Kitabı oku: «Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt», sayfa 4
Den Ruf nach Göttingen hatte Hilbert 1895 auf Betreiben von Felix Klein erhalten, der dort seit 1886 Ordinarius für reine Mathematik war. Klein war ein hervorragender, aber vielleicht allzu selbstbewusster Mathematiker, der bereits im Alter von 23 Jahren als Professor berufen worden war und in seiner Antrittsrede die Zunft mit seinem Erlanger Programm verblüfft hatte. Das war nicht nur eine starke Geste, sondern auch tiefgreifende Mathematik. Klein war mit einer Enkelin des Philosophen Hegel verheiratet, was in ihm die Überzeugung befestigt haben mochte, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Jedenfalls war er ein erstklassiger Mathematiker, der jeden Winkel seiner Wissenschaft durchforschen und zu einem einheitlichen Gebäude zusammenfügen wollte.
Der Fanfarenstoß, mit dem Klein in Erlangen den Beginn seiner Karriere eingeleitet hatte, sollte die Welt auf den Zusammenhang zwischen Geometrie und Gruppentheorie aufmerksam machen, ein damals noch neues Thema. Gruppen haben anschaulich viel mit Symmetrie zu tun. Entdeckt wurden sie von dem bereits erwähnten Évariste Galois, als dieser sich an Permutationen von Lösungen algebraischer Gleichungen abarbeitete. Permutationen sind in gewisser Weise symmetrisch, weil man dabei in einer gegebenen Ordnung ein Element so lange an den Ort des anderen schickt, bis alle wieder einen Platz haben im System (wie beispielsweise beim Mischen von Spielkarten oder bei Anagrammen). Portraits von Dürer oder Leonardo da Vinci sind in ihrer Anlage meist symmetrisch, in Form von Spiegelungen der einen Gesichtshälfte auf die andere (Achsensymmetrie). Spielkarten sind symmetrisch in dem Sinn, dass sie sich um 180° drehen lassen und wieder dasselbe Bild ergeben (Rotationssymmetrie). Ebenso verhält es sich mit einem fünfzackigen Stern, einem Drudenfuß, den man um ein Fünftel oder zwei Fünftel oder gerne auch fünf Fünftel dreht und der anschließend wieder genauso aussieht wie vorher. Solcherart symmetrische Transformationen bilden eine Gruppe.38
Diese Gruppen also brachte Klein in seinem jugendlichen Überschwang mit der Geometrie zusammen, indem er behauptete, dass eine Geometrie von nichts anderem bestimmt werde als von ihrer dazugehörigen Transformationsgruppe. Auf eine solche Idee konnte er nur kommen, weil im 19. Jahrhundert die Auffassung ins Wanken geriet, was eine Geometrie im Kern eigentlich war. 2000 Jahre lang hatte als ausgemacht gegolten, dass Euklids Darstellung der Geometrie, wie sie bis heute in den Schulen unterrichtet wird, die einzig richtige sei. Falsch!, so stellte es sich in den Jahren nach der Französischen Revolution heraus. Es gab, bei genauer Betrachtung des Verhaltens von Parallelen im Unendlichen, auch noch andere Geometrien, in welchen sich Maße, Winkel und Verhältnisse ganz anders verhielten, als es die Schulbücher wahrhaben wollten.39
Der Schlussstein von Kleins Programm sollte die Theorie der automorphen Funktionen sein, welche er zunächst in der ruhigen Selbstgewissheit seiner eigenen Genialität verfolgte – bis er plötzlich realisieren musste, dass der damals noch völlig unbekannte, abseits in der französischen Provinz arbeitende Henri Poincaré, noch jünger, noch genialer, dasselbe Ziel wie er verfolgte. Zwischen den beiden entstand eine Korrespondenz, die eigentlich ein Wettlauf um die Krone ihrer Wissenschaft war, bei dem Klein sich nur knapp zu einem Unentschieden retten konnte. Bei diesem Wettstreit hatte er viel Energie gelassen und die Erkenntnis gewonnen, dass er in Poincaré seinen Meister gefunden hatte. Das führte zu einem Zusammenbruch, wie ihn sehr viele Mathematiker irgendwann in ihrem Leben einmal haben. Äußerlich erholte Klein sich zwar, aber er fand nie wieder zur alten Höhe seiner Schaffenskraft zurück. Nach seiner Krise blieb er ein hervorragender Mathematiker, aber angesichts seiner nunmehr selbst erkannten Grenzen versuchte er seine Ziele künftig in Zusammenarbeit mit anderen zu erreichen. So wurde er zu einem Wissenschaftsorganisator, also einem Mann, der viel Zeit damit zubringt, bei Ministern und privaten Geldgebern um zusätzliche Mittel zu bitten, nach geeignetem Personal zur Verstärkung Ausschau zu halten und auf Fakultätssitzungen die feindlichen Kollegen gegeneinander auszuspielen. Er brachte nicht nur den fachlichen Überblick, sondern auch die charakterliche Kompetenz mit, zur grauen Eminenz seines Faches in Deutschland zu werden, und die Universität Göttingen war seine Burg. Klein wurde 1897 erstmals Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, vertrat die Universität ab 1908 im preußischen Herrenhaus, sein Ruhm verbreitete sich aber auch international. In den USA wurde er 1904 zum Mitglied der American Academy of Arts and Sciences gewählt.
