Kitabı oku: «Die Gedächtnislosen», sayfa 5

Yazı tipi:

Die beiden Komplizen suchten wahrscheinlich das Register der Firmen auf, die noch zu arisieren waren, etwa ein Drittel der insgesamt 1.600 jüdischen Unternehmen, die es in Mannheim gegeben hatte. Die anderen waren entweder bereits verkauft oder aber nach ihrem Bankrott liquidiert worden.

Wie mag der Seelenzustand, mit dem Karl und Max die Löbmanns trafen, zu beschreiben sein? Verlegenheit? Schuldgefühl? Oder war es die Arroganz derer, die sich in der Position des Mächtigeren wissen? Ich weiß es nicht, aber ich verfüge über einen Hinweis: Karl und Max haben 10.353 Reichsmark für die Firma bezahlt, also »nur« circa 1.100 Reichsmark weniger als der ursprünglich festgelegte Preis. Im Wissen, dass dieser den Erwartungen der NS-Obrigkeiten angepasst sein musste, um deren Einwilligung zum Handel zu erhalten, war es vielleicht ein Anflug von Mitgefühl, der es den beiden verbat, das Ganze noch weiter zu treiben. Sicher ist, dass es weitaus schlimmere Profiteure als meinen Großvater bei diesen Gaunereien gab, unerbittliche Aasgeier, welche die einerseits wachsenden Schwierigkeiten für jüdische Unternehmer, einen Käufer zu finden, und andererseits ihre bedrückende Not, genug Geld für den Wegzug und die Gründung einer neuen Existenz im Ausland zusammenzubringen, aufs Erbärmlichste ausreizten. Durch Großzügigkeit zeichnete sich Karl Schwarz jedoch auch nicht gerade aus, da er widerspruchslos die von den Nazis festgelegte Regelung zur Preisfindung anwendete: Nur der materielle Wert einer jüdischen Firma sollte berücksichtigt werden, für ihren immateriellen Wert aber sollte es keinen Pfennig geben. Damit wurde genau das ausgespart, was sie häufig am wertvollsten machte: die vielen Jahre, in denen man sich einen guten Ruf aufgebaut und also einen festen Kundenstamm gewonnen hatte, um eine Dienstleistung, ein Produkt, eine Marke zu verbessern, eine Formel zu entwickeln oder Patente zu sichern.

Nach dem Verkauf begleitete Julius Löbmann über mehrere Monate meinen Großvater für 400 Reichsmark auf dessen Geschäftsreisen, um ihn der Kundschaft der Firma vorzustellen – womit eben genau jener Wert realisiert wurde, den Karl Schwarz und Max Schmidt nicht bezahlt hatten. Ich denke, dass das Einvernehmen zwischen Karl und Julius verhältnismäßig »gut« gewesen sein muss, sonst wäre es wohl kaum zu diesen gemeinsamen Reisen gekommen, und dies erst recht, als es von nun an Juden verboten war, sich auf Geschäftsreise zu begeben. Unterkünfte und Restaurants, die sie über Jahre hinweg als Kunden empfangen hatten, verkündeten nun in ihren Schaufenstern: »Juden unerwünscht.« Ihre Lage verschlechterte sich zusehends. Berufsverbote häuften sich. Sie erhielten von Amts wegen einen zweiten Vornamen in ihre Personalpapiere gedruckt, damit man sie besser unterscheiden konnte: Sara für Frauen, Israel für Männer. Und schließlich wurde in ihre Pässe ein großes J gedruckt.

Während dieser Reisen muss Opa wegen Julius eine ganze Reihe von Leuten angelogen haben, Straßenpolizisten etwa, Hotelbesitzer oder auch Restaurantbetreiber … Dieses Risiko gemeinsam getragen zu haben, dürfte sie einander nähergebracht haben. Das aber sollte mit den Novemberpogromen 1938 ein Ende finden.

Am 9. November 1938 waren Julius und Opa zusammen im Schwarzwald auf Geschäftsreise, in einer idyllischen Kulisse aus Hügeln und Tannenwäldern. Als sie im Laufe des 10. November nach Mannheim zurückkehrten, hatte der antisemitische Hass eine weitere Gewaltschwelle überschritten. Ein brutaler Pogrom war quer durch das Reich von Mitgliedern der NSDAP, der SA und der Hitlerjugend angefacht worden, wobei Hitler »ausdrücklich seine Zustimmung zu den antijüdischen Aktionen gegeben« hatte, schreibt der Historiker Dietmar Süß in seinem Buch Ein Volk, ein Reich, ein Führer: Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich. Nach seinen Schätzungen »muss man wohl – als direkte oder indirekte Folge der Pogrome – von etwa 1.300 bis 1.500 Todesopfern und 1.406 zerstörten Synagogen ausgehen, 30.756 jüdische Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager gesteckt«.

