Kitabı oku: «Die Gedächtnislosen», sayfa 4
3Das Phantom der Löbmanns
DIE VERGANGENHEIT, die meine Großeltern für immer unter den Ruinen des Dritten Reiches verschüttet glaubten, tauchte eines Morgens im Januar 1948 im Briefkasten wieder auf, als Karl Schwarz einen Umschlag vorfand, dessen Absender auf Anhieb das Unheil ankündigte: Dr. Rebstein-Metzger, Rechtsanwältin – Mannheim. In dem Brief teilte die Anwältin kurz gefasst mit, dass ihr Klient, ein gewisser Julius Löbmann, der in Chicago lebte, von der Schwarz & Co. Mineralölgesellschaft rund 11.000 Reichsmark kraft eines Gesetzes einfordere, das in der amerikanischen Zone eingesetzt worden sei und Wiedergutmachungen für die unter dem Nationalsozialismus ihres Eigentums beraubten Juden vorsehe.
Von der Geschichte dieses Briefes und dessen, was er auslöste, haben weder mein Vater noch meine Tante – die es liebt, Familiengeschichten zu erzählen – jemals gesprochen. Ich wusste, dass Opa Mitglied der NSDAP war und seine Firma einst Juden gehört hatte – mein Vater muss es mir wohl im Vertrauen gesagt haben, als ich in der Schule die Geschichte des Dritten Reiches studierte, aber ich war damals noch zu jung, um mich für die Hintergründe zu interessieren. Es geschah sehr viel später aufgrund einer Bemerkung meiner Tante Ingrid, dass ich mich entschloss, die Ordner von Opa zu durchstöbern, die seit dem Tod meiner Großeltern im Keller des Mannheimer Wohnhauses aufbewahrt wurden. Unter den Papieren, die im Laufe der Zeit zwar vergilbt, deren aufgedruckte Buchstaben aber noch immer gut lesbar waren, fand ich einen Vertrag, der bezeugte, dass Karl Schwarz zwei jüdischen Brüdern, Julius und Siegmund Löbmann, sowie deren jüdischem Schwager, Wilhelm Wertheimer, dessen Schwestern Mathilde und Irma sie geheiratet hatten, eine kleine Gesellschaft für Mineralölprodukte abgekauft hatte. Die Firma Siegmund Löbmann & Co. lag in der Gegend des Industriehafens von Mannheim nahe am Neckar gelegen, in der Helmholtzstraße 7a. Es ist aber vor allem das Datum, das von Interesse ist: August 1938, für die deutschen Juden das Jahr des endgültigen Absturzes in die Hölle, denn nun nahm der Druck durch Verfolgung und Diskriminierung in geradezu schwindelerregender Weise zu und zwang sie, ihr Eigentum zu Niedrigstpreisen aufzugeben.
Von der Familie Löbmann konnte ich nur recht wenige Spuren finden, bis ich im Internet auf eine Familie Loebmann stieß, die tatsächlich in Chicago lebte, wo Julius wohnte, als er von meinem Großvater Wiedergutmachungsleistungen einforderte. Die darauffolgende Entdeckung einer langen Liste an Loebmanns im Onlinetelefonbuch aber setzte meinen Hoffnungen ein jähes Ende. Ebenso gut konnte man eine Stecknadel in einem Heuhaufen suchen. Ich begann also meine Nachforschungen auf die Linie der Wertheimer zu konzentrieren, den Namen der Familie des dritten Eigentümers der Siegmund Löbmann & Co., Wilhelm, dessen zwei Schwestern Julius und Siegmund geheiratet hatten. Dabei stieß ich auf einen Artikel, der eine Lotte Kramer, geborene Wertheimer, erwähnte, Tochter von Sophie, der dritten Wertheimer-Schwester. Lotte war eine der letzten noch lebenden Zeuginnen der Kindertransporte, einer Rettungsaktion, mit der mehr als 10.000 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei zwischen 1938 und 1940 nach England gelangten. Ich fand ihre Spur in einem Seniorenheim in Peterborough, einer kleinen, gut eine Stunde nördlich von London gelegenen Stadt. Sie stimmte umgehend einem Treffen mit mir zu.
Lotte Kramer ist 95 Jahre alt. Eine kleine, zierliche Frau mit feinen Gesten und so höflich, wie es nur Engländerinnen sein können. Sie hatte zwei Sessel einander gegenüber gestellt, nah genug, damit wir uns gut verstehen konnten, und erzählte mir von ihrem Leben und was sie über das der Löbmanns wusste.