Felix Klein war ein schwieriger Charakter mit ausgeprägtem Ehrgeiz und Machtinstinkt, dem man aber zugutehalten musste, dass er eine Schwäche für andere schwierige Charaktere hatte und eine hohe Streitkultur pflegte. Max Born, Doktorand bei Klein und später Mitschöpfer der Quantenmechanik, nannte seinen Lehrer ganz ohne Augenzwinkern den »Großen Felix«.40 Seine Neugierde auf Menschen und seine Offenheit für frische Bekanntschaften war für das Fach so ungewöhnlich groß, dass man ihn bei den strengen, pünktlichen und nicht mehr jungen Kollegen in Berlin für unseriös hielt. Ein »Faiseur« sei er, hieß es in den Protokollen zur Frage der Berufung Kleins in die Hauptstadt, ein »Blender«, der zwar gut vortrug (obwohl »im Feuilletonstil«), aber doch nur »naschte« und seine »Versprechungen nicht halte«, ohne rechte Substanz, ein Mann mit dem ein »Zusammenarbeiten hier unmöglich sei«.41
Der Tradition seit Gauss entsprach es, die Mathematik mit den mathematischen Wissenschaften (ihren praktischen Anwendungsgebieten) zu verschränken, und Klein hatte ein Auge darauf, dass in Göttingen auch bei den Physikern und Astronomen das passende Personal gefunden wurde. So entstand eine ganze Tafelrunde von mathematischen Köpfen der verschiedensten Orientierung, die rasch auf ganz Deutschland ausstrahlte und dem verknöcherten Berlin die Talente abspenstig machte. Dort war um 1890 zwar die größte Ansammlung an großen Namen zu finden (Kronecker, Kummer und Weierstraß), aber es handelte sich dabei um alt gewordene Männer, die ihre schwindende Energie in die Veranstaltung ihrer Werkausgaben investierten. Göttingen hatte dagegen, obwohl die Universität relativ jung war, eine große mathematische Tradition und, wichtiger, die Köpfe der Zukunft vorzuweisen.
Nach und nach gelang es dem »mathematischen Diktator von Göttingen« – auch dies ein Diktum Max Borns –, die größten Talente Deutschlands (und der USA) in seinem Imperium zu versammeln. Und so hatte er auch Hilberts Begabung und seine methodische wie fachliche Breite früh erkannt, sich zu dessen Mentor gemacht und ihn, sobald er gereift war, von Königsberg nach Göttingen gelockt. Und in Kleins Imperium entwickelte sich Hilberts Karriere weiterhin sehr erfreulich.
Hilbert schrieb zunächst mit Minkowski einen Bericht (eigentlich ein Buch) über algebraische Zahlentheorie,42 ein für Laien unzugängliches Thema, welches unter Kennern als besonders abstrakt und tief gilt und Hilbert endgültig in die erste Reihe der deutschen Mathematiker brachte. Für seinen Ruhm und seine Stellung in der Community war der »Zahlbericht« wichtig. Folgenreicher war aber ein kurz danach veröffentlichter Festschriftbeitrag über die Grundlagen der Geometrie,43 der eigentlich ein Reformprogramm für die ganze Mathematik war.