Lotte Kramer hat es nicht vergessen: »Wir erhielten den Anruf eines Onkels, der gegenüber der Synagoge wohnte, wo sich auch unsere Schule befand, er sagte zu unserer Mutter: ›Schick deine Kinder nicht zur Schule, das Gebäude brennt!‹ Mein Vater bekam rechtzeitig den Rat, er solle verschwinden, woraufhin er sich in den Wäldern versteckte. Mit unserer Mutter sind wir hoch auf den Dachboden gestiegen, von wo aus wir durch das kleine Fenster hindurch die Leute auf der Straße sahen, wie sie Geschäfte verwüsteten; zum Glück kamen sie nicht zu uns. Mein Vater kehrte bei Einbruch der Nacht zurück und in dieser Nacht schlief ich im Bett meiner Eltern. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich wirklich Angst.«

In Mannheim begannen die Gewalttätigkeiten am 10. November bei Sonnenaufgang. Drei Synagogen wurden zerstört, eine von ihnen sogar mit Sprengsätzen pulverisiert, Männer wurden festgenommen, um sie später ins Konzentrationslager Dachau zu verschleppen. Profitgier war einer der Hauptbeweggründe für diesen Ausbruch an krimineller Energie: Der Großteil der jüdischen Läden wurde ebenso geplündert wie zahlreiche Wohnungen. Die Banditen des Nationalsozialismus machten in ihren Autos Plünderfahrten, drangen bei Armen ebenso ein wie bei Reichen, raubten, was sie konnten, und zerstörten den Rest. Viele Mannheimer Bürger waren von dieser Barbarei schockiert, die ihren verharmlosenden Namen »Reichskristallnacht« den Scherben von Millionen zersplitterten Scheiben schuldet. Opa wird ähnlich empfunden haben, als er, gerade zurückgekehrt von einer Reise, von seinem Lieferwagen aus dieses traurige Schauspiel betrachtete: brennende Bücher, Möbel, die aus den Fenstern auf den Bürgersteig flogen, zerstörte Fenster und Vitrinen. Julius an seiner Seite packte die Unruhe, als er erfuhr, dass Teile seiner Familie festgenommen worden waren. An diesem Tage beendeten sie ihre illegale Zusammenarbeit, sie war zu gefährlich geworden.

Die Verwandten von Julius konnten befreit werden und von nun war höchste Eile geboten, die Abreise in die USA zu organisieren. Die Familie hatte Kontakte nach Chicago und New York, wo Siegfried lebte, der Bruder von Irma und Mathilde Wertheimer, der in den Briefen an seine Schwestern Lobeshymnen auf Amerika sang. Die Löbmanns schickten tatsächlich erste Möbelstücke nach Chicago, was sie sich dank des Geldes aus dem Verkauf der Firma leisten konnten. Doch es war eine optimistische, wenn nicht gar naive Geste, denn wenn es schon vor 1938 äußerst schwierig war, ein Visum für die USA zu erhalten, so erwies sich dies von nun an als so gut wie unmöglich.

Angesichts der wachsenden Zahl jüdischer Flüchtlinge rief der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt im Juli 1938 zu einer internationalen Konferenz auf, in der vagen Hoffnung, dass die Teilnehmerstaaten sich verpflichten würden, zusätzliche Kontingente aufzunehmen. Nachdem Italien und die UdSSR die Einladung abgewiesen hatten, fanden sich die Vertreter von 32 Staaten und 24 Hilfsorganisationen für neun Tage in Évian-les-Bains ein, am Ufer des Genfer Sees. In der Kühle der Salons des majestätischen Hôtel Royal, zu seiner Einweihung 1909 als »schönstes Hotel der Welt« bezeichnet, Insel gekrönter Häupter und renommierter Künstler, lösten sich die internationalen Delegierten auf der Rednerbühne darin ab, ihr tiefstes Mitgefühl für das Schicksal der europäischen Juden auszudrücken. Aber niemand bot seine Gastfreundschaft an, abgesehen von der Dominikanischen Republik, die im Gegenzug dafür Subventionen einforderte. Die Vereinigten Staaten, von nur einem Geschäftsmann repräsentiert, weigerten sich, ihre festgelegte Quote von 27.370 Visa pro Jahr für Deutschland und Österreich zu erhöhen. Eines der einflussreichsten Länder der Erde hatte damit den Ton vorgegeben und der Rest der Welt zögerte nicht, ihm zu folgen.