»Meine Mutter Sophie und ihre beiden Schwestern liebten sich sehr«, sagt sie und nimmt eine Schwarz-Weiß-Fotografie von der Wand, auf der drei junge Frauen zu sehen sind. Die Jüngste von ihnen, Mathilde, mit einem dicken Knoten im Haar und einer gestreiften Bluse, hat ein hübsches, zielgerichtetes und offenes Gesicht; ihr zur Seite Irma, die Älteste der drei, trägt einen Kragen mit Häkelsaum, der ihre müden und vielleicht ein wenig traurigen Züge aufheitert; die Letzte, Sophie, sitzend, eine Medaille um den Hals tragend, zeigt einen unsicheren Blick, der mit vager Hoffnung erfüllt ist. Lotte wurde 1923 in Mainz geboren, wo sie auch aufwuchs. Regelmäßig legte sie die knapp 100 Kilometer zurück, die sie von Mannheim trennten, um ihre heiß geliebte Cousine Lore zu besuchen, die Tochter von Siegmund und Irma Löbmann. Sie erinnert sich an ihre ausgedehnten Spaziergänge in den Gärten am Fuße des Wasserturms, an das Flanieren auf den belebten Straßen und den nie fehlenden Kaffee und Kuchen ihrer Tante Irma, einer »hervorragenden Köchin«. »Es kam sogar vor, dass wir alle gemeinsam zum Urlaub im Kraichgau aufbrachen, ins Geburtsdorf der Löbmanns, wo auf einem Bauernhof damals ein Teil ihrer Familie lebte. Wir waren sehr verbunden miteinander.«
Die Wertheimer-Schwestern hatten drei Brüder: Siegfried, der in den Zwanzigerjahren fortgezogen war, um sich in den USA niederzulassen, Paul, der in der Zeit des Nationalsozialismus nach Frankreich ins Exil ging, und Wilhelm, der zu Beginn der Dreißigerjahre in die Firma Siegmund Löbmann & Co. investierte, um seinen beiden Schwägern zu helfen, das von der Wirtschaftskrise 1929 schwer getroffene Haus zu retten. Dank dieser Unterstützung erholte sich die Firma wieder, bevor sie dann unter der Bürde der zunehmenden Diskriminierung jüdischer Geschäfte im Nationalsozialismus wieder abrutschte.
Lotte war neun Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Im Januar 1933 hatte der deutsche Präsident Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg angesichts der Wahlerfolge der NSDAP, die im Juli 1932 mit 37 Prozent und im November desselben Jahres mit 33 Prozent der Stimmen zur ersten politischen Partei des Landes geworden war, klein beigegeben: Er hatte den Chef der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Adolf Hitler, zum Kanzler ernannt. Der zögerte nicht lange, löste den Reichstag auf, rief Neuwahlen aus und inszenierte mit dem Ziel, die absolute Mehrheit im Parlament zu erreichen, eine aggressive Kampagne, die geprägt war von Propaganda, Parteiverboten, Repressalien und Drohungen gegen andere Kandidaten. Trotzdem verfehlte Hitler sein Ziel, da seine Partei im März nicht mehr als 43,9 Prozent der Stimmen erhielt.
In Mannheim, einer Stadt, in der traditionell die SPD und die KPD besonders stark vertreten waren, kam die NSDAP Ende der Zwanzigerjahre auf keine 100 Mitglieder. Aber nachdem sich mit der Wirtschaftskrise von 1929 die Zahl der Arbeitslosen verdreifacht hatte, wurde mit den Parlamentswahlen vom Juli 1932 die NSDAP mit 29,3 Prozent der Stimmen zur stärksten politischen Kraft der Stadt. Kurz nach ihrer Machtergreifung 1933 zerschlugen die lokalen Nazi-Autoritäten sowohl die SPD als auch die KPD, verboten Zeitschriften und zwangen den Bürgermeister von Mannheim, beim Verbrennen der Fahne der Republik zuzuschauen, bevor sie ihn in ein Krankenhaus sperrten. Unmittelbar darauf wurden mehr als 50 jüdische Beamte entlassen, noch bevor das Regime am 7. April 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erließ, um schon bald darauf alle »nicht arischen« oder politisch missliebigen Beamten ihres Dienstes zu entheben, Universitätsangestellte und Wissenschaftler inbegriffen.