Beinahe jeder Mathematiker findet irgendwann seine Methoden und Themen, zu denen er immer wieder zurückkehrt, das scheint in der menschlichen Natur zu liegen. Manche Historiker verlieren sich in der Alltagsgeschichte und sehen in ihr den Schlüssel zu allem. Es gibt Fußballer, die einen bestimmten Laufweg die Strafraumkante entlang entwickeln, der kaum zu verteidigen ist. Und es gibt Geschäftsleute, die auf jedes Problem mit neuen Schulden reagieren. Die meisten Menschen gehen mit den unterschiedlichsten Problemen auf die immer gleiche Weise um – man kann von Lebenswerkzeugen sprechen, so wie man in anderem Zusammenhang von Lebensthemen sprechen kann.
Auch Hilbert hat einen solchen archimedischen Punkt und er lässt sich erstmals in seinen Grundlagen der Geometrie greifen. Es handelt sich um die axiomatische Methode, die er hier zum ersten Mal deutlich ausbuchstabiert und die von nun an zu einer Art Leitmotiv für seine ganze Arbeit wird. Sie ist die auf den Begriff gebrachte Essenz von Hilberts Lebenswerk.
Im Grunde entdeckt er lediglich eine 2000 Jahre alte Einsicht des berühmten Euklid von Syrakus wieder, die als mathematische Selbstverständlichkeit durchgehen kann: Euklid stellt bestimmte oberste Grundsätze auf, Axiome genannt, deren Wahrheit offensichtlich ist und die damit eigentlich ziemlich langweilig sind. So legt er etwa fest, dass »jede Linie in beide Richtungen unendlich verlängert werden kann« oder dass es »zu jedem gegebenen Punkt und Radius genau einen Kreis gibt«. Dazu kommen noch eine Handvoll Definitionen, was etwa Kongruenz ist oder ein Punkt oder eine Linie. Aus diesen Axiomen und Definitionen lässt sich alles weitere ableiten, all jene Sätze der Euklidischen Geometrie, die wir in der Schule in der 7. Klasse lernen.
Seit der Antike stand dieses Gebäude strahlend und unangetastet als ein Ideal von einfacher Klarheit. Die Methode wollte Hilbert beibehalten, bei der sich aus genau definierten Grundprinzipien die ganze Theorie (in diesem Fall: die Geometrie) systematisch, in endlichen, und auch für einen Kronecker nachvollziehbaren, Schritten entwickeln ließ, als endliches Spiel im unendlichen Universum der Mathematik. Inhaltlich musste sich allerdings einiges ändern. Schon Gauss und einige seiner Zeitgenossen fanden das System zu eng. Und als Hilbert es sich ansah, stellte er fest, dass es nicht nur eng war, sondern auch lückenhaft und anfällig für Widersprüche. Sein Anliegen in der Festschrift war es, an dieser Stelle aufzuräumen und ein System zu finden, in welchem sich die ganze Geometrie lückenlos und widerspruchsfrei ableiten ließ. Im Stil und Geist Euklids sollte am Ende die ganze Mathematik44 auf »ein einfaches und vollständiges System voneinander unabhängiger Axiome« zurückgeführt werden, um die »Tragweite der aus den einzelnen Axiomen zu ziehenden Folgerungen möglichst klar zu Tage« treten zu lassen.45
Also zerlegte er die Geometrie, wie einst schon Euklid, nur gewissenhafter, in ihre grundlegenden Bestandteile. Die Anfangsgründe goss er in saubere Definitionen – und ließ den Rest sich logisch entwickeln. Das war die axiomatische Methode, die zum Dreh- und Angelpunkt von Hilberts Denken wurde, zum Ausgangspunkt eines Denkens in Systemen und Strukturen, das sich keinen Theologievorwurf gefallen lassen musste.
Waren die Anfangsgründe erst einmal genannt, so müsste sich aus ihnen die Wissenschaft wie das Gehäuse einer Schnecke spiralförmig aus einem innersten Punkt konstruieren lassen, in immer größeren (aber endlichen) Windungen, zu einem vollständigen und abgeschlossenen Ganzen. Das Geschäft der Ableitung der mathematischen Sätze war somit wenig mehr als eine automatische Prozedur und könnte, wie später die Pioniere des Computerzeitalters folgerten, auch von einem Rechenapparat durchgeführt werden. Hilberts Traum einer lückenlos geführten Beweiskette für die Mathematik trug als Samen die Idee einer logischen Maschine in sich.