Trotz der immensen Kolonialreiche, die Großbritannien und Frankreich damals noch besaßen, wurde keine einzige der denkbaren Optionen praktisch in Betracht gezogen, weder Palästina noch Algerien oder auch Madagaskar. Frankreich erklärte, dass es »einen äußersten Sättigungspunkt in der Flüchtlingsfrage« erreicht hätte. Der Abgesandte aus Australien ließ verlauten, sein Land, eines der weitläufigsten der Welt, habe »kein Rassenproblem« und verspüre »auch keine Neigung, durch eine ausländische Masseneinwanderung eines zu importieren«. Der Vertreter der Schweiz, Heinrich Rothmund, Chef der Fremdenpolizei, teilte mit, sein Land sei ein reines Transitland. Dieser notorische Antisemit hatte nie seinen Hass gegenüber Juden verhehlt, die er als »artfremde Elemente« betrachtete, welche die Schweiz mit »Verjudung« bedrohten.

Ich stelle mir diese Vertreter der »internationalen Gemeinschaft« mit ihren verstimmten und betont schmerzlich berührten Gesichtsausdrücken vor, wie sie zwischen zwei Anstandsreden im Schatten der eleganten Pergola dieses Hotels Erfrischungen zu sich nehmen, in dem einst Marcel Proust, Sohn einer elsässischen Jüdin, überzeugter Dreyfusianer, Passagen seines Buches Auf der Suche nach der verlorenen Zeit geschrieben hat, ein literarisches Meisterwerk, das ganz Frankreich zum Stolz gereichte. Die zukünftige israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, die nach Évian als »jüdische Beobachterin aus Palästina« geladen war, sollte später festhalten: »Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung.«

Von was für Zahlen war die Rede? Es ging darum, unter 32 Staaten, die direkt oder indirekt über große Territorien verfügten, die etwa 360.000 Juden aufzunehmen, die es in Deutschland noch gab, zu denen noch etwa 185.000 Juden aus Österreich hinzukamen. Es handelte sich dabei zum Großteil um großstädtische, gut ausgebildete und praktisch erfahrene Bürger, die für viele Länder eine Bereicherung dargestellt hätten. Etwa für ein Land wie Argentinien, das angesichts seiner riesigen, unterbevölkerten Landstriche stets auf der Suche nach solchen Einwanderern war. Und doch unterzeichnete sogar noch vor dem Ende der Konferenz in Évian der argentinische Außenminister José Maria Cantilo ein Rundschreiben, das unter dem Siegel der Verschwiegenheit sämtlichen argentinischen Konsulaten befahl, Visa – auch Touristenvisa – allen Personen zu verweigern, »von denen anzunehmen ist, dass sie ihr Herkunftsland verlassen haben oder verlassen wollen, weil sie als unerwünschte Personen angesehen werden, oder des Landes verwiesen wurden, ganz unabhängig vom Grund ihrer Ausweisung« – mit anderen Worten: den Juden.

Es fällt schwer, in dieser pauschalen Zurückweisung von Flüchtlingen etwas anderes zu sehen als den Ausdruck einer internationalen Antisemitismus-Epidemie, die weit über die Grenzen des Dritten Reiches hinausragte. China, auf der Konferenz nicht vertreten, war eines der wenigen Länder, das europäische Flüchtlinge akzeptierte, sogar ohne Visum, weil es dort keine Einwanderungsquoten gab. Da sie nirgendwo anders hingehen konnten, begaben sich bis zu 20.000 Juden nach Schanghai, und dies der komplizierten Sprache, der fremden Kultur und der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse zum Trotz. Doch selbst in solcher Entfernung wurden sie noch von der langen Hand der Nazis erfasst: Ende 1941 sperrten die Japaner, die einen Teil Chinas okkupiert hatten, auf Druck ihrer deutschen Alliierten die europäischen Juden in ein Getto, wo 2.000 von ihnen unter desaströsen Lebensbedingungen starben.