Mit rasanter Geschwindigkeit verbreitete sich in Mannheim, wo mit gut 6.400 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde Badens lebte, ein Antisemitismus neuer Ordnung. In der gesamten Region waren die Veränderungen zu spüren. »Plötzlich gab es überall antisemitische Propaganda, auf der Straße, in den Zeitungen, im Radio«, erinnert sich Lotte. »Eines Tages haben wir mit der Schulklasse einen Propagandafilm für Kinder gesehen, der die Geschichte eines zum Nazismus konvertierten Jungen zeigte, was uns unglaublich beeindruckte, wir wollten alle sein wie er.« Auf ihrem Heimweg von der Schule ging sie tagtäglich an der Hitlerjugend vorbei. »Ich war eifersüchtig, ich träumte davon, eine von ihnen zu sein, sie wirkten in ihren Uniformen so unglaublich glücklich.« Es war vor allem die Normalität, die sie beneidete, sie, das kleine jüdische Mädchen, das schon als Kind die Ausgrenzung, Erniedrigung und Scham zu ertragen hatte, die ihrer Gemeinschaft aufgebürdet worden waren.
In einem hervorragenden Buch mit dem Titel Ausgeplündert, zurückerstattet und entschädigt – Arisierung und Wiedergutmachung in Mannheim erklärt die Historikerin Christiane Fritsche, wie in vielen Bereichen auf lokaler Ebene zahlreiche antisemitische Maßnahmen ergriffen wurden, ohne dass ein nationales Gesetz sie gerechtfertigt hätte. Die Handelskammer von Mannheim gab den Ton an, indem sie sich Ende März ihrer jüdischen Mitglieder entledigte, sprich: ihres eigenen Präsidenten und eines Drittels ihres Personals. Parallel dazu, und aus eigener Initiative, schlossen zahlreiche Institutionen und Verbände von Kaufleuten, Rechtsanwälten, Medizinern mit irritierender Geschwindigkeit Juden aus ihren Reihen aus. Damit wurden ihnen nicht nur die wesentlichen professionellen Netzwerke genommen, sondern auch ihr Ruf geschädigt, womit sie einen Teil ihrer Kundschaft verloren, was den Niedergang ihrer finanziellen Lage und ihres Lebensmuts noch weiter beschleunigte.
Eine weitere Form der Stigmatisierung und Isolation der Juden bestand im Aufruf zum Boykott ihrer Läden. In vielen deutschen Städten gab es schon bald nach der »Machtergreifung« kleinere Aktionen: SA- und SS-Männer standen vor den Türen jüdischer Geschäfte, um die Kundschaft abzuschrecken. Voller Ungeduld stimmten sich auf lokaler Ebene Vertreter der NSDAP und andere Nazi-Organisationen miteinander ab, um endlich zur Tat schreiten zu können und für den 1. April 1933 einen nationalen Tag des Boykotts aller jüdischen Geschäfte auszurufen. Schon Tage zuvor druckten die Zeitungen unablässig Boykottaufrufe und Plakate. Quer durch das gesamte Land stellten sich Mitglieder der SS und SA in Uniform vor jüdische Geschäfte, um Kundschaft beim Betreten derselben zu behindern, Schaufenster mit antisemitischen Botschaften vollzuschmieren, Reden an die Menge zu halten oder Spruchbänder zu schwingen, auf denen geschrieben stand: »Deutsche, wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!« An diesem Samstag hatten viele Läden und Kaufhäuser, da sie vorgewarnt waren und weil orthodoxe Juden den Sabbat feierten, ihre Türen verschlossen gehalten und ihre Jalousien heruntergelassen. Andere wurden verwüstet und ausgeplündert, Juden zusammengeschlagen. Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung nicht aktiv mitgemacht hatte, zeigte sich, dass die Nazis nicht mit Widerstand rechnen mussten.
Wenige Monate später, so erläutert Christiane Fritsche, ließ das Reichswirtschaftsministerium die Industrie- und Handelskammer wissen, dass eine »Unterscheidung zwischen arischen oder nicht rein arischen Firmen innerhalb der Wirtschaft nicht durchführbar« sei, denn eine »solche Unterscheidung mit dem Zwecke einer Boykottierung nicht arischer Firmen (würde) notwendig zu erheblichen Störungen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus führen«. Diese Angst vor Arbeitslosigkeit war einer der Gründe, warum das NS-Regime zunächst nicht per Gesetz gegen Juden in der Wirtschaft vorging, erklärt die Historikerin. Bis Mitte der Dreißigerjahre beteuerten daher Reichsminister und NS-Größen immer wieder, »dass es kein Sondergesetz gegen Juden in der Wirtschaft geben werde und dass Übergriffe gegen jüdische Betriebe zu unterbleiben hätten«. Dieses Signal jedoch wurde auf lokaler Ebene nicht respektiert.
