eineindeutige Beziehung bringen).27
Es lohnt sich an dieser Stelle den ebenso einfachen wie genialen Gedankengang Cantors nachzuskizzieren. Der Beweis beruht auf dem so genannten Diagonalverfahren. Dazu nimmt man an, die Unendlichkeit der reellen Zahlen sei von gleicher Mächtigkeit wie die der natürlichen (oder rationalen) Zahlen. Wenn das so ist, dann müssen sich die reellen Zahlen in einer durchnummerierbaren Liste aufschreiben lassen. Beispielsweise müssten sich alle reellen Zahlen zwischen 0 und 1 in willkürlicher Reihenfolge etwa so aufschreiben lassen:
0,50000000…
0,33333333…
0,25000000…
0,66666666…
0,20000000…
0,16666666…
0,40404000…
0,75000000…
Man betrachte nun die fett markierte Diagonalzahl: 0,53060600… und ändere sie an jeder Stelle, etwa indem man 1 hinzuzählt. Dann erhält man eine Zahl 0,64171711…, die gewiss nicht in dieser Liste ist, denn sie unterscheidet sich von jeder in der Liste enthaltenen Zahl an mindestens einer Stelle. Die Annahme, die reellen Zahlen ließen sich in einer abzählbaren Liste aufschreiben, führt zu einem Widerspruch, denn aus dieser Liste lässt sich eine Zahl konstruieren, die nicht in ihr enthalten ist. Also können sich die reellen Zahlen nicht in eine Liste bringen und abzählen lassen. Die reellen Zahlen haben damit eine andere Mächtigkeit als die natürlichen Zahlen. Sie sind überabzählbar unendlich.
Der Spaß fängt an, ernsthaft kompliziert zu werden, wenn man sich überlegt, ob es eine Menge gibt, deren Mächtigkeit zwischen der abzählbaren und der überabzählbaren liegt. Cantor vermutete, dass dies nicht der Fall war, aber er konnte es nicht beweisen, und so reichte er diese Vermutung als die »Kontinuumshypothese« an die kommenden Generationen weiter. Eine andere, ebenso schräge Frage war, wie die Menge aller unendlichen Mengen aussehen mag, in welcher also Mengen von allen Arten von Unendlichkeit vereint sind? Oder was war die Mächtigkeit einer Menge, die aus den Teilmengen einer unendlichen Menge bestand?
Das Establishment in Berlin, repräsentiert durch Kronecker, hielt allein schon den Gedanken, im Unendlichen nach Strukturen zu suchen, mit denen sich am Ende vielleicht sogar rechnen ließ, für surreal.28 Wohin sollte ein so lockerer Umgang mit dem Unendlichen führen? Hatte man nicht eben viel Mühe darauf verwandt, die Mathematik in den endlichen Bereich zu zwingen und das unordentliche Erbe der Differenzialrechnung aufzuräumen?
Der Umgang mit dem Unendlichen war immer unheimlich geblieben, auch wenn die Methoden und Definitionen immer besser und genauer wurden. Das Unendliche zu denken bedeutet, etwas in den Kopf zu bekommen, wofür es kein Bild, keine Vorstellung gibt. Das Unendliche existiert nicht in der Natur. Im Kleinsten besteht sie aus Quanten und auch im Größten lässt sich nicht ohne weiteres behaupten, unser Universum sei in Zeit und Raum unendlich ausgedehnt. Es kommt in unserer Erfahrung nicht vor, es ist nicht real, sondern reine Abstraktion. Die Endlosigkeit dennoch erfassen und durchdenken zu wollen bedeutet immer, im wörtlichen Sinne, an die Grenzen des Verstandes zu gehen. Wer es sich trotz allem zutraut, findet sich sehr schnell sehr allein.
Für seinen Mut, über die Grenzen des Endlichen zu gehen (und das Establishment zu verachten), bewunderte die mathematische Jugend und speziell das Trio vom Königsberger Schlossteich Cantor grenzenlos. Sie »verehrte in Cantor den originellsten zeitgenössischen Mathematiker zu einer Zeit, als in damals maßgebenden mathematischen Kreisen der Name Cantor geradezu verpönt war und man in Cantors transfiniten Zahlen lediglich schädliche Hirngespinste erblickte.«29 Cantor war aber nicht zum Helden geboren und für eine solche Auseinandersetzung mit Kronecker zu sensibel (wie es vielleicht bei einem Kopf, der das Unendliche umfassen konnte, nicht verwunderlich war) und endete, halb verhungert, 1918 in einem Sanatorium.