Nicht einmal nach den Qualen der Novemberpogrome rührte sich die internationale Gemeinschaft. Einzig Großbritannien erklärte sich mit einer Geste bereit, 10.000 jüdische Kinder in britische Familien aufzunehmen, womit jene Kindertransporte gemeint sind, die Lotte Kramer das Leben gerettet haben. Zugleich aber schloss es mit Palästina, das unter britischem Mandat stand, eine der letzten noch offenen Türen für die europäischen Juden. Aus Angst, die bereits bestehenden Spannungen zwischen Arabern und Juden könnten sich noch weiter zuspitzen, legten die Briten zwischen 1939 und 1944 eine Quote für jüdische Migranten von insgesamt 75.000 Personen fest, während noch beinahe zehn Millionen Juden auf dem europäischen Kontinent lebten.

Nach dem 9. November 1938 und der sukzessiven Abschaffung der letzten Rechte, die Juden noch besaßen, machte sich Panik breit. Hunderttausende, die sich bis dahin geweigert hatten, verstanden plötzlich, dass sie das Land so schnell wie nur eben möglich verlassen mussten. Sie strömten in Massen vor die Konsulate der ganzen Welt, die schon in den Jahren zuvor immer weniger Visa ausgestellt hatten und sich nun angesichts dieses Ansturms an Hoffnungslosigkeit noch abweisender zeigten. Die Diplomaten hatten entsprechende Anweisungen erhalten.

»Mein Vater begab sich zum amerikanischen Konsulat und harrte dort sehr lange aus«, berichtet Lotte Kramer. »Er kehrte mit einer Nummer in der Hand nach Hause zurück, aber er befand sich so weit unten auf der Warteliste … Wir wussten, dass wir keinerlei Chance hatten. Meine Eltern versuchten es auch mit Panama, Ecuador, von wo aus sie hofften, in die USA gelangen zu können, aber sie erhielten nichts.« Trotz der evidenten Aufnahmekapazität dieses von europäischen Juden bevorzugten Ziellands, in dem viele bereits Familienangehörige besaßen, die sich aller Erfahrung nach hervorragend integriert hatten, blieben die USA ihrem Schicksal gegenüber ungerührt und hielten mit einer bürokratisch grausamen Hartnäckigkeit an ihrer Quote fest.

Eine der wohl dramatischsten Episoden dieser Politik bildete die Reise der St. Louis im Frühling 1939, einem transatlantischen Passagierdampfer aus Hamburg, der Havanna ansteuerte und 937 Personen an Bord hatte, fast alle von ihnen deutsche Juden, die Kuba als Transitland erreichen wollten, um von dort in die USA zu gelangen. Kuba aber, für das man zuvor in Deutschland noch Visa bekommen konnte, hatte in der Zwischenzeit wegen eines politischen Skandals die Einreisebestimmungen geändert. Provokateure hatten die öffentliche Meinung gegen Juden aufgeheizt und eine antisemitische Demonstration noch vor der Ankunft des Schiffes organisiert. Nur 29 Passagiere durften schließlich an Land gehen, die St. Louis aber wurde aus den kubanischen Gewässern verjagt.

Sie fand sich vor Miami wieder, und zwar so nahe der Küste, dass die Flüchtlinge die Lichter an Land sehen konnten. Kapitän Gustav Schröder und jüdische Organisationen versuchten, Präsident Franklin D. Roosevelt davon zu überzeugen, ihnen Asyl zu gewähren. Vergeblich. Der Hauptgrund dafür war die Stimmung in der amerikanischen Bevölkerung, die angesichts der während der Wirtschaftskrise gestiegenen Arbeitslosigkeit allergisch auf jegliche Immigration reagierte, vor allem auf die der europäischen Juden, deren Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt man mehr fürchtete, als dass man Verständnis für ihre Situation hatte. Es lag nun an Kanada, sich solidarisch zu zeigen, aber auch hier erwies sich der Immigrationsbeauftragte Frederick Blair als unerbittlich. Anfang Juni 1939 zurück in Europa, weigerte sich Kapitän Schröder, seine Passagiere an Deutschland auszuliefern, und ließ sie in Antwerpen an Land gehen. Ein Viertel von ihnen fand im Holocaust den Tod.