Eines der wirkungsmächtigsten Instrumente in Mannheim war die örtliche Nazi-Zeitung Hakenkreuzbanner, die tagtäglich dazu aufrief, die 1.600 jüdischen Geschäfte der Stadt zu boykottieren, indem sie deren Namen und Adressen bekannt gab, ja, manchmal sogar jene ihrer Kunden, die sie weiterhin aufsuchten und dafür der Illoyalität gegenüber dem Führer bezichtigt wurden. Christiane Fritsche, die Tausende Seiten dieser Tageszeitung durchforstet hat, fand in ihr »praktische Tipps«, welche das Hakenkreuzbanner den Ehemännern erteilt hatte, um ihre Frauen davon abzubringen, weiterhin bei Juden einzukaufen. Sie sollten ihnen drohen, das Haushaltsgeld zu kürzen: »Wenn Du zum Juden läufst, weil er angeblich billiger ist, dann brauchst Du auch nicht so viel Haushaltsgeld, als wenn Du bei einem anständigen deutschen Kaufmann kaufst.« Die Zeitung drohte ebenfalls damit, die Namen der »Judenliebchen« zu veröffentlichen, von Frauen also, die angeblich Beziehungen mit Juden unterhielten. Diese Einschüchterungskampagnen konnten in Städten mittlerer Größe wie Mannheim mit damals etwa 280.000 Einwohnern greifen, da die Bürger eine öffentliche Verunglimpfung mehr fürchten mussten als in einer anonymen Großstadt wie Berlin.
Eine weitere Methode zur Hetze bestand nach Fritsche darin, Gerüchte über den hygienischen Zustand in der Küche eines jüdischen Restaurants oder die sexuellen Vorlieben eines jüdischen Firmenchefs in Umlauf zu bringen. In einigen Fällen führte dies sogar bis zu den Schmutzprozessen, die auf Grundlage falscher Anklagen wegen Gaunerei, sexueller Belästigung oder Hehlerei geführt wurden. Jüdische Unternehmer waren häufig von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen und wurden daran gehindert, ihre Produkte auf Messen auszustellen. Andere lokale Direktiven verboten Juden, ihre Schaufenster in der Vorweihnachtszeit mit »christlichen« Dekorationen zu schmücken, also mit Engeln, einem Weihnachtsbaum oder einer Krippe, was darauf hinauslief, ihnen ein »nicht arisches« Etikett zu verpassen, womit ihre Umsätze während dieser Hochsaison noch einmal deutlich gesenkt wurden. Das Hauptaugenmerk galt den großen jüdischen Kaufhäusern, von denen es in Mannheim vier gab. Die Stadt verbot ihren Beamten sogar unter Androhung von Strafe, in diesen Häusern einzukaufen. 1936 waren bereits drei von ihnen wegen finanzieller Notlage an »Arier« veräußert worden.
»Ich glaube, dass die Löbmanns dem Schlag standhielten, da ich mich nicht erinnern kann, bei meinen Besuchen einen Wandel in ihrer Lebensführung bemerkt zu haben. Das heißt, sie lebten bescheiden, sie waren verhältnismäßig religiös, religiöser als wir«, berichtet Lotte Kramer. Da die Löbmanns keinen Einzelhandel betrieben, waren sie von dieser Hexenjagd wahrscheinlich in einem geringeren Maße betroffen als andere. Ihre Kundschaft war weniger sichtbar als jene, die durch die Türen eines Schneiders oder Bäckers ging, und ließ sich daher nicht so leicht von angedrohten Verleumdungen abschrecken. Aber eben nicht alle, denn der von 1933 an sichtbare Einsturz der Umsatzzahlen der Firma Siegmund Löbmann & Co., deren Auflistung ich in Opas Papieren gefunden habe, zeigt, dass auch diese unter der Illoyalität einiger Kunden gelitten hatte, sei es aus Angst oder aus Antisemitismus.