Die mathematische Welt war ernsthaft geschockt, als Hilbert wissen ließ, sie arbeite seit der Antike auf einer ungeklärten Grundlage. Sie hatte sich auf Euklids großen Namen verlassen und sich nie die Mühe gemacht, seine Arbeit im Detail zu durchleuchten. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit, die Hilbert für seinen Versuch erntete, die Geometrie (und damit weite Teile der Mathematik überhaupt) in ein logisch sauberes System zu bringen. Damit war er nun ein in Mathematikerkreisen berühmter Mann.
Hermann Minkowski wurde zur Jahrhundertwende wie Hurwitz Professor, und zwar am Polytechnikum (heute: Eidgenössische Technische Hochschule) in Zürich. Er hatte das frühe Versprechen seiner Genialität eingelöst und sich in der abstraktesten Ecke der Mathematik niedergelassen, dort, wo sich Zahlentheorie und Geometrie trafen.
Die Briefe, die Minkowski in den 1890er Jahren aus Zürich an Hilbert schrieb, handelten von der Mathematik, die beide bewegte, vom Glück, das er in seiner jungen Familie gefunden hatte, und von den frustrierenden Versuchen, seinen begriffsstutzigen Studenten etwas beizubringen. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, wäre seine Hörerschaft in der Vorlesung über Analytische Mechanik nicht ein besonders bunter Haufen gewesen, bestehend unter anderem aus Albert Einstein und dessen Freundin Mileva Marić, dem mit beiden befreundeten Physiker und Sozialisten Friedrich Adler (der 1916 den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Stürgkh erschoss) sowie (vermutlich) Marcel Grossmann, der später wesentliche Teile der Mathematik für die Relativitätstheorie zulieferte. Minkowski sah aber keine Begabungen vor sich: »Die Leute, und auch die tüchtigsten unter ihnen, sind gewohnt […] dass man ihnen alles um den Mund schmiert. Zu jeder ihrer sonstigen Vorlesungen gehören stets Repetitorien und Übungen. Solche soll ich nicht abhalten, da die Leute schon sehr überhäuft sind, und da ich doch nicht immer bloß an der Oberfläche des zu behandelnden Stoffes bleiben kann, ist die Folge, dass ich nur noch ein Drittel feste Zuhörer habe, während die anderen bloß sporadisch auftauchen […] Ich werde in der Popularisierung des Stoffs bis an die äußerst mögliche Grenze gehen müssen; denn auch diejenigen, die mich vielleicht um wissenschaftlicher Leistungen wegen genommen haben, wollen schließlich für ihr Geld auch etwas haben […] Auch die eigentlichen Mathematiker, deren Zahl aber sehr gering ist, sind durch alle Kollegien, die sie sonst hören müssen, so in Anspruch genommen, dass sie nur genießen können, was ihnen zerschnitten und zerlegt nach gewaltsamer Öffnung des Mundes eingetrichtert wird.«46
Die Analytische Mechanik aus dem Munde Minkowskis war die erste und letzte Vorlesung über mathematische Physik, die Einstein als Student in Zürich hörte. Diese schüchtern und oft stotternd gehaltenen Vorträge waren nichts für ihn, auch nicht in der abgespeckten Variante, und so ließ er die feingliedrige mathematische Ausbildung, die Hurwitz und Minkowski in Zürich anboten, liegen wie ein Kind, das auf den Apfel zu Gunsten der Schokolade verzichtet. Sein Interesse galt allein der Physik, den Sachen selbst, nicht ihrer Formulierung – und er meinte in dieser Zeit noch, das eine ließe sich vom anderen trennen. Er ging davon aus, wie er sich kurz vor seinem Tod erinnerte, »dass es für den Physiker genüge, die elementaren mathematischen Begriffe klar erfasst und für die Anwendungen bereit zu haben, und dass der Rest in für den Physiker unfruchtbaren Subtilitäten bestehe – ein Irrtum, den ich erst später mit Bedauern einsah. Die mathematische Begabung war offenbar nicht hinreichend, um mich in den Stand zu setzen, dass Zentrale und Fundamentale vom Peripheren, nicht prinzipiell Wichtigen zu unterscheiden.«47
Es passiert gelegentlich, dass die besten Köpfe einer Generation nicht miteinander reagieren, obwohl sie miteinander über dasselbe Thema reden und dasselbe Interesse haben. Geniale Köpfe sind oft eitel und selbstbezogen und müssen sich immer ganz auf ihr Ding konzentrieren, um nicht die Richtung zu verlieren. Das macht sie manchmal zu schlechten Zuhörern. So war es auch bei Einstein, der viel bei Minkowski hätte lernen können, und bei Minkowski, der nicht realisierte, dass der eigenbrötlerische Einstein über Zusammenhänge brütete, für die er selbst sich auch interessierte. Die beiden sollten freilich noch voneinander hören.