Hierauf beruht mithin diese ganze Kunst zu überzeugen. Sie ist in zwei Grundsätzen enthalten: alle Beziehungen, die man verwendet, zu definieren; und alles zu beweisen, indem man im Geist die definierten Ausdrücke durch die Definitionen ersetzt.
Pascal, Esprit géométrique
5. Hilbert geht nach Göttingen
Die Karrieren der drei Spaziergänger nahmen ihren normalen Lauf. Hermann Minkowski trat 1887 eine Lehrstelle an der Universität Bonn an und die gemeinsamen Ausflüge zum Apfelbaum fanden nur noch in seinen Ferien statt. In Preußens äußerstem Westen entwickelte er eine heimliche Leidenschaft für die Physik, seit er zunächst aus Langeweile (mathematisch war in Bonn nicht viel geboten) und später mit immer größerem Interesse bei Heinrich Hertz Vorlesungen hörte und sogar Experimente machte. An Hilbert berichtete er eher beiläufig davon. Er sei gelegentlich sogar im blauen Laborkittel anzutreffen, nannte sich einen »Praktikus, wie Sie ihn sich schändlicher gar nicht vorstellen können«,30 und schlug vor, sich vor seinen Besuchen im reinvernünftigen Königsberg mindestens zehn Tage von aller Praxis zu entgiften, um so wieder Anschluss zu finden an die dortige Gedankenwelt. Bei Hertz hatte er dessen Unbehagen an Maxwells Elektrodynamik und Newtons Mechanik mitbekommen, ebenso wie eine Begeisterung für die Gleichungen der Physik. Aus dieser Zeit hatte er sich ein Verständnis für experimentelles Vorgehen auch in der Mathematik bewahrt und betonte auch später immer wieder seine Erwartung, eines Tages werde die Zahlentheorie in der Physik Anwendungen finden.31
In Königsberg wurde Hilbert, der den eigentlich üblichen einjährigen Wehrdienst irgendwie vermieden hatte, 1886 mit 24 Jahren Privatdozent. Er verhielt sich aber nach wie vor eher wie ein Student als wie eine akademische Respektsperson, denn er hatte irgendwann, als die mathematischen Spaziergänge weniger wurden, wohl doch den Reiz der Tanzcafés am Königsberger Schlossteich entdeckt. Er tanzte gern und legte sich dabei nur selten auf eine bestimmte Partnerin fest, wie es damals die Sitte verlangt hätte. Er stellte fest, dass er bei den jungen Frauen recht gut ankam, und entwickelte daraus eine Überzeugung, die er bis ins hohe Alter beibehielt.
Zur Ausbildung eines Jung-Akademikers gehörten auch Reisen an die Hotspots des Faches. Also machte er sich 1885/86 zu den Größen des Fachs auf, nach Leipzig, wo zu dieser Zeit Felix Klein eine größere Gruppe von vielversprechenden oder bereits arrivierten Köpfen um sich versammelt hatte. Hilbert machte dort offensichtlich Eindruck und wurde weitergereicht nach Paris, wo der geniale Henri Poincaré lehrte. Viel gab es nicht zu berichten über das Treffen mit dem schüchternen und oft nervösen Franzosen (der einige Jahre unter preußischer Besatzung gelebt hatte und daher gut Deutsch sprach). Hilbert musste das nicht persönlich nehmen, denn Poincaré hatte zeitlebens nur wenige Schüler. Charles Hermite, der Minkowskis jugendliche Glanztat vor der Akademie verteidigt hatte, war hingegen sehr viel offener und freundlicher. Aber er war alt und allzu viel Neues war ihm in letzter Zeit nicht mehr eingefallen. Hilbert sammelte immerhin Eindrücke und Anregungen, schnupperte in den verschiedensten Ecken seines Fachs und konnte nach einem knappen Jahr zufrieden nach Königsberg zurückkehren.