Anfangs noch schöpfte die deutsche Gesellschaft ihren Enthusiasmus gegenüber dem Nationalsozialismus eher aus einem neuen Vertrauen auf die Stärke ihres Vaterlands als aus der antisemitischen Besessenheit ihrer Nazi-Führer, die lauthals hinausschrien, dass nur ein von seinen »nicht arischen« Elementen gereinigtes Deutschland aus seiner Asche neu auferstehen könne – und zwar dank eines Volkes, dem seine rassische Harmonie eine in der Geschichte der Menschheit nie da gewesene Kraft verleihen werde. Dieser Wahn war zudem pure Mythologie, da sich die Deutschen, wie alle anderen auch, bereits unendlich viele Male mit anderen Völkern vermischt hatten, und dies schon Jahrtausende vor der Ankunft Adolf Hitlers und Joseph Goebbels’ auf Erden, die im Übrigen keinem einzigen morphologischen Kriterium eines vermeintlichen Ariers entsprachen.
Viele Bürger hatten anderes zu tun, als Juden zu jagen, nur weil sie Juden waren. Da sich aber rasch Gelegenheiten boten, aus dieser Verfolgung persönlichen Nutzen schlagen zu können, steigerte sich die Begeisterung für die rassische Sache – und zwar quer durch sämtliche Schichten der Gesellschaft. So fanden sich selbst in den gebildeten Milieus kaum Universitätsprofessoren, Wissenschaftler, Anwälte oder Juristen, die sich dem Ausschluss jüdischer Kollegen widersetzt hätten, brachten deren nun frei gewordene Posten doch all jenen einen unverhofften Vorteil, denen es aufgrund mangelnder Kompetenz nicht gelungen war, eine solche Stelle zu besetzen.
Der Fall des Philosophen Martin Heidegger, Mitglied der NSDAP bis zum Ende des Krieges und von 1933 bis 1934 Rektor der Universität in Freiburg, spiegelt das vorherrschende damalige Klima in den Universitätszirkeln wider, deren Professoren mehrheitlich die Einführung einer Quotenregelung wünschten, um die »Überrepräsentation« von Juden an den Hochschulen und allgemein bei intellektuellen Posten zu beenden. Bereits 1916 schrieb Heidegger in einem Brief an seine spätere Ehefrau Elfriede, die eine notorische Antisemitin war: »Die Verjudung unserer Kultur und Universitäten ist allerdings schreckerregend.« 1929 schrieb er Victor Schwoerer, dem Vizepräsidenten der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft: »[…] es geht um nichts Geringeres als um die unaufschiebbare Besinnung darauf, dass wir vor der Wahl stehen, unserem deutschen Geistesleben wieder echte bodenständige Kräfte und Erzieher zuzuführen oder es der wachsenden Verjudung im weiteren u. engeren Sinne endgültig auszuliefern.« Andere Akademiker neideten ihren jüdischen Kollegen schlicht und einfach den Erfolg.
Sich seiner Konkurrenten billig entledigen zu können war auch der Hauptgrund eines plötzlich aufkommenden Antisemitismus in der Wirtschaftswelt. Von den Kunden seiner in Schwierigkeiten geratenen Mitbürger profitieren zu können war derart verführerisch, dass Händler in Mannheim nicht zögerten, in ihren Schaufenstern zu verkünden: »Kaufen Sie hier in einem deutschen Geschäft.« Die in Not geratenen jüdischen Kaufleute begannen, ihre Medaillen aus dem Ersten Weltkrieg hervorzuholen und sich an ihre Westen zu heften, andere wiederum versuchten, sich über Wasser zu halten, indem sie Preisnachlässe und Ratenzahlungen für Billigwaren anboten. »Ganz ohne entsprechende Gesetze hatte sich in den Wochen unmittelbar nach der Machtergreifung damit in schier atemberaubender Geschwindigkeit ein Bewusstseinswandel bei vielen Deutschen vollzogen: jüdisch oder arisch – das machte auf einmal auch im Geschäftsleben einen Unterschied«, analysiert Christiane Fritsche.
Es geschah vielleicht auch vor diesem Hintergrund, dass Karl Schwarz die Wappenzeichnung anfertigen und in seinem Büro aufhängen ließ, die seine arischen Wurzeln bekräftigte und die mein Vater bei seinem Tode vorgefunden hat.
Die Diskriminierung im gesellschaftlichen Leben war ebenso erbarmungslos: Verbote für Juden, ins Kino zu gehen, auf Bälle, ins Theater, in öffentliche Schwimmbäder; Ausschlüsse aus den Sporthallen und bei sämtlichen Arten von Vereinen. Es gibt ein Foto, auf dem Frauen und Männer in Badekleidung zu sehen sind, die ganz offensichtlich zu Tode erschrocken über Bootsanleger im Rhein bei Mannheim laufen, um den paramilitärischen SA-Angehörigen zu entkommen, die sich zu den Badenden gesellten, um Juden niederzuknüppeln. Diese Szene ging dem nächsten, noch umfassenderen Schritt beim Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft voraus: den Nürnberger Rassengesetzen von 1935, die sie zu Bürgern zweiter Klasse degradierten und sie der Rechte beraubten, die einem deutschen Staatsbürger zustanden.