Wenn ein paar große Formeln glücken, so muss das alles Eins werden, alles aus Einem entspringen und zu Einem zurückkehren.
Goethe48
6. Die 23 Probleme in Paris
Niemand ist freiwillig im August in Paris. Es ist heiß, die Stadt voll von Touristen, die guten Restaurants haben geschlossen und die Elite, die Künstler, die Politiker, die Patrons und ihr Anhang begeben sich, je nach Vermögen, auf ihre Landsitze oder an die Strände. Sie lassen eine stickige Hülle zurück, deren Glanz dann bloß noch architektonisch und, man wird das Gefühl nicht los, etwas geistlos ist. Das ist heute nicht anders als zur Zeit der zweiten Republik.
Der Sommer des Jahres 1900 aber war eine Ausnahme, Paris ächzte unter der größten Weltausstellung, die es bis dahin je gegeben hatte. Die Exposition universelle zählte am Ende etwa 50 Millionen Besucher (Frankreich hatte zu dieser Zeit 40 Millionen Einwohner), die den ganzen Sommer hindurch staunend Phonographen, Filmtheater, die Métro, den neuen Gare d’Orsay, das Petit und das Grand Palais oder einen mit Erdnussöl angetriebenen Motor bewunderten, die ihren Spaß hatten auf der »Straße der Zukunft«, deren Bürgersteig mit einem Laufband (Plate-forme roulante) ausgestattet war, oder gaben sich dem Zauber der neuen, mit Dampf oder Elektrizität getriebenen Erfindungen hin, die aus allen Winkeln der westlichen Welt herbeigeschafft worden waren. Paris war so geputzt und geschmückt, wie man es sich für den Beginn und die Begrüßung des neuen Jahrhunderts nur wünschen konnte, auf über 200 Hektar Fläche, die mühsam in der Stadt und in Vincennes freigeräumt wurden, präsentierten 83.047 Aussteller aus aller Herren Länder ihre zukunftsträchtigsten technischen Erfindungen und die neuesten Errungenschaften für die Arbeiterwohlfahrt. Um den Eiffelturm gab es eine Budenstadt mit allerlei Attraktionen, wie etwa einem Biergarten, den dort die Spaten-Brauerei errichtet hatte, mitsamt einer »oberbayerischen Kapelle, die ununterbrochen Wagner spielte«.49 Es gab einen palais de l’électricité im Rokoko-Stil aus Eisen und Glas, mit vorgelagertem Wasserschloss, umgeben von den raffiniertesten Brunnen, Fontänen und Wasserfällen, die bei Nacht bunt erleuchtet und so zu einer Machtdemonstration der neuen Energieform wurden. Diese Weltausstellung war eine eigentümliche Mischung aus Vergnügungspark und technischer Leistungsschau, die beim Publikum ausgesprochen gut ankam.
Motto der Ausstellung war: »Bilanz eines Jahrhunderts«. Darunter durfte jeder das seine verstehen, und so wurde sie zu einer vollkommen ungeordneten Enzyklopädie von allem, was Zukunft hatte, eine Demonstration des Fleißes der Menschen und der Macht der Nationen. Der offizielle Katalog umfasste am Ende 36 Bände und wurde ein Zeugnis für eine zerfallende, unordentliche und kaum noch verständliche Welt. Der Blick zurück war stolz angesichts des Erreichten, aber auch ein wenig ratlos, denn es fehlte ihm die Perspektive in die Zukunft. Wie sollte es besser werden als in diesem friedlichen, fortschrittlichen und immer wohlhabenderen Jahrhundert? Kein Wunder, dass die Zeit sich in das Gewand des Historismus kleidete und in eine melancholische Fin-de-siècle-Stimmung verfiel.