Die Familie Löbmann hat nie ein Visum erhalten. Es ist gut möglich, dass sie sich mit dem Möbeltransport in die USA an diese fast unmögliche Perspektive geklammert hat, um ihre materiellen Güter nicht aufgeben zu müssen, anstatt ihre Haut zu retten und es mit anderen Ländern zu versuchen. Aber auch ein Visum hätte ihnen mitnichten garantiert, sicher am gewünschten Ziel in Übersee anzukommen, denn dazu musste man zumindest ein, wenn nicht zwei Drittländer durchqueren, Frankreich, Portugal, Belgien, die Niederlande, die Schweiz, wo gewissenlose Mittelsmänner Bestechungsgelder verlangten, die umso höher wurden, je stärker die Not der Juden anwuchs. Reisebüros, Konsulate, Schlepper, Hotelbesitzer, bestochene Beamte – wie viele haben sich nicht am Antisemitismus bereichert! Die Mittel der Löbmanns aber waren begrenzt, da die Summe, die sie aus dem Verkauf ihrer Firma gezogen hatten, nach den für Juden geltenden Verordnungen auf einem vom Reich kontrollierten Konto, von dem sie jeweils nur kleinere Summen abheben durften, blockiert war.

Trotzdem war es noch nicht vollkommen unmöglich, Deutschland zu verlassen. Nach den Novemberpogromen 1938 konnten bis zu 40.000 Juden flüchten. Unter ihnen befand sich Lotte Kramer. Ihre Lehrerin an der Schule in Mainz hatte von den organisierten Kindertransporten nach Großbritannien gehört und einen Platz für sie gefunden. »Meine Mutter sprach mit ihrer Schwester Irma darüber, der es gelang, auch ihre beiden Kinder Lore und Hans im Transport unterzubringen. Ich wollte von meinen Eltern nicht getrennt sein, aber ich war mit meinen Cousins zusammen, und es war ein wenig wie ein Abenteuer.«

1939 konnten noch fast 80.000 Juden das Land verlassen, davon mindestens 1.000 Juden aus Mannheim. Einige von ihnen landeten in Indien oder Kenia, Länder, die nicht ihre erste Wahl gewesen waren.

Die Familie Löbmann hat vielleicht zu lange gezögert, sich von Amerika als Bestimmungsort abzuwenden und sich stattdessen mit dem Lebensminimum irgendwohin zu retten. Diese Abneigung gegen alles Improvisierte wurde zu ihrer Fessel. Je länger die Löbmanns abwarteten, desto mehr ging ihr Vermögen zur Neige und damit die Chance, doch noch auswandern zu können. Denn nach dem 9. November 1938 gab es kein Halten mehr bei den organisierten Plünderungen. Um die Juden für jene Pogrome zu bestrafen, deren unglückselige Opfer sie selbst ja waren, forderte das NS-Regime von ihnen eine Sühneleistung in Form einer neuen Steuer, der Judenvermögensabgabe, mit der die Nationalsozialisten 25 Prozent des Vermögens derer ergaunerten, die wie die Löbmanns mehr als 5.000 Reichsmark besaßen. Dann befahl man ihnen im Februar 1939, sämtliche Gegenstände aus Silber, Gold und Platin auszuhändigen, ebenso wie Perlen und Edelsteine, und zwar für einen Preis, der häufig nur ein Zehntel des eigentlichen Wertes ausmachte. Wenige Monate später zwang eine neue Verordnung diejenigen, die das Land verließen, zusätzlich zur Steuer auf Devisen und zur Reichsfluchtsteuer eine progressive Auswandererabgabe zu bezahlen.

Die Lage der in Deutschland festsitzenden Juden verschlimmerte sich zusehends. Hitler hatte entschieden, sie endgültig aus dem Wirtschaftsleben und der Arbeitswelt auszuschließen. Diejenigen, die bereits alles verloren hatten, wurden zwangsweise herangezogen, um Straßen zu bauen oder den Müll zu entfernen, während Firmen, die noch nicht arisiert worden waren, zu Schleuderpreisen verkauft wurden. Einige Juristen trieben den Zynismus so weit, dass sie die Eigentümer, die in Dachau eingesperrt waren, aufsuchten, um sie den Verkaufsvertrag unterzeichnen zu lassen. Man riss sich Grundstücke unter den Nagel, auch die der Synagogen, der jüdischen Organisationen, der jüdischen Friedhöfe. In Mannheim, wie Christiane Fritsche berichtet, hat selbst die evangelische Kirche an dieser finsteren Zerlegung teilgenommen – und damit die Preise aufs Erbärmlichste gedrückt.