Ihre ganze Jugend lang verfolgte Lotte die rapide Verelendung der jüdischen Lebenswelt. Sie erinnert sich deutlich: »In meiner Klasse gab es fünf Jüdinnen, und auch wenn wir kein ausgeprägtes politisches Bewusstsein hatten, so verstanden wir doch, dass die Situation für uns schlimmer war, wir sprachen nur unter uns darüber. Unsere Mütter hatten sich verändert, sie waren besorgt, wir mussten unmittelbar nach der Schule nach Hause kommen, durften mit niemandem sprechen.« Eines Tages erklärten die Eltern ihr, dass sie keine deutsche Schule mehr besuchen dürfe und in eine jüdische Anstalt umgeschult werden müsse. »Der Lehrer war sehr nett, er entschuldigte sich gegenüber unseren Eltern und schlug sogar vor, abends Nachhilfestunden zu geben, sollten wir sie benötigen.«
Trotz dieser Verfolgung hatten 1936 nur 1.425 der insgesamt 6.400 Juden aus Mannheim die Stadt verlassen, während sich auf nationaler Ebene von der Gemeinde mit mehr als 500.000 Juden etwa 150.000 ins Exil begeben hatten. Vermutlich waren es jene, die schon am meisten gelitten hatten, da sie politisch engagiert waren, ihren Beamtenposten verloren hatten oder ihr Geschäft bankrottgegangen war. Paradoxerweise sollten sie dem Schicksal später dafür danken, die ersten Opfer gewesen zu sein, was sie zur rechtzeitigen Abreise motiviert hatte.
Weil es den Löbmanns mehr schlecht als recht gelang, ihre Geschäfte fortzuführen, war zu emigrieren für sie lange keine Option, so wie wohl für die meisten Juden in Deutschland, und sei es auch nur, weil es bedeutet hätte, das eigene Vermögen den Nazis zu überlassen. Wie so häufig im Dritten Reich war der Umgang mit Juden von einem tiefen Widerspruch geprägt. Auf der einen Seite wollten die Nationalsozialisten ihnen das Leben möglichst unerträglich machen, um sie zur Auswanderung zu bewegen. Auf der anderen Seite aber stellten die Behörden ihrem Fortzug unüberwindbare Schwierigkeiten in den Weg. So stieg die Steuer auf Devisentransfers aus Deutschland heraus bis 1934 auf 20 Prozent und bis 1939 auf einen mehr als abschreckenden Satz von 96 Prozent. Hinzu kam die Reichsfluchtsteuer: Ab einer Summe von 50.000 Reichsmark mussten die Emigranten dem Regime 25 Prozent ihres Gesamtvermögens und Einkommens abtreten. Ganz zu schweigen von dem Verwaltungslabyrinth, das es zu durchlaufen galt, wollte man legal auswandern.
Im Grunde aber lag das wesentliche Motiv der Abneigung der Juden gegen eine Auswanderung darin, dass sie gar keine Lust hatten, ihre Heimat zu verlassen, um sich in einem Land wie Palästina niederzulassen, einer Halbwüste mit kargem Klima und einer Kultur, die ihnen unendlich fremd war. Denn sie liebten Deutschland zutiefst.
Wie konnten sich die Löbmanns und die vielen anderen nur weiterhin einem Land verbunden fühlen, das sie dergestalt misshandelte, und warum haben sie nicht erkannt, wie ernst die Lage bereits für sie war?
In Wirklichkeit war die Gefahr für eine Unternehmerfamilie wie die Löbmanns gar nicht so deutlich lesbar, da zunächst keine nationalen Gesetze gegen jüdische Unternehmen erlassen wurden, was die Illusion aufrechtzuerhalten half, dass es Juden trotz allem möglich war, wirtschaftlich im Dritten Reich zu existieren und zu überleben. Und dies nur umso mehr, als sich zur Abfederung der Auswirkungen der Boykottbewegung eine ökonomische Parallelwelt herausgebildet hatte, die ausschließlich aus jüdischen Unternehmern, Händlern und Kunden bestand.