Zwei Veranstaltungen, die in der eitlen Hoffnung auf Anerkennung parallel zur Weltausstellung in Paris abgehalten wurden, mussten in diesem Fest der Moderne weitgehend ohne öffentliches Interesse auskommen: Die Olympischen Spiele und der Internationale Mathematiker-Kongress. Von beiden findet sich im zeitgenössischen Schrifttum zur Exposition universelle kaum eine Erwähnung. Was war die Muskelkraft eines Dauerläufers schon gegen den neuen Dampfdynamo der Siemens & Halske AG? Wer tat sich mathematische Vorträge an, wenn nebenan die neuartigen Streichhölzer aus Schweden oder ein Schmerzmittel namens Aspirin der staunenden Öffentlichkeit vorgeführt wurden?
Zu dem Mathematiker-Kongress hatten sich ursprünglich immerhin 1000 Teilnehmer angesagt, es waren aber nur 250 erschienen. »Der Besuch war nicht sehr stark, weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht«,50 tröstete Hilbert, der die Reise auf sich genommen hatte, den in Zürich gebliebenen Hurwitz. Darüber hinaus erfüllten sich Minkowskis geringe Erwartungen an das Publikum: »Man wird zum größten Teile […] französische Schullehrer und exotische Mathematiker, Spanier, Griechen etc. sehen, denen es im August in Paris noch kühl gegen ihre Heimat vorkommt.«51 Mancher Teilnehmer hatte dann auch bald genug, wie etwa die Amerikanerin Charlotte Scott, die über den »schockierend schlechten« Vortragsstil auf dem Kongress berichtete. »Anstatt zum Publikum zu sprechen, lesen die Vortragenden ihr Skript sich selber in einer monotonen Stimme vor, die manchmal gehetzt, manchmal zögerlich und oft gelangweilt ist.«52
Zugpferd der Veranstaltung war Henri Poincaré. Er hatte seit seiner Korrespondenz mit Felix Klein noch Erstaunliches in Mathematik und Physik geleistet, insbesondere hatte er unter großer Anteilnahme des Publikums das Mehrkörperproblem angegangen (das Problem der Beschreibung eines Systems von miteinander wechselwirkenden Teilchen oder Körpern, wie etwa unser Sonnensystem). Selbstverständlich war er Präsident des Kongresses und hatte den Eröffnungsvortrag gehalten. Das Gegenstück dazu, die Abschlussrede, sollte der kommende Mann der Mathematik halten, und es war mittlerweile Konsens, dass dies kein anderer sein konnte als Hilbert. Beide hatten den größten Respekt für die Arbeit des jeweils anderen, aber in einer entscheidenden Nuance, die sich im Lauf des 20. Jahrhunderts von einer Frage des Geschmacks zu einem Grundsatzproblem entwickeln sollte, unterschieden sie sich doch stärker, als es ihnen im Jahr 1900 vielleicht bewusst war. Wenn es je eines Beweises bedurfte, dass die letzte Instanz in allen menschlichen Angelegenheiten der Geschmack – oder dessen Abwesenheit – ist, so erbrachten ihn die beiden prominentesten Mathematiker des Epochenwechsels zum 20. Jahrhundert, indem sie sich in allen sachlichen Fragen einig sein konnten (und es um der Freundschaft willen auch sein wollten), in der Benennung der Anfangsgründe ihrer Wissenschaft (also den Prinzipien, welche vor jedem mathematischen Inhalt und Ergebnis lagen) aber grundsätzlich verschiedener Auffassung waren. Und eine unterschiedliche Auffassung über die Natur der mathematischen Entdeckung führte Hilbert und Poincaré zu einer am Ende weithin sichtbaren Differenz in der Ansicht, was in der Mathematik als salonfähig gelten konnte und was nicht.