Am Morgen des 22. Oktober 1940 tauchten Nazi-Schergen in den Häusern der Löbmanns sowie bei Wilhelm Wertheimer, dem Bruder von Irma und Mathilde, auf und befahlen ihnen, ihre Koffer zu packen: Jeder Erwachsene hatte das Recht auf maximal 50 Kilogramm Gepäck sowie 100 Reichsmark und sollte Nahrung und Wasser für drei Tage mitnehmen. Ihre Konten, ihre Wertpapiere sowie ihr Grund und Boden wurden mit allem, was sie beinhalteten, gepfändet. Wenige Stunden später warteten sie auf dem Gleis des Mannheimer Bahnhofs gemeinsam mit ungefähr 2.000 anderen Juden der Stadt darauf, in einen Zug zu steigen, dessen Ziel sie nicht kannten. Ungefähr die Hälfte der Mannheimer Gemeinde war in den Jahren davor ins Exil geflohen. Acht Juden hatten sich noch am Morgen der Razzia das Leben genommen. Mehreren Hundert war es gelungen, sich zu verstecken, nur Ehepartner arischer Personen wurden verschont.

Am 23. Oktober setzte sich ein aus neun Zügen bestehender Konvoi mit etwa 6.500 Gefangenen in Bewegung. 4.500 weitere Juden aus dem Südwesten Deutschlands, dem Saarland, aus Baden und der Pfalz waren ebenfalls im Rahmen dieser Aktion verhaftet worden. Nachdem der Transport bei Kehl den Rhein überquert hatte, kam er nachts in Chalon-sur-Saône an, einem Ort, der direkt an der Demarkationslinie lag, die Frankreich nach der Niederlage in eine vom Dritten Reich besetzte Zone im Norden des Landes und eine sogenannte »freie« Zone im Süden unterteilte, die von der begrenzt autonomen französischen Regierung mit Sitz in Vichy kontrolliert wurde. Anders als die Deutschen es sich ausgemalt hatten, legte Vichy, das inzwischen ein eigenes »Judenstatut« zu deren Diskriminierung eingeführt hatte, Protest ein. Vor vollendete Tatsachen gestellt, ließen die französischen Behörden jedoch die Züge in die »freie« Zone einfahren, in der die Deutschen theoretisch kein Sagen hatten, wobei sie deutlich darauf hinwiesen, dass es außer Frage stand, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen durfte.

Nach zwei Tagen, während derer sie der Brutalität der SS ausgeliefert waren, kamen die Passagiere, von denen viele hohen Alters waren, im Lager Gurs im Südwesten Frankreichs an. In diesem von Vichy verwalteten Internierungslager befanden sich Juden und Nicht-Juden aller Nationalitäten – mit Ausnahme der französischen, die entweder von den Nazis deportiert wurden oder aber vom französischen Regime in der »freien« Zone verhaftet worden waren. In Gurs gab es weder Hinrichtungen noch Folter, aber Hunderte der Häftlinge starben aufgrund der Lebensbedingungen, sie verhungerten oder kamen vor Kälte um in diesen fensterlosen Baracken, in denen es weder sanitäre Anlagen noch fließendes Wasser gab, in die der Regen eindrang und wo das Bettzeug aus mit Stroh gefüllten Säcken bestand, die auf den schlammigen Boden geworfen waren. Irma Wertheimer, die Ehefrau von Siegmund Löbmann, erkrankte schwer und wurde Ende November 1941 in ein Hospital in Aix-en-Provence transportiert. Siegmund wurde in das nahe gelegene Internierungslager Les Milles überführt, um in ihrer Nähe sein zu können.

Aus Gurs zu fliehen war verhältnismäßig einfach, da dessen Umzäunung nur zwei Meter hoch und weder elektrisiert noch mit Wachtürmen verstärkt war. Dennoch gab es wenige Fluchtversuche, da die größere Herausforderung erst noch folgte: ein langes, angsterfülltes Versteckspiel mit der Polizei. Vermutlich weil ein solcher Ausbruch mit Kindern und älteren Eltern unvorstellbar war, zogen viele Gefangene die Familie der Freiheit vor.