Hinzu kam Selbstverblendung. Lotte Kramer, deren Vater »ununterbrochen wiederholte, dass er nicht fortgehen wollte«, erklärte mir, der Wille ihrer Familie dazubleiben, sei so stark gewesen, dass jedes kleine Zeichen von Solidarität innerhalb der deutschen Gesellschaft genügt habe, um sie zu beruhigen. »In der Schule hatte ich eine nicht jüdische Freundin. Als die Juden die Schule verlassen mussten, sagte deren Mutter zu meiner: ›Ich will, dass unsere Töchter Freundinnen bleiben.‹ Es war dann meine Mutter, die sie davon überzeugen musste, dass dies zu gefährlich war. Aber diese Reaktionen schenkten neues Vertrauen.«
Man teilte positive Erlebnisse miteinander, etwa jenes von einem Pärchen, das der Polizei dummes Zeug erzählt hatte, um seine bedrohten Nachbarn zu decken, oder das vom kleinen, anonymen Koffer voller Medikamente, den eine gute Seele vor der Haustür einer jüdischen Familie abgestellt hatte, deren Kinder krank waren. »Meine Eltern hatten sehr enge nicht jüdische Freunde, Greta und Bertold, die abends, als sich die Lage bereits verschlechtert hatte, heimlich zu uns kamen, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei, und uns dabei Sachen brachten, die zu besorgen für uns kaum mehr möglich war. Sie gingen ein ziemlich hohes Risiko ein.« Die Tragik dabei aber war, dass diese Herzensseelen mit ihrer gut gemeinten Hilfe, ohne es zu wissen, die Gemeinde noch ermutigten, weiterhin das Beste zu erhoffen, obwohl es zu dieser Zeit noch möglich gewesen wäre, der Falle zu entkommen, von der niemand ahnen konnte, wie tödlich sie sein sollte.
Ich habe über die Solidaritätsbekundungen nachgedacht, die den Löbmanns das Herz erwärmt haben mussten, und ich glaube, es war vor allem die Treue zumindest eines Teils ihrer Kundschaft. Ich habe eine mehrseitige Liste gefunden, die Opa mit der Firma übernommen hatte. Dieser lange Parademarsch an Namen erzählt von einem anderen Deutschland, von jenen Menschen nämlich, die ihre Loyalität nicht aufgekündigt hatten.
Lotte Kramer liefert mir noch eine andere Erklärung für deren Illusion: »Wir hatten das Gefühl einer gewissen Normalität, denn innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ging das Leben weiter. Vielleicht war die Ausgrenzung auf dem Land und in den Dörfern schneller spürbar gewesen, aber in großen Städten wie Mainz und Mannheim konnte man die Verbote leichthin vergessen, da alles intern gelebt wurde. Es gab die jüdische Schule, den jüdischen Sportklub, Tanzkurse, Feste, Konzerte und viele Freunde … Und es gab die Synagoge, sie spielte eine wichtige Rolle im Zusammenhalt der Gemeinschaft. Die Löbmanns, sie gingen regelmäßig zur Synagoge.«
Die kleinen, mir von Lotte gelieferten Hinweise waren entscheidende Teile des Puzzles, die mir gefehlt hatten, um zu begreifen, warum die Löbmanns und mit ihnen die große Mehrheit der Juden bis zur letzten Minute geglaubt hatten, in ihrem Land weiterhin eine erträgliche Existenz führen zu können und dass ihr Heimatland wieder zur Besinnung kommen und endlich aufhören würde, Juden zu verstoßen, die den Wissenschaften, der Philosophie, der Literatur, den Künsten und der Wirtschaft unzählige Talente geschenkt hatten, ohne die Deutschland niemals auf so vielen Gebieten solch strahlende Erfolge hätte feiern können. Am Ende hatten sie sich eher mit dieser erniedrigenden Behandlung abgefunden, als den Exodus zu wählen.