Poincaré war ein in Mathematikerkreisen seltener Schöngeist und Stilist. Kongresse langweilten ihn,53 aber er war sich nicht zu schade, allgemeinverständliche Bücher zu schreiben oder Tiefgang in philosophischen Themen zu entwickeln. Die Mathematik hielt er für eine Kunst, deren Sätze von kreativen Köpfen ersonnen, durch logische Schlüsse verifiziert und anschließend in gut lesbare Form gebracht wurden. Ihre Wahrheit war für einen poetischen Kopf wie den seinen nicht allein durch Logik zu erkennen. »Die Logik lehrt uns, dass wir auf diesem oder jenem Wege sicher keinen Hindernissen begegnen werden, sie sagt uns nicht, welcher Weg zum Ziele führt. Um dahin zu gelangen, muss man das Ziel von weitem sehen, und die Intuition ist eben die Fähigkeit, welche uns das Sehen lehrt. Ohne sie würde es dem Mathematiker ergehen wie einem Schriftsteller, der in der Grammatik vollkommen bewandert ist, aber keine Ideen hat.«54
Mathematische Erfindungen gelangen ihm durch »Intuition, dieses Gefühl für mathematische Ordnung, welches uns verborgene Relationen und Harmonien erraten lässt.«55 Poincaré dachte in Analogien, mehr assoziativ als konstruktiv, oft ohne sich über deren Anwendbarkeit im Voraus viele Gedanken zu machen. Details interessierten ihn im Grunde nicht (was sich nur wenige Mathematiker leisten können). Einen Beweis in seine kleinsten logischen Schritte zu zergliedern, bedeutete für ihn, am Wesentlichen vorbeizudenken, an der Ordnung, am Sinn, am Zusammenhang des Ganzen. Damit wollte er nicht den Wert und Rang des logischen Schließens herabsetzen – immerhin war er Mathematiker –, aber er wollte sein Fach nicht auf die äußerlich sichtbaren Bausteine reduziert sehen. »Kann ein Naturforscher, der den Elefanten immer nur unter dem Mikroskope studiert, dieses Tier jemals vollkommen kennen lernen? Ebenso verhält es sich mit der Mathematik. Wenn der Logiker jeden Beweis in eine Menge von elementaren Operationen, die alle korrekt sind, zerlegt hat, so beherrscht er deshalb noch nicht die ganze Wirklichkeit des zu beweisenden Lehrsatzes; jenes gewisse Etwas, das die Einheit des Beweises ausmacht, wird ihm völlig entgehen.«56 Logik hielt Poincaré für ein fruchtloses Geschäft ohne den Dünger der Intuition – und so formulierte er es auch in seinem Eröffnungsvortrag in Paris.
Hilbert hingegen hatte inzwischen ganz andere Vorstellungen in dieser Geschmacksfrage entwickelt. Er sah im Formalismus der axiomatischen Methode den Boden, den Dünger und die Frucht der Mathematik. Poincaré dachte wie ein Künstler, Hilbert wie ein Jurist. Von göttlicher Eingebung, »Hellsehertum«,57 hielt er nicht viel, sondern bevorzugte in einer unverkennbar königsbergischen Tradition die Strenge und Pünktlichkeit der Deduktion aus obersten Prinzipien. Allenfalls um diese Axiome zu finden, bedurfte es der Intuition. Waren sie aber einmal festgelegt, so spielten sie keine andere Rolle als die des unscheinbaren Hakens, an dem ein Kronleuchter hing und an den man nicht mehr denken musste, wenn das Licht erst zu funkeln begann.
Gemäß dem Motto der Weltausstellung Le bilan d’un siècle erwarteten sich die Kongressteilnehmer von Hilberts Abschlussvortrag einen öden Rückblick auf die Errungenschaften der Mathematik. Das traf aber nicht dessen Geschmack, der weder sich noch sein Publikum langweilen mochte. Er folgte vielmehr dem Rat Minkowskis, nicht zu philosophisch zu werden (das sei eher etwas für »deutsches Publikum«), sondern den »Versuch eines Vorblicks auf die Zukunft« zu wagen, »also eine Bezeichnung der Probleme, an welche sich die künftigen Mathematiker machen sollten.« Hier war das Feld noch nicht so abgegrast durch vergangene Festvorträge und Hilbert könnte, nach Minkowskis Einschätzung, »unter Umständen erreichen, dass man von Deiner Rede noch nach Jahrzehnten spricht«.58
Hilbert hielt seinen Vortrag mit unverkennbar ostpreußischem Akzent um die Mittagszeit des 8. August, einem sonnigen Mittwoch, unter der grünen Kuppel der Sorbonne. Er war im besten Mathematiker-Alter (38), eine schmale, bärtige Gestalt, mit unverkennbar großem Selbstbewusstsein. Das Auditorium war nicht gut besucht. Poincaré mied den Kongress, wann immer er konnte, manche Teilnehmer verstanden kein Deutsch, und viele zogen die Attraktionen der Weltausstellung vor. So verpassten sie, was der Höhepunkt ihres beruflichen Lebens hätte werden können, ein Ereignis, von dem sie noch ihren (mathematischen) Enkeln hätten erzählen können. Hilbert legte, wie von Minkowski empfohlen, eine Liste von 23 Problemen vor. Diese verhallte aber nicht, wie man es hätte annehmen können, vor einem mäßig interessierten Publikum, sondern verbreitete sich in kürzester Zeit in Europa, Nordamerika und Japan und entwickelte sich gewissermaßen über Nacht zum Gründungsdokument der Mathematik des 20. Jahrhunderts.