In Gurs hatten religiöse und humanitäre Verbände die Erlaubnis erhalten, Nahrung zu liefern, medizinische Versorgung anzubieten und den Alltag der Inhaftierten zu erleichtern. Eine von ihnen, die internationale jüdische Hilfsorganisation HICEM, half den Juden dabei, die nötigen Unterlagen für die Einreichung einer Emigrationsanfrage zusammenzustellen. Jene, denen dies gelang, baten den Vorsteher des Lagers, nach Marseille, diesem großen französischen Hafen am Mittelmeer, überführt zu werden, hegten sie doch die Hoffnung, sich von dort aus nach Übersee einschiffen zu können. So gelangten im April 1941 schließlich auch Julius und Mathilde Löbmann mit ihrem Sohn Fritz sowie Wilhelm Wertheimer und seine Frau Hedwig mit ihrem Sohn Otto nach Marseille. Dank der Unterstützung der Mitarbeiter aus der Gedenkstätte des Lagers Les Milles, einer der Vorzeigeinstitutionen in Frankreich, um die jungen Generationen für dieses Gedenken zu sensibilisieren, konnte ich den weiteren Weg der Mitglieder dieser Familie nachzeichnen.

Die Männer kamen nach Les Milles, das unter der Verwaltung von Vichy stand und wo zahlreiche Künstler und Intellektuelle wie etwa Golo Mann und Lion Feuchtwanger interniert waren. Die Frauen und Kinder wurden in zu Unterbringungszentren umfunktionierten Hotels in der Innenstadt von Marseille geschickt.

Hedwig und Otto, der damals neun Jahre alt war, wurden ins Hôtel Bompard gebracht, Mathilde und Fritz, damals zwölf Jahre alt, ins Hôtel Terminus les Ports. Man litt an Unterernährung, an Hygienemangel, an Ungeziefer, an mangelnder Kleidung und Kälte in diesen Häusern, in denen die Stromversorgung und das Wasser rationiert waren und deren Besitzer oft nicht die geringsten Skrupel hatten, die vom französischen Staat ausgezahlten Aufwandsentschädigungen in die eigene Tasche zu stecken und nur einen Bruchteil den Gästen zugutekommen zu lassen. Außerdem war man dem Gutdünken widerwärtiger Figuren wie dem Arzt Félix Roche-Imbart ausgesetzt, der seiner sadistischen Lust frönte, die Unterbringung erkrankter Gäste in Hospitälern und Sanatorien zu verhindern und ihnen den Besuch von Ehegatten zu verbieten. Trotz allem waren im Vergleich zum Lager in Gurs die Lebensbedingungen deutlich bessere. Internationale Hilfsorganisationen gaben Kindern Unterricht und richteten für die Mütter Nähkurse ein, vor allem aber konnten die meisten Frauen sich frei in der Stadt bewegen, am Strand spazieren gehen und weiterhin versuchen, die notwendigen Behördenwege zu erledigen, um auswandern zu können.

Laut Archiv des Lagers Les Milles muss Hedwig versucht haben, für ihre Familie amerikanische Visa zu erhalten. Was wahrscheinlich auch für Mathilde gilt. Sie kamen zu spät. Kurz zuvor war ein solches Ziel noch umsetzbar, dank des amerikanischen Vizekonsuls in Marseille, Hiram Bingham IV, der Visa und gefälschte Papiere beschaffte. Oder aufgrund der Hilfe des amerikanischen Journalisten Varian Fry, dem es gemeinsam mit einem großen Netzwerk an Unterstützern gelungen war, mehr als 2.000 Juden aus Frankreich herauszuschleusen, unter denen sich hauptsächlich Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler wie Claude Lévi-Strauss, Max Ernst, Hannah Arendt oder Marc Chagall befanden. Als Reaktion, aber auch auf Druck des Vichy Regimes hin, entzog das Aussenministerium in Washington dem Konsulat die Entscheidungshoheit in Sachen Visavergabe, versetzte Hiram Bingham IV nach Portugal und konfiszierte den Pass von Varian Fry.

Hedwig Wertheimers und Mathilde Löbmanns Bestrebungen zur Emigration scheiterten im Sommer 1942, sie wurden mit ihren Söhnen nach Les Milles überführt, wo sie wieder auf ihre Ehemänner Julius und Wilhelm trafen. Die Stimmung war bedrückend. Im Lager Drancy nördlich von Paris hatten die Deportationen nach Auschwitz begonnen. Offiziell hieß es, um die Häftlinge in Arbeitslager zu bringen. Beim Anblick der Viehwaggons, in die man ganze Familien ohne Wasser einpferchte, fragten sich viele, warum man wohl auch Kinder, die gar nicht befähigt waren zu arbeiten, in die Züge zwängte. Es war auch schon von Massakern die Rede.