Darum musste die Familie Löbmann alle Hoffnung aufgegeben haben, als sie sich schließlich doch entschied fortzugehen. Von 1936 an begann das Regime, das bis dahin einer »Entjudung« der Wirtschaft keine Priorität gegeben hatte, das Ruder herumzureißen. Die Arbeitslosigkeit war stark zurückgegangen, die Wirtschaftskrise überwunden, von nun an galt die Arisierung jüdischer Güter als vorrangiges Ziel. 1938 erließ Berlin immer mehr Sonderregelungen für jüdische Unternehmen, mit denen deren Inhaber, die ihre Firmen bislang nicht verkauft hatten, gezwungen werden sollten, diese an »Arier« zu übertragen. Für die Firma Siegmund Löbmann & Co. lag der erste Schlag in der drastischen Senkung der den Juden bewilligten Einkaufsquoten von Werkstoffen, was sich auf den Handel mit Erdölprodukten fatal auswirkte. Dann wurden sie gezwungen, in einem Verzeichnis detaillierte Angaben über die Gesamtheit ihrer Besitztümer einzutragen: von Immobilien über Betriebsvermögen, Versicherungen, Wertpapiere, Bargeld, Schmuck, Kunst bis hin zu ihrem vollständigen Haushalt. Eine weitere Verordnung verlangte schließlich, dass alle jüdischen Firmen als solche erkennbar waren. Gleichzeitig verschärften die Nationalsozialisten die politische Verfolgung der jüdischen Gemeinde: Polizeirazzien, willkürliche Internierungen, Zerstörungen von Kultstätten. Diese alarmierende Entwicklung dürfte es gewesen sein, die Siegmund und Julius überzeugte, sich von ihrer Firma zu trennen, um mit dem Verkaufserlös ihre Auswanderung zu finanzieren. Aber sie waren nicht die Einzigen, Zehntausende Juden boten 1938 ihre Unternehmen gleichzeitig zur Übernahme feil, womit ein erdrückendes Überangebot entstand. Unter diesen Bedingungen war klar, wen der Markt begünstigte.
Die Aussicht, ein gutes Geschäft machen zu können, hat möglicherweise die Entscheidung von Karl Schwarz beeinflusst, die Ölfirma Nitag zu verlassen, bei der er immerhin die sichere Stelle eines Generalbevollmächtigten innehatte, ein ordentliches Gehalt verdiente und ausreichend Respekt genoss, um 1935 innerhalb der Firma zum Delegierten der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront befördert zu werden. Es war übrigens auch das Jahr, in dem er in die NSDAP eintrat, vielleicht weil die Parteimitgliedschaft eine Bedingung seiner Beförderung war. Unwahrscheinlich ist, dass er sich aus Begeisterung der Partei anschloss. Denn Opa war ein Hedonist, ein Lebemann, für den die sadomasochistischen Kraftmeiereien der Macht, mit denen sich die Nationalsozialisten hervortaten, wenig Anziehung besaßen. Deren blinder Gehorsam entsprach mitnichten seinem unabhängigen Geist, der seinen Freiraum beanspruchte. Er liebte es, allein in den Bergen, die Freiburg überragen, Ski zu fahren und an den Seen zu campen, wo er seiner Leidenschaft für die Freikörperkultur frönen konnte, einer Bewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland gegründet worden war. Bei Nitag dürften die Unterordnung unter seinen Chef, der die Regeln vorgab, die Routine des Angestellten und die Erwartung einer Beförderung als einzige jährliche Aufregung auf ihm gelastet haben. Er wird wohl von Unabhängigkeit geträumt und sich vorgestellt haben, dass er sich bei seiner Pfiffigkeit und seinem Kommunikationsgeschick auf eigene Beine stellen kann – und dies nur umso mehr, als er in seiner Jugend gelernt hatte, in einem Labor Petroleum und Paraffin herzustellen. Er hat das Zeugnis dieser Ausbildung aufbewahrt, auf dem präzisiert wird: »Wir waren während dieser Zeit mit der Führung, Fleiß und Betragen des Herrn Schwarz stets zufrieden.«
Vielleicht hätte mein Großvater es trotzdem nicht gewagt, allein in See zu stechen, wenn sein Kollege Max Schmidt ihm nicht eines Tages seine eigene Verachtung gegenüber diesem folgsamen Leben gestanden hätte. Ich stelle mir vor, wie die beiden ihren Abgang gleich einer Flucht aus der Gefangenschaft vorbereiteten, nach getaner Arbeit bei einem Glas Bier zum Feierabend. Und tatsächlich hatte das Vorhaben etwas von einem Komplott, da Karl und Max sich nicht nur vornahmen, zu zweit ein Konkurrenzunternehmen zu gründen, wenn auch ein sehr viel kleineres, sondern auch noch sieben ihrer Kollegen abzuwerben und deren Kundschaft gleich mit. Die Gelegenheiten, welche die zu Schleuderpreisen angebotenen jüdischen Firmen boten, dürften diese konspirative Atmosphäre nur noch verdichtet haben, denn mein Großvater war kein glühender Antisemit, er muss sich der Schande bewusst gewesen sein, die es bedeutete, aus der Not der Juden Profit zu schlagen.