Zu seinem Herzensthema in dieser Zeit entwickelte sich die Invariantentheorie. Invarianten tauchen an den verschiedensten Stellen auf in der Mathematik, etwa in der Projektiven Geometrie, ein Fach, das von den Malern der Renaissance angestoßen worden war. Diese wollten Bilder von dreidimensionalen Figuren auf gekrümmte Flächen projizieren, in die sie eigentlich nicht gehörten. Malt man eine menschliche Figur in die Kuppel einer Kirche, wie müssen dann die Proportionen im Gemälde sein, damit es aus der Perspektive des Gläubigen in der Kirchenbank einigermaßen realistisch aussieht? Welche Maßverhältnisse ändern sich, und welche bleiben invariant? Ein ähnliches Problem trat bei der Projektion des Globus auf eine ebene Landkarte auf: Wo wird das Bild verzerrt und wo bleibt es invariant? Oder: Winkel sind invariant gegenüber Skalierung, Drehung oder Spiegelung. Die Frage nach dem Gleichbleibenden taucht immer und immer wieder auf.
Diese praktischen Fragen führten zu einer Vielzahl von komplexen Fragestellungen. Dabei hatte sich als ein zentrales Problem die Frage nach der Endlichkeit der Basis eines Invariantensystems herauskristallisiert. Was das genau ist, muss hier nicht interessieren. An der Lösung dieses Problems arbeiteten die Mathematiker mit der größten Ausdauer, denn sie schien seitenlange Rechnungen zu erfordern. Der größte Ruhm warte auf den, der sich am seltensten verrechnete. Hilbert hatte sich mit dem Problem in seiner Habilitationsschrift beschäftigt und konnte ebenfalls als Experte gelten. Da er aber, wie er von sich selbst immer wieder sagte, nicht der Fleißigste war, kam er irgendwann auf die Idee, nach einem einfacheren Weg zu suchen, als nur Papier mit Gleichungssystemen zu füllen. Und diese Idee war sein Durchbruch. Anstatt Gleichungssysteme zu bearbeiten, fragte Hilbert sich, welches die Konsequenzen wären, wenn es keine endliche Basis gäbe, und fand heraus, dass dies zu einem Widerspruch führen würde. Damit konnte er zwar nicht sagen, wie eine konkrete Basis aussah, aber er wusste, dass es sie gab.32
Damit geriet Hilbert in einen Proteststurm aus der Richtung all der Mathematiker, die gerne Gleichungen lösten und Freunde konkreter Konstruktionen waren. Ihnen schien es ein logischer Taschenspielertrick zu sein, was Hilbert sich da erlaubte. Paul Gordan, bis zu Hilberts Auftritt der »König der Invarianten«, nannte Hilberts Vorgehen »Theologie«33 (wo Existenzbeweise in der Tat gerne geführt werden), es habe nichts mit Mathematik zu tun. Und Leopold Kronecker schimpfte sowieso über alles, was nicht nach einem Algorithmus konstruiert wurde. Er war der unbarmherzige alte Mann der deutschen Mathematik, dem Strenge und einfaches Konstruieren in endlichen Schritten über alles ging. Nach dem Muster der Schulmathematik sollte ein Beweis geführt werden, so wie man mit Zirkel und Lineal ein gleichseitiges Dreieck in immer der gleichen Weise konstruieren kann. Die Folge der fest vorgegebenen Schritte, nach welchen auch die Schüler mit den einfachsten Möglichkeiten eine Zeichnung oder Rechnung ausführen konnten, nannte man Algorithmus (jede konkrete schrittweise Handlungsanweisung nach dem Muster eines Kochrezeptes kann ein Algorithmus sein, benannt nach dem Mathematiker al-Chwarizmi, der um 800 in Bagdad wirkte). In der konkreten Einfachheit und Sicherheit der Algorithmen lag für viele Mathematiker ihr Charme. Alles, was ein »unpräzises, logisch-philosophisches Fundament« hatte, war eine intellektuelle Spielerei ohne Boden. Die Mathematik hielt Kronecker für eine Naturwissenschaft, die nicht mit Definitionen beginnen konnte,34 sondern nur mit den gottgegebenen natürlichen Zahlen und der Beobachtung der Natur. Definitionen in der Mathematik mussten »nicht bloß in sich widerspruchsfrei sein […], sondern auch der Erfahrung entnommen«.35 Greifbar und anschaulich sollte die Mathematik sein, kein logisches Formelspiel ohne Grund in der Realität. Er konnte nichts mit Existenzbeweisen anfangen, bei denen aus der Annahme der Nichtexistenz ein Widerspruch entstand. Was war ein Beweis wert, der im Dunkeln ließ, wie die Lösung konkret aussah?