Listen haben eine ganz eigene Anziehungskraft, über die sich Hilbert wahrscheinlich selbst nicht ganz klar war. Sie sind eine Herausforderung an eine bestimmte Weltsicht oder Geschichtsauffassung (Die zehn besten Filme aller Zeiten, die drei größten Gefahren für die Weltwirtschaft, the five sexiest men alive) und sind jedenfalls, weil sie so konkret sind, Geschmacksache und damit ein herrlicher Zeitvertreib. Diese Liste hatte den Vorteil, von einem Profi gemacht zu sein, von jemandem, der wirklich etwas davon verstand. Sie enthielt Probleme, die sich nicht nur dadurch auszeichneten, schon lange ungelöst oder mit einer hohen Belohnung verbunden zu sein,59 sondern die auch tatsächlich zukunftsweisend waren – deren Lösung Spaß machte, wie dem Kolonialoffizier das Schießen einer Trophäe. Auf diese Probleme (von denen er aus Zeitgründen nur sechs tatsächlich vortrug und den Rest in der schriftlichen Version veröffentlichte) musste die Mathematik, so Hilbert, eine Antwort finden, wenn sie sich in die richtige Richtung entwickeln wolle.
Wie sahen ideale Probleme aus? Sie mussten, so führte Hilbert in seinem Vortrag aus, von solcher »Klarheit und leichte(n) Fasslichkeit« sein, »dass du sie dem ersten Manne erklären könntest, den du auf der Straße triffst.« Ein gutes Problem musste ferner »schwierig« sein, »damit es uns reizt, und dennoch nicht völlig unzugänglich, damit es unserer Anstrengung nicht spotte«. Es sollte einen gewissen Bezug zur Erfahrung haben. Und es musste aus einer endlichen Anzahl von Voraussetzungen durch eine endliche Anzahl von Schlüssen, also durch formale Deduktion lösbar sein. Die Intuition, die wesentlicher Bestandteil des Werkzeugkastens von Köpfen wie Newton, Leibniz und Poincaré war, hatte nach Hilberts Auffassung nur einen nachgeordneten Platz in der Mathematik.
Diese Problemliste entfaltete eine überraschende Eigendynamik. Eine der Aufgaben zu lösen, war wie ein Ritterschlag versprach anhaltende Bewunderung. Es hatte wohl auch etwas mit Hilberts wachsender Aura zu tun, der bedeutendste Mathematiker seiner Zeit zu sein. Eines seiner Probleme zu lösen bedeutete, ihm eine Lösung zu präsentieren, auf die er selbst nicht gekommen war. Auf diese Weise überflügelte man den Meister, oder stand doch mindestens auf einer Stufe mit ihm. Darum beschäftigte sich bald tatsächlich fast die ganze Zunft mit der Behandlung von Hilberts Problemliste. Und je größer der Ruhm derer wurde, die ein Problem lösten, desto stärker wurden die Bemühungen um die verbleibenden.
Die meisten der Probleme sind heute irgendwie gelöst oder erledigt. Die Liste war nicht systematisch angelegt: Manche Probleme waren recht einfach (das dritte Problem wurde noch 1900 von einem Doktoranden Hilberts gelöst), manche offensichtliche Kandidaten (wie der große Satz von Fermat oder die Goldbach’sche Vermutung) ließ sie aus, und konkrete physikalische Probleme spielten keine Rolle. Manche Probleme waren so unpräzise gestellt, dass sie eher als Aufforderung zu verstehen waren, in eine bestimmte Richtung zu forschen. Die ganze Liste war ein Zeugnis von Hilberts persönlicher Vorliebe für reine Mathematik – eine Richtung in die sich die Mathematik tatsächlich in den folgenden 100 Jahren entwickelte.
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