Hedwig und Mathilde mussten die Gefahr gerochen haben. Wie andere Mütter auch, entschieden sie sich, ihre Söhne dem jüdischen Kinderhilfswerk anzuvertrauen. Zeugen haben von herzzerreißenden Trennungen berichtet, dem Weinen der Kinder, die man von ihren Müttern trennte, die wiederum damit zu kämpfen hatten, Haltung zu wahren, um ihre Kleinen nicht zu beunruhigen. Otto wurde ins Château de Montintin südlich von Limoges gebracht, wo sich mehrere Hundert Kinder zwischen 12 und 17 Jahren versteckt hielten, unter ihnen vor allem deutsche Juden, die dort von einem Arzt beschützt wurden. Fritz ging in eine ähnliche Anstalt, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Kinder vor der Deportation zu retten.

Im Frühling 1943 hatten die beiden Cousins das Glück, noch einmal in einem der letzten Zufluchtsorte Frankreichs vereint zu sein, der in der damals von Italien besetzten Zone im Südosten Frankreichs lag. In Izieu, einem kleinen, hoch gelegenen Dorf an den Hängen eines Arms der Rhône, hatte die polnisch-jüdische Widerstandskämpferin Sabine Zlatin gemeinsam mit ihrem Ehemann ein Heim errichtet, wo sie die Kinder vor der Deportation bewahren wollte. Zum ersten Mal seit Langem konnten Fritz und Otto wieder an die Leichtigkeit der Kindheit anknüpfen. In der Gedenkstätte von Izieu zeigen Fotos diese Kinder auf einer weiten Wiese, ihr Haar im Wind, als Gruppe vor einem Haus, die Großen tragen die Kleineren auf ihren Armen, in Badehose auf einem Steg an einem See. Sie lächeln fast immer und es ist auf diesen Bildern, die Aufnahmen welcher glücklichen Kindheit auch immer sein könnten, nicht der Hauch eines Vorzeichens zu sehen.

Die italienische Besatzungszone war für Juden die sicherste, da sich die Italiener, im Gegensatz zu den Franzosen, so gut es ging weigerten, sie auszuliefern. Im September 1943 aber, nach der Kapitulation des faschistischen Italiens, kippte die Situation, da nun die Deutschen die italienische Zone in Frankreich besetzten. Die aufkommende Gefahr ahnend, machte sich Sabine Zlatin Anfang April 1944 auf, eine andere Zufluchtsstätte zu finden. Doch während ihrer Abwesenheit geschah es am Morgen des 6. April, dem ersten Tag der Osterferien, als die Kinder gerade dabei waren, ihr Frühstück vorzubereiten, dass zwei Lastwagen der Wehrmacht und ein Dienstwagen der Gestapo die 44 Jungen und Mädchen, den Ehemann von Sabine Zlatin und sechs Erzieher festnahmen und ins Lager von Drancy brachten. Der Befehl dazu stammte vom Leiter der Gestapo in Lyon, Klaus Barbie, einem Mann, der für seine an Wahnsinn grenzende Besessenheit berüchtigt war, Juden und Widerstandskämpfer zu jagen, die er dann mit hemmungsloser Leidenschaft allen möglichen Foltermethoden unterwarf, deren genialer Erfinder er sich zu sein rühmte.

Am 15. April 1944 wurden Fritz Löbmann und Otto Wertheimer, damals 15 und 12 Jahre alt, in einem Konvoi zusammen mit 30 anderen Kindern von Izieu nach Auschwitz deportiert. Am Tag ihrer Ankunft wurden sie vergast.

Zwei Jahre zuvor waren die Eltern von Otto Wertheimer, Hedwig und Wilhelm, und die Mutter von Fritz Löbmann bereits nach Drancy überführt worden. Am 17. August wurden sie mit dem Konvoi Nummer 20 verschleppt. Endstation: Auschwitz. Am 2. September war es dann Siegmund, der nach Drancy kam, er wurde am 7. September mit dem Konvoi Nummer 29 deportiert. Endstation: Auschwitz. Seine Einsamkeit wird seine Notlage nur noch schlimmer gemacht haben. Seine Frau Irma stand auf der Liste der zu Deportierenden des Lagers Les Milles, dürfte aber wohl in letzter Sekunde gerettet worden sein, und dies womöglich von Medizinern, die ihre Notaufnahme im Krankenhaus von Aix-en-Provence verlangten.

₺652,87