Kroneckers ablehnende Haltung war ein echtes Problem für Hilbert, denn der Beweis, das Herzstück jedes Satzes, ist gerade in der höheren Mathematik abhängig von der Anerkennung durch die Kollegen. Ein Beweis wird praktisch nie vollkommen ausgeführt, mit jedem Zwischenschritt und in jedem Detail. In jeder Argumentationskette wird ein Vorwissen über bereits bewiesene Sätze und ein Konsens über erlaubte Schlusstechniken verlangt. Die höhere Mathematik wird nicht durch eine besondere ästhetische oder metaphysische Qualität zu etwas Höherem, sondern durch ihren freien Umgang mit der niederen Mathematik, deren Ergebnisse sie unkommentiert voraussetzt. Je höher die Mathematik, desto skizzenhafter werden ihre Argumente, damit sie sich nicht über hunderte von Seiten ziehen müssen. Der Beweis wird hier zu einer sehr losen Kette, die ihre Gültigkeit von außen, von der Akzeptanz der anderen Mathematiker erhält.36 So kann es passieren, dass mathematische Ergebnisse und Sätze über längere Zeit akzeptiert und verwendet werden, obwohl sich später herausstellt, dass sie falsch sind. Und umgekehrt kann es vorkommen, dass Beweise, die nur von einem oder wenigen Mathematikern verstanden und akzeptiert werden, sich nicht allgemein durchsetzen.37
Der Streit wurde in aller Öffentlichkeit ausgetragen, mit einer Reihe von Notizen in den Mathematischen Annalen. Am Ende setzte Hilbert sich durch, aber die Auseinandersetzung hinterließ Narben. Von nun an spürte er den Geist Kroneckers bei jeder mathematischen Arbeit über seine Schulter schauen, und insbesondere in seinen späteren Arbeiten zur Logik versuchte er stets den Bezug zur endlichen Konstruktion herzustellen. Aber immerhin war er nun in Mathematikerkreisen berühmt, sogar noch mehr als seine genialischen Jugendfreunde. Nichts fördert die Bekanntheit mehr als ein öffentlich ausgetragener Streit.
Als Hurwitz 1892 eine Stelle als ordentlicher Professor in Zürich antrat, wurde es in Königsberg dennoch erst einmal einsam um Hilbert. Ihm blieben zwar einige begabte Studenten (u. a. Arnold Sommerfeld), aber unter den Professoren fehlten nun die Schwergewichte, mit denen er seine Ambitionen verwirklichen konnte. In eben diese Zeit mangelnder mathematischer Ansprache fiel sein Entschluss, Käthe Jerosch zu heiraten, um deren Gunst er sich schon eine Weile bemüht hatte. Er hatte zwar noch keine gute Stellung, aber hervorragende Aussichten, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er an eine bedeutende Universität berufen würde. Ein gutes Jahr später, 1893, kam ein Kind zur Welt, Franz, drei Jahre später folgte der Ruf als ordentlicher Professor nach Göttingen. Dort hatten die Schwergewichte Gauss, Dirichlet und Riemann gelehrt, die der Stadt und ihrer Universität auf dem Feld der Mathematik im 19. Jahrhundert eine in alle Welt ausstrahlende Aura verliehen hatten. In Göttingen bauten sich die Hilberts bald ein schönes Haus und das Leben war nun wohlgeordnet wie die natürlichen Zahlen. Hilbert hatte eine Frau, ein Kind, ein Haus, für die Vollendung des Idylls fehlte nur noch ein Hund. Mitte 30 war er jetzt, im kreativsten Mathematiker-Alter, er hatte Karriere gemacht und war auf dem besten Wege, ein bedeutender Mann zu